Die juristische Presseschau vom 19. Februar 2020: Frei­spruch in Ist­anbul / Hass im Netz / Anhörung für Ass­ange

19.02.2020

Auf einen Freispruch im sogenannten Gezi-Prozess folgt in Istanbul eine erneute Inhaftierung. Das Kabinett kämpft gegen Hass im Netz und Julian Assange steht vor seiner Anhörung zum Auslieferungsverlangen der USA. 
 

Thema des Tages

Türkei – Osman Kavala: Ein Gericht in Istanbul hat neun vermeintliche Drahtzieher der sogenannten Gezi-Proteste, unter ihnen den Kunstmäzen Osman Kavala, vom Vorwurf des Umsturzversuchs freigesprochen. Das Verfahren gegen weitere sieben im Ausland befindlichen Angeklagten wurde abgetrennt. Ebenso wenig wie die Anklage habe das jetzige Urteil eine "juristische Bedeutung", zitiert lto.de (Marion Sendker) einen der am Verfahren beteiligten Verteidiger. Es stehe zu vermuten, dass das Urteil eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, nach der Kavala aus der Untersuchungshaft entlassen werden soll, gegenstandslos gemacht werden soll. Berichte bringen auch FAZ (Rainer Hermann/Christian Meier), taz (Jürgen Gottschlich) und SZ (Christiane Schlötzer, aktualisiert auf sueddeutsche.de). Nach letzterem Bericht hat der Generalstaatsanwalt in Istanbul eine neue Haftanordnung gegen Kavala wegen angeblicher Beteiligung am gescheiterten Putschversuch von 2016 erlassen.

Diese Maßnahme spricht nach der Einschätzung von Christiane Schlötzer (sueddeutsche.de) "für einen Machtkampf hinter den Kulissen, in Staatsapparat und Justiz". Von einer "Rückkehr des Rechtsstaats" könne unter diesen Umständen nicht gesprochen werden. Noch vor der letzten Neuigkeit kommentiert Jürgen Gottschlich (taz), dass die "angeblich so unabhängige Justiz in der Türkei" den Freispruch selbständig erarbeitet habe. Bei Zweifeln an der Schuld Kavalas hätte seine Entlassung aus der U-Haft nahegelegen. Der Freispruch wirke "ebenso erratisch" wie die vorherige Inhaftnahme Kavalas, kommentiert schließlich Maximilian Popp (spiegel.de). Auch wenn Gerichte "zuletzt immer häufiger auch autonome Entscheidungen gefällt" hätten, könne von einer Wiederherstellung des Rechtsstaats nicht gesprochen werden.

Rechtspolitik

Hasskriminalität: Am heutigen Mittwoch will die Bundesregierung ihr Maßnahmenpaket zur Bekämpfung von Hasskriminalität beschließen. Der Entwurf liegt lto.de (Markus Sehl/Annelie Kaufmann) vor, er sieht unter anderem Meldepflichten für Anbieter sozialer Netzwerke vor. Die besonders umstrittene Herausgabepflicht von Passwörtern sei dagegen auf die Verfolgung besonders schwerer Straftaten beschränkt worden, soll aber auch – nach richterlicher Genehmigung – zum Zweck der Gefahrenabwehr möglich sein. Einen Überblick zu den geplanten Änderungen bringt spiegel.de (Patrick Beuth).

Beleidigung: In einem Gastbeitrag für den FAZ-Einspruch plädieren der bayerische Justizminister Georg Eisenreich (CSU) und Thorsten Frei (CDU), stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag, für eine umfassende Modernisierung des Beleidigungsstrafrechts. Diese solle – wie in einem nun vorgelegten bayerischen Entwurf – die verfassungsrechtlich garantierte Meinungsfreiheit achten, aber besonders schwerwiegende Beleidigungen härter bestrafen und auch das sogenannte Cybermobbing unter Strafe stellen.

Arbeitszeit: Nach Bericht des Hbl (Frank Specht) besteht in der Regierungskoalition noch immer Uneinigkeit darüber, wie ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Arbeitszeiterfassung aus dem vergangenem Mai in nationales Recht umzusetzen wäre. In einem separaten Interview mit dem Hbl (Frank Specht) plädiert der auf Arbeitsrecht spezialisierte Rechtsanwalt Stephan Vielmeier für eine politische Lösung. Diese biete "große Spielräume", wohingegen bei einer gerichtlichen Entscheidung möglicherweise "eine ganz undifferenzierte und maximal illiberale Lösung" zu befürchten sei.

