Tonaufzeichnungen im Gerichtssaal: Mehr Auf­nahmen wagen

Gastbeitrag von Dr. Boris Burghardt und Dr. John Philipp Thurn

20.07.2020

Tonaufnahmen aus Gerichtssälen sind wichtige historische Quellen. Das hat auch der Gesetzgeber anerkannt. Bislang erweist sich die Justiz aber als schlechte Sachwalterin zeitgeschichtlicher Interessen – auch in einem aktuellen OLG-Prozess.

Am 79. Verhandlungstag des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses vernimmt der Vorsitzende Richter im Bürgerhaus Gallus den Überlebenden Josef Glück. Fast zwei Stunden lang berichtet der Zeuge am 20. August 1964, was er im Lager erlebt hat. Seine Stimme ist heiser, er sucht nach den richtigen Worten. Glück zählt auf, wer mit ihm im Juni 1944 aus Klausenburg deportiert worden ist: Seine Frau und seine zwei Kinder, seine Mutter, seine Schwester und ihre zwei Kinder, sein Bruder, seine Schwiegermutter, eine Schwägerin. Ob er "von allen diesen Menschen" als einziger überlebt hat? Fast beiläufig antwortet Glück: "Ja", und nach einer Pause noch einmal, leiser: "Ja". 

Erst später in der Vernehmung kann Glück seine Erregung nicht mehr verbergen. Als er erzählt, wie der 16-jährige Andreas Rapaport zu dem Lastwagen geschleppt wird, der ihn zur Gaskammer bringen soll. Der Junge ruft dem am Eingang seiner Baracke stehenden Glück noch zu: "Onkel, ich weiß, dass ich sterben muss. Sage meiner Mutter, dass ich bis zum letzten Moment an sie gedacht habe." Aber Glück kann diese letzte Nachricht des Sohnes nicht mehr ausrichten, "denn die Mutter ist auch gestorben." Es ist diese Erinnerung, die Glücks Stimme kippen und ihn in Tränen ausbrechen lässt. 

Gerichtlich wertlos – aber Weltdokumentenerbe 

Die Aussage von Josef Glück ist aus gerichtlicher Sicht wertlos. Wegen Widersprüchen zu den Angaben, die er 1961 gegenüber dem Ermittlungsrichter Heinz Düx gemacht hat, hält das Urteil den Zeugen für "nicht zuverlässig", die Aussage wird "insgesamt nicht verwertet". Aber wer seine Schilderungen gehört hat, kann dieser Bewertung allenfalls strafrechtlich folgen: Glücks Stimme und seine Erzählung bleiben in Erinnerung. Angesichts ihres zeithistorischen Werts ist es folgerichtig, dass die UNESCO 2017 alle Tonbandaufnahmen aus dem ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess zum Weltdokumentenerbe erklärt hat. 

Dass es die Aufnahmen noch gibt und sie erforscht werden können, ist alles andere als selbstverständlich. Gerade noch rechtzeitig zum Beginn der Beweisaufnahme hatte der Bundesgerichtshof im Februar 1964 Tonaufzeichnungen mit Zustimmung der jeweiligen Verfahrensbeteiligten erlaubt – als "Gedächtnisstütze" für die gerichtliche Beratung. Nach Abschluss des Verfahrens hätten die Tonbänder samt über 300 Zeugenaussagen aber gelöscht werden sollen. Doch Hermann Langbein, der ehemalige Generalsekretär des Internationalen Auschwitz Komitees, erwirkte 1965 beim Hessischen Justizministerium die dauerhafte Aufbewahrung der Tonbänder. 2013 machte das Fritz Bauer Institut Teile der Aufnahmen online verfügbar. 

