Die juristische Presseschau vom 28. bis 30. Mai 2022: BGH ver­han­delt über "Juden­sau"-Relief / DRB zu Mas­sen­ver­fahren / BGH zu Pflicht­ver­tei­di­gung

30.05.2022

Heute verhandelt der BGH über ein antisemitisches Wittenberger Kirchenrelief. Der Richterbund schlägt ZPO-Änderungen zur Bewältigung von Massenverfahren vor. Der BGH gestaltet die Pflichtverteidigung im Vorverfahren restriktiv.

Thema des Tages

BGH – "Judensau"-Relief: Die an diesem Montag anstehende Verhandlung des Bundesgerichtshofs über ein Relief an der Wittenberger Stadtkirche kommentiert Jost Müller-Neuhof (tagesspiegel.de). Gegen die abgebildete "Judensau", ein im Mittelalter oft gefertigtes Bildmotiv, das Juden mit Schweinen zeigt, hatte ein Mann geklagt, der sich in seinem jüdischen Gauben beleidigt sieht. Müller-Neuhof zeigt zwar Verständnis für den Kläger, meint aber, dass ein Erfolg der Klage ein Verlust wäre. Es sei wahrscheinlich gut, wenn es keine Bilderstürmerei mit Rechtsmitteln gebe: Die "Judensäue" blieben dann mit den Kirchen so fest verbunden, wie diese es mit dem Antisemitismus seien und die Gemeinden müssten dies so lange erklären, wie ihre Sakralbauten stünden.

Rechtspolitik

Massenverfahren: Die AG Massenverfahren des Deutschen Richterbund hat ein Whitepaper mit Vorschlägen vorgelegt, um der steigenden Zahl von zivilrechtlichen Massenverfahren Herr zu werden. So solle ein beschleunigtes Online-Verfahren für Massenverfahren mit einem Streitwert bis 5.000 Euro eingeführt und die Möglichkeiten künstlicher Intelligenz genutzt werden, um den Streitstoff zu strukturieren und im Hinblick auf den für die Entscheidung des jeweiligen Rechtsstreits notwendigen und relevanten Inhalt zu filtern. Benedikt Windau (ZPO-Blog) stellt die Vorschläge vor, ist aber skeptisch. Richterschaft und Rechtspolitik hätten mit ihrer bisherigen Ablehnung von kollektivem Rechtsschutz aus Angst vor einer Klageindustrie das Problem selbst verursacht, weil nun eben Tausende von "fiktiven