Justiz

EGMR zu "Push-backs" in Melilla: Die jüngste Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Zulässigkeit sogenannter Push-backs in der spanischen Exklave Melilla bezeichnet Rechtsprofessorin Anna Lübbe (verfassungsblog.de) als "Fehlurteil". Das Gericht habe nicht erklären können, wie es sich die effektive Durchsetzung des in Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention garantierten Rechts vorstelle, nicht einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden, wenn andererseits eventuelles vorheriges Fehlverhalten von Betroffenen bei der Beurteilung der Zulässigkeit sogenannter heißer Abschiebungen eine Rolle spielen soll.

BVerfG – Mietendeckel Berlin: Nach Bericht der FAZ (Julia Löhr) rüsten sich die Bundestagsfraktionen von Union und FDP für eine Normenkontrollklage gegen den Berliner Mietendeckel "noch deutlich vor der Sommerpause". Die Notwendigkeit einer gerichtlichen Klärung der für den Deckel erforderlichen Kompetenz hält Julia Löhr (FAZ) in einem separaten Kommentar für "zweifellos berechtigt". Eine andere Frage sei indes die politische Opportunität, "der Unmut über den teils rasanten Anstieg der Mieten" habe "längst bürgerliche Kreise erreicht".

BGH zu BILD-Berichterstattung: Noch anders als die Vorinstanz hat der Bundesgerichtshof in einem nun veröffentlichten Urteil von Mitte Dezember entschieden, dass die identifizierende Berichterstattung der Bild-Zeitung zu zwei Immobilien-Betrügern rechtmäßig war. Die Männer hätten durch die von ihnen verübten Ordnungswidrigkeiten wegen behördlich untersagten Vermietungen das öffentliche Informationsinteresse selbst erregt und müssten es nun dulden, wenn es befriedigt werde. lto.de berichtet.

BGH zu IS-Rückkehrerin Jennifer W.: Der Bundesgerichtshof hat einen Haftfortdauerbeschluss des Oberlandesgerichts München gegen die mutmaßliche IS-Terroristin Jennifer W. bestätigt, meldet zeit.de.

BAG zu Betriebsrenten: Nach einer von der FAZ gemeldeten Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts haben Arbeitgeber keine generelle Pflicht, ihre Arbeitnehmer über Krankenkassenbeiträge aufzuklären, die auch beim Bezug von Betriebsrenten fällig werden. Werden Auskünfte erteilt, müssen diese zutreffen, andernfalls hafte der Arbeitgeber für etwaige Schäden.

OLG Koblenz zu Abgas-Affäre: In einer vom Oberlandesgericht Koblenz bereits im November 2019 getroffenen und jetzt veröffentlichten Entscheidung zu Schadensersatzansprüchen einer VW-Kundin hatte sich der Konzern gegen eine Haftungsverpflichtung mit einer ungewöhnlichen Argumentation verteidigt. Stelle das Gericht eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung durch Verwendung einer Schummel-Software fest, drohe dem Autobauer eine "exorbitante Kumulation von Schadensersatzansprüchen", berichtet lto.de. Das OLG habe sich der Ansicht nicht anschließen können und die stattgebende Entscheidung der Vorinstanz bestätigt.

LG Berlin – Goldmünze: Vor dem für den morgigen Donnerstag geplanten Urteil im Strafverfahren zum Diebstahl einer Goldmünze aus dem Bode-Museum rekapituliert die taz (Uta Eisenhardt) das Verfahren am Landgericht Berlin in einer Reportage.

LG Darmstadt zu homöopathischem Präparat: Dass die bei einem homöopathischen Präparat übliche extreme Verdünnung einen Nachweis des Ausgangsstoffes unmöglich macht, bedeutet nach Ansicht des Landgerichts Darmstadt nicht, dass der Ausgangsstoff tatsächlich nicht in dem Präparat vorhanden ist. In jedem Fall sei eine Irreführung von Verbrauchern ausgeschlossen, weil der "angesprochene Verkehrskreis" ohnehin der Homöopathie gegenüber aufgeschlossen und ihm die Geringstdosierung durchaus bekannt sei, so das Gericht in einem Urteil von Ende Januar. lto.de berichtet.