Endlich eine Regelung – mit Mängeln 

Seit April 2018 besteht mit der Einführung von § 169 Abs. 2 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) eine Grundlage dafür, Tonaufnahmen auch zu wissenschaftlichen und historischen Zwecken anzufertigen. Die Gesetzesbegründung erkennt ausdrücklich an, dass in einigen Verfahren ein "hohes öffentliches Interesse" an einer solchen Dokumentation besteht. Beispielhaft nennt sie neben dem Auschwitz-Prozess das "NSU-Verfahren" in München. Die Regelung ist indes aus mehreren Gründen misslungen. 

Zum einen setzt der Wortlaut eine herausragende zeitgeschichtliche Bedeutung "für die Bundesrepublik Deutschland" voraus. Was heißt das aber bei Prozessen, deren Gegenstand nicht in erster Linie Deutschland betrifft, sondern einen anderen Staat oder die Staatengemeinschaft als Ganze? Immerhin werden deutsche Gerichte zunehmend in internationalen Mehrebenen-Systemen tätig, insbesondere in völkerstrafrechtlichen Verfahren. Gerade weil hierzulande ein solcher Prozess nach dem Weltrechtsprinzip geführt wird, kann die Frage der Dokumentation nicht allein mit Blick auf Deutschland beantwortet werden. 

Zum anderen spricht § 169 Abs. 2 S. 1 GVG davon, dass Gerichte Tonaufnahmen zulassen können. Besteht danach selbst in bedeutsamsten Verfahren ein freies Ermessen zur Aufzeichnung? Nach Sinn und Zweck der Norm ist das nicht der Fall: Wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, gebietet das öffentliche Interesse an einer umfassenderen Dokumentation die Aufzeichnung. Entgegenstehende Gründe, etwa der Schutz einzelner Prozessbeteiligter oder ein ordnungsgemäßer Verfahrensablauf, mögen ausnahmsweise dazu führen, Teile des Verfahrens nicht aufzunehmen. Für dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis spricht auch § 169 Abs. 2 S. 2 GVG. 

Justiz im Betriebsmodus – auch im Al-Khatib-Verfahren 

Die gesetzliche Regelung macht es der Justiz zu leicht, Audiodokumentationen zu vermeiden. Denn leider ist zu erwarten, dass Gerichte auch in spektakulären Prozessen möglichst im etablierten Modus verbleiben wollen. Tonaufzeichnungen im zeitgeschichtlichen Interesse stören den Betrieb tendenziell, werfen sie doch jedenfalls technische und finanzielle Fragen auf. 

Insofern überrascht es nicht, dass in den gut zwei Jahren seit Inkrafttreten offenbar noch kein Gericht § 169 Abs. 2 GVG angewendet hat. Beispielsweise wird nach Auskunft des Oberlandesgerichts (OLG) Frankfurt das Verfahren gegen Stephan E. und Markus H. wegen der Ermordung von Walter Lübcke (5-2 StE 1/20 - 5a - 3/20) nicht aufgezeichnet. Zumindest ein aktuelles Verfahren ist zweifellos von herausragendem zeitgeschichtlichem Interesse: Vor dem OLG Koblenz müssen sich Anwar R. und Eyad A. wegen ihrer mutmaßlichen Beteiligung an Folter-Verbrechen des syrischen Geheimdienstes im Al-Khatib-Gefängnis verantworten (1 StE 9/19). Es handelt sich um die erste justizielle Aufarbeitung völkerrechtlicher Verbrechen des Assad-Regimes überhaupt. Dieser weltweit beobachtete Prozess stellt einen Meilenstein der Strafrechtsgeschichte dar. 

Der zuständige Strafsenat hat die Aufzeichnung indes abgelehnt und dabei auf den Zeugenschutz sowie auf eine mögliche Beeinflussung des Aussageverhaltens verwiesen. Wenn derart pauschale Erwägungen ausreichten, dürfte § 169 Abs. 2 GVG auf Dauer unangewendet bleiben. Zu den Modalitäten von Aufzeichnung und Archivierung hätten sich differenziertere Lösungen finden lassen – statt das öffentliche Interesse an einer Dokumentation vollständig unter den Tisch fallen zu lassen. Das Gericht lässt historischen Weitblick vermissen und vernachlässigt, wie völkerstrafrechtliche Verfahren wirken sollen.  

