Die juristische Presseschau vom 17. November 2023: Siche­rungs­ver­wah­rung für Alaa M.? / Thym zu Folgen des Ruanda-Urteils / Ita­lien wegen Umgang mit Geflüch­teten ver­ur­teilt

17.11.2023

Dem syrischen Arzt Alaa M., dem Folter in Syrien vorgeworfen wird, droht Sicherungsverwahrung. Rechtsprofessor Daniel Thym erläutert das britische Urteil zu Ruanda-Asylverfahren. Der EGMR verurteilte Italien wegen Misshandlung Geflüchteter.

Thema des Tages

OLG Frankfurt/M. – Folter in Syrien: Gegen den syrischen Arzt Alaa M., dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Mord in Syrien vorgeworfen werden, könnte auch Sicherungsverwahrung angeordnet werden. Einen entsprechenden rechtlichen Hinweis hat jüngst der Vorsitzende Richter Christoph Koller gegeben, wie spiegel.de (Julia Jüttner) berichtet. Der Angeklagte soll jetzt psychiatrisch untersucht werden, ob er einen Hang zu entsprechenden Straftaten hat. Die bisherige Beweisaufnahme habe ergeben, dass Alaa M. mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in mindestens drei Fällen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt wird. Dies würde die formellen Voraussetzungen für eine Sicherungsverwahrung erfüllen. Damit signalisierte das Gericht dem Angeklagten, der die vorgeworfenen Taten bestreitet, dass er eher mit einer Verurteilung rechnen muss. Laut Anklage soll M. in den Jahren 2011 und 2012 in 18 Fällen Inhaftierte gefoltert und einen von ihnen getötet haben. Der Prozess ist bisher bis Ende August 2024 terminiert.

Rechtspolitik

Asyl/Verfahren in Drittstaaten: Rechtsprofessor Daniel Thym erläutert auf LTO das britische Urteil zur Auslagerung von Asylverfahren nach Ruanda und dessen Bedeutung für die Asylrechts-Debatte in der EU und Deutschland. Thym weist darauf hin, dass der britische Supreme Court eine Auslagerung nicht grundsätzlich untersagt habe, die britische Regierung hätte sich aber nicht auf abstrakte menschenrechtliche Zusagen Ruandas verlassen dürfen, weil es konkrete Hinweise u.a. des UNHCR gebe, dass Asylverfahren in Ruanda defizitär seien. Für Deutschland scheide das Ruanda-Modell bis auf weiteres aus, weil in der EU das so genannte "Verbindungskriterium" gelte, wonach Asylantragsteller:innen nur in solche sichere Drittstaaten zurückgeführt werden dürfen, zu denen sie eine "hinreichende Verbindung" besitzen. Diejenigen, die in Deutschland Asyl beantragen, haben aber in der Regel keinerlei Verbindung zu Ruanda. Zwar könne dieses Kriterium durch die EU abgeschafft werden, das lehne jedoch insbesondere die Bundesregierung ab. 

Schonfrist für Mieter:innen: Rechtsprofessor Markus Artz fordert auf beck-aktuell eine Änderung des BGB, um die Wirkungen einer Schonfristzahlung auf die ordentliche Kündigung zu erstrecken. Die Möglichkeit für Mieter:innen, Mietrückstände innerhalb einer Schonfrist auszugleichen und damit eine Kündigung aus der Welt zu schaffen, gelte dem Wortlaut des Gesetzes nach bisher nur für fristlose Kündigungen. Im Koalitionsvertrag sei aber vereinbart, diesen Webfehler des BGB zu beseitigen.

Justiz

BVerfG zu Schuldenbremse/Nachtragshaushalt 2021: Der Jurastudent David Schwarz analysiert im Verfassungsblog die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Mittwoch, in der eine Verbuchung von Krediten in den Jahren gefordert wird, in denen sie aufgenommen werden. Trotz vereinzelt unklar gebliebener Details werfe das Urteil weniger rechtliche als politische Fragen auf, so der Autor. Rechtlich sei dem Gericht keine andere Wahl geblieben, als den 2. Nachtragshaushalt für das Jahr 2021 zu kassieren. Man mag zur Schuldenbremse stehen, wie man will, sie sei geltendes Recht, dem auch das BVerfG verpflichtet sei.

Für Wolfgang Janisch (SZ) hat sich das Karlsruher Gericht selbst einen zu großen Handlungsspielraum eingeräumt und den der Politik zu sehr eingeengt. Er verweist auf die Kontrollbefugnisse, die sich das Gericht für den Fall einer Aussetzung der Schuldenbremse in einer "außergewöhnlichen Notlagensituation" ausbedungen hat und stellt dabei eine "seltsame Unwucht" fest. Dort, wo die Maßstäbe für die Zukunft formuliert werden, gebe sich das Gericht großzügig und räume dem Gesetzgeber einen "Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum" in der Frage ein, wie sich die Notlage am besten bekämpfen lasse. Im konkreten Fall habe sich das Gericht nun aber doch ins politische Entscheiden eingemischt.