VG Gießen – NPD-Ortsvorsteher: Der nach bundesweiter Empörung als Ortsvorsteher einer hessischen Gemeinde abgewählte NPD-Politiker Stefan Jagsch hat nach Meldung der FAZ gegen seine Abwahl eine Klage beim Verwaltungsgericht Gießen eingereicht.

Recht in der Welt

Schiedsgerichtshof – Yukos-Anleger: Der ständige Schiedsgerichtshof in Den Haag hat auch in der Berufungsinstanz einen 50 Milliarden Dollar schweren Entschädigungsanspruch von früheren Anlegern des zerschlagenen Yukos-Konzerns gegen den russischen Staat bestätigt. Nach dem Bericht der FAZ (Marcus Jung) habe das russische Justizministerium angekündigt, in der Auseinandersetzung auch die letzte Instanz, den Hohen Rat der Niederlande, anrufen zu wollen.

Slowakei – Mordfall Jan Kuciak: Über den Strafprozess gegen den mutmaßlichen Auftraggeber der Ermordung des slowakischen Journalisten Jan Kuciak in Bratislava schreibt die SZ (Viktoria Großmann) in einer Seite Drei-Reportage. Nach Auffassung der Autorin steht mit dem Haupt-Angeklagten auch das "korrupte System", das sich in der gesetzlosen Nachwendezeit etabliert habe, vor Gericht.

Großbritannien – Julian Assange: Am kommenden Montag beginnt an einem Londoner Gericht die Anhörung im Auslieferungsverfahren von Julian Assange. In einer öffentlichen Stellungnahme wandten sich die Vertreters des Whistleblowers gegen den in den USA gegen Assange erhobenen Vorwurf der Spionage und des Hackings, schreibt die SZ (Cathrin Kahlweit). Sie kritisierten zudem ihren eingeschränkten Zugang zu ihrem Mandanten.

Dänemark – Betrug in der Verwaltung: In Dänemark ist eine ehemalige Mitarbeiterin der Sozialverwaltung wegen Betruges zu einer sechseinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Die Frau hatte im Verlauf von 25 Jahren gut 15 Millionen Euro aus Behördenbeständen an sich selbst überwiesen, berichtet die FAZ.

Israel – Benjamin Netanjahu: Der Prozessbeginn im Korruptionsverfahren gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu ist auf den 17. März festgelegt worden, meldet zeit.de.

Sonstiges

Abgas-Affäre: Die FAZ (Marcus Jung) war Gast bei einem Treffen der Wirtschaftsstrafrechtlichen Vereinigung und berichtet von der dortigen Diskussion über strafrechtliche Konsequenzen der sogenannten Abgas-Affäre. Anwälte und Staatsanwälte hätten auf Probleme hingewiesen, Handlungen von Konzernverantwortlichen unter den Betrugstatbestand zu subsumieren. Zudem stehe womöglich "ein Dieselskandal 2.0 in den Startlöchern". Bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt/M. befasse man sich derzeit mit dem Einsatz mobiler Abgasmessgeräte bei Nutzfahrzeugen.

Recht für Flüchtlinge: Der SWR-RadioReportRecht (Kerstin Anabah/Manuel Leidinger) stellt in dieser Woche Rechtsschutzmöglichkeiten für Flüchtlinge und die diesbezüglichen Schwierigkeiten bei der Suche nach anwaltlicher Vertretung vor und beschreibt zudem auch die Arbeit einer in studentischer Initiative in Freiburg betriebenen sogenannten Refugee Law Clinic.

Schönheitsreparaturen: Die Welt (Ann-Kristin Wenzel) stellt die Rechtslage zu Schönheitsreparaturen in Mietwohnungen dar.

Das Letzte zum Schluss

Zu spät: Neues aus der Abteilung Gangster-Rap. Die Hamburger Koryphäe Gzuz kann sich bei seinen nächsten Aufnahmen mit einer neuerlichen Festnahme rühmen. Zustande kam diese nach Bericht von bild.de aber eher unspektakulär. Nachdem der Rapper einen Gerichtstermin in eigener Sache erst mit einigen Stunden Verspätung wahrnehmen konnte, revanchierte sich das sitzengelassene Gericht mit einem Haftbefehl.

 

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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/mpi

(Hinweis für Journalisten)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 19. Februar 2020: Freispruch in Istanbul / Hass im Netz / Anhörung für Assange . In: Legal Tribune Online, 19.02.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40359/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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