Der Schuld- oder Freispruch der konkreten Angeklagten ist dabei weit weniger bedeutsam als die Symbolwirkung des Prozesses an sich. Es geht vor allem darum, immer wieder das Zeichen zu setzen, dass Völkerrechtsverbrechen stets und überall strafbares Unrecht sind, selbst wenn ihre Ahndung tatsächlich nur selten gelingt. Auch das Al-Khatib-Verfahren in Koblenz erfüllt seinen eigentlichen Zweck nicht dadurch, dass die Angeklagten abgeurteilt werden, sondern erst dann, wenn der Prozess weltweit als ein exemplarisches Zeichen gegen die Straflosigkeit verstanden werden kann. Und zwar nicht nur heute und morgen, sondern möglichst noch in kommenden Generationen.  

Gesucht: Sachwalterin der Zeitgeschichte 

Deutlich wird insgesamt: Die Justiz ist strukturell wenig geeignet, die Rolle als Sachwalterin "wissenschaftlicher und historischer Zwecke" auszuüben, die ihr § 169 Abs. 2 GVG zumutet. Sie neigt zum Normalbetrieb – und damit dazu, Tonaufnahmen im Zweifel zu vermeiden. Im historischen und wissenschaftlichen Interesse läge umgekehrt eine großzügige Anwendung, wonach lieber ein Verfahren zu viel aufgezeichnet wird. 

Diese gegenläufigen Interessen zeigten sich auch im Umgang mit den Tonbandaufnahmen, die von dem Stammheimer Strafverfahren gegen Mitglieder der ersten Generation der Roten Armee Fraktion (RAF) aus den Jahren 1975 bis 1977 existieren. Sie wurden ebenfalls nur als Gedächtnisstütze des Gerichts angefertigt und sollten nach der Transkription gelöscht werden. Bei 21 Tonbändern unterblieb dies, erst 2005 fand man sie im Archiv des OLG Stuttgart wieder. Die überragende zeitgeschichtliche Bedeutung des Stammheim-Verfahrens war zu diesem Zeitpunkt offenkundig. Dennoch drängten das OLG Stuttgart und der Generalbundesanwalt zunächst offenbar auf Vernichtung statt auf Archivierung; zum Glück hatten sie damit letztlich keinen Erfolg. 

Jenseits der Kritik an fragwürdigen Einzelentscheidungen ist daher eine Gesetzesreform wünschenswert. § 169 Abs. 2 GVG muss zum Ausdruck bringen, dass zeitgeschichtliche Gründe für eine Audiodokumentation rechtlich keine Nebensächlichkeit sind. Warum nicht einer neutralen, außer-justiziellen Stelle zumindest das Recht mit nachgelagertem Rechtsschutz einräumen, Verfahren zur Aufzeichnung vorzuschlagen? Diese Aufgabe könnte etwa dem jeweils zuständigen Landes- oder Bundesarchiv zukommen.  

Bis dahin ist leider zu befürchten, dass historisch bedeutsame Zeugenaussagen mangels Tonaufzeichnung nicht erhalten bleiben. Dabei wäre es von unschätzbarem Wert, wenn man noch in 50 Jahren hören könnte, wie etwa der Filmemacher Feras Fayyad und andere syrische Folter-Überlebende in Koblenz über ihre Erinnerungen an Al-Khatib sprechen. 

Dr. Boris Burghardt ist aktiv im wissenschaftlichen Beirat, Dr. John Philipp Thurn im Vorstand von "Forum Justizgeschichte e.V.". Der Verein hat im Syrien-Verfahren gegenüber dem OLG Koblenz bislang vergeblich die Anwendung von § 169 Abs. 2 GVG angeregt. 

Zitiervorschlag

Tonaufzeichnungen im Gerichtssaal: Mehr Aufnahmen wagen . In: Legal Tribune Online, 20.07.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42211/ (abgerufen am: 18.03.2024 )

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