BVerfG – Klimaschutzprogramm: Die SZ (Michael Bauchmüller) stellt Linus Steinmetz vor, der 2020 als 17-Jähriger den Klima-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts miterstritt und jetzt einer der Kläger der Verfassungsbeschwerde gegen das Klimaschutzprogramm der Bundesregierung ist.

BVerwG zu Suizidmedikament: Nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes, dass Sterbewillige gegenüber dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte keinen Anspruch auf die Erlaubnis zum Erwerb des Suizidmedikaments Natriumpentobarbital (Na-P) haben, fordert Theresa Merkens im Juwiss-Blog ein Tätigwerden des Gesetzgebers. Da nach wie vor Zweifel bestehen, ob die ausnahmslose Untersagung einer Erwerbserlaubnis für Na-P verfassungsgemäß ist, bestehe ein Regelungsauftrag an den Gesetzgeber für die Ermöglichung der Selbsttötung.

BAG zur Beweiskraft der AUB: Mit dem Arbeitsrechtsanwalt Ulrich Sittard hat sich spiegel.de (Florian Gontek) über ein Urteil des Bundesarbeitsgerichtes von Juni 2023 unterhalten, in dem klargestellt wird, dass einem ordnungsgemäß ausgestellten ärztlichen Attest weiterhin ein hoher Beweiswert zukommt. Erläutert wird, in welchem rechtlichen Rahmen Arbeitgeber dennoch die Glaubwürdigkeit anzweifeln können und welche Reaktionsmöglichkeit Arbeitnehmer:innen dann haben.

OLG Karlsruhe zu übler Nachrede gegen Politiker: Das Oberlandesgericht Karlsruhe hat die Verurteilung einer Frau wegen übler Nachrede gegen Personen des politischen Lebens (§ 188 StGB) bestätigt. Sie hatte behauptet, dass die Ehefrau des CDU-Bundestagsabgeordneten Gunther Krichbaum in den illegalen Kinderhandel verstrickt sei und der Abgeordnete sein Amt ausnutze, um dies zu vertuschen. Das Grundrecht der Angeklagten auf Meinungsfreiheit sei vom LG Karlsruhe rechtsfehlerfrei berücksichtigt worden. Die Frau war zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten ohne Bewährung verurteilt worden. LTO berichtet.

LG Bochum – rechtsextremistische Anschläge: Vor dem Landgericht Bochum hat der Prozess gegen einen 37-jährigen Rechtsextremisten begonnen, der im April 2021 auf die Synagoge in Bochum geschossen haben soll. Die Anklage wirft dem Mann vor, insgesamt mehrere versuchte Anschläge aus einer rechtsextremen Gesinnung heraus begangen zu haben. spiegel.de berichtet.

LG Augsburg zu Raser: Wegen eines tödlichen Raserunfalls auf einem Möbelhausparkplatz in Bayern hat das Landgericht Augsburg einen 54-Jährigen zu fünf Jahren Haft verurteilt, so die FAZ. Das Gericht warf dem Mann ein verbotenes Kraftfahrzeugrennen mit Todesfolge vor. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass er im August 2022 mit bis zu 145 Kilometern pro Stunde über den Parkplatz gerast war und einen Unfall verursacht hatte, bei dem eine 21 Jahre alte Beifahrerin ums Leben kam.

LG Freiburg zu Mord durch Pfleger: Das Landgericht Freiburg hat, wie spiegel.de meldet, einen 26-jährigen Pfleger zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, weil er, nach Auffassung des Gerichts, eine 89-jährige Frau aus Habgier getötet hat.

LG Magdeburg zu Sturz über Kabelbrücke: Das Landgericht Magdeburg hat die Schadenersatzklage eines E-Bike-Fahrers abgewiesen, der über eine so genannte Kabelbrücke gestürzt war. Er argumentierte, dass auf die Kabelbrücke hätte hingewiesen werden müssen. Das Gericht meinte dagegen, dass die Kabelbrücke ordnungsgemäß verlegt und auch für den Radfahrer erkennbar gewesen sei. LTO berichtet.

LG Leipzig – Gil Ofarim: FAZ (Stefan Locke), spiegel.de (Wiebke Ramm) und LTO (Linda Pfleger) berichten über den Fortgang des Prozesses gegen den Musiker Gil Ofarim. Auch am gestrigen Donnerstag ging es noch um das Gutachten des Digitalforensikers Dirk Labudde, der sowohl das aufgenommene Handyvideo als auch die Überwachungsaufnahmen des Hotels untersucht hatte. Möglicherweise hat Gil Ofarim die Kette mit Davidstern nach der Auseinandersetzung am Hotelschalter so hervorgeholt, dass sie erst später sichtbar wurde. Außerdem wurde Ofarims damalige Managerin und eine Mitarbeiterin der Produktionsfirma befragt.

GBA – Hamas-Überfall/Fotografen: Nun berichtet auch LTO (Franziska Kring/Markus Sehl) über die Strafanzeige beim Generalbundesanwalt gegen Fotojournalisten, denen Beihilfe zu den Massakern der Hamas vorgeworfen wird. Die Berichterstattung, die offenbar aus unmittelbarer Nähe erfolgte, habe die terroristischen Straftaten gefördert, so der Vorwurf. Dass für ein Fördern der Taten das Fotografieren vor Ort und das Bereitstellen der Fotos für Veröffentlichungen ausreicht, bezweifelt jedoch Rechtsprofessorin Stefanie Bock.

StA Gera/StA Hamburg - Demonstration in Gera: Die Junge Welt (Detlef Georgia Schulze) berichtet kritisch über das Vorgehen der Hamburger und der Geraer Staatsanwaltschaft nach einer gewalttätig verlaufenen antifaschistischen Demonstration am 1. Mai in Gera. In der vergangenen Woche hätten in mehreren Bundesländern Hausdurchsuchungen wegen des Verdachts auf Landfriedensbruch stattgefunden, wobei psychische Beihilfe als täterschaftliche Begehensform angenommen wurde. Zitiert wird die linke Rechtshilfeorganisation Rote Hilfe, wonach den meisten Betroffenen die "bloße Beteiligung an der Demonstration" vorgeworfen werde. 

Recht in der Welt

EGMR/Italien – Behandlung von Migrant:innen: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Italien wegen der erniedrigenden Behandlung mehrerer Geflüchteter zu einer Zahlung von 31.000 Euro verurteilt. Neun Sudanesen, die im Sommer 2016 per Boot nach Italien gelangt waren, hatten angegeben, dass sie sich nach ihrer Festnahme durch die Polizei für eine medizinische Untersuchung hätten nackt ausziehen und so etwa zehn Minuten bleiben müssen, bevor ihre Fingerabdrücke genommen wurden. Das Vorgehen dürfte bei den Betroffenen "erhebliche Not und Erniedrigungsgefühle" ausgelöst haben, so der Gerichtshof laut spiegel.de.

ICPA/Ukraine – Kriegsverbrechen: Im Interview mit der taz (Tobias Müller) berichtet der Präsident von Eurojust Ladislav Hamran über das im Juli gegründete International Centre for the Prosecution of the Crime of Aggression against Ukraine (ICPA) und den Stand der dort koordinierten länderübergreifender Ermittlungen zu Kriegsverbrechen in der Ukraine. Es ermutige ihn, dass eine internationale Gemeinschaft von Staatsanwält:innen länderübergreifend diese Kriegsverbrechen ermittele und dokumentiere. Diese Initiativen gingen in die richtige Richtung, um internationale Verantwortlichkeit zu gewährleisten.

Frankreich – Schwangerschaftsabbruch: Der Doktorand Baptiste Charvin ordnet im Verfassungsblog (in englischer Sprache) das neue französische Gesetz ein, mit dem die Freiheit zum Schwangerschaftsabbruch in der französischen Verfassung verankert werden soll.

IGH/Syrien – Staatsfolter: Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat in einem Eilverfahren angeordnet, dass Syrien sofort alle notwendigen Maßnahmen ergreifen muss, um systematische Staatsfolter, willkürliche Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen zu unterbinden. LTO (Franziska Kring) schreibt über das Verfahren, das Kanada und die Niederlande angestrengt hatten. Wann der IGH über die Klage in der Hauptsache entscheiden wird, ist noch offen.

Sonstiges

Glyphosat: Wie u.a. LTO berichtet, hat die Europäische Kommission die Zulassung des umstrittenen Unkrautvernichtungsmittels Glyphosat um weitere zehn Jahre verlängert. Die derzeitige Zulassung wäre Mitte Dezember ausgelaufen. Zuvor hatten sich die EU-Staaten in einem Ausschuss mit der Zulassung beschäftigt, es gab aber weder eine ausreichende Mehrheit für die weitere Zulassung noch dagegen. Daraufhin konnte die Kommission im Alleingang entscheiden. 

Islamisches Zentrum Hamburg: Zur Vorbereitung eines Vereinsverbots gegen das Islamische Zentrum Hamburg wurden bundesweit 54 Objekte in sieben Bundesländern durchsucht, berichtet LTO. Der Verfassungsschutz stuft das Zentrum als islamistisch ein.

 

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LTO/pf/chr

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 17. November 2023: Sicherungsverwahrung für Alaa M.? / Thym zu Folgen des Ruanda-Urteils / Italien wegen Umgang mit Geflüchteten verurteilt . In: Legal Tribune Online, 17.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53196/ (abgerufen am: 02.05.2024 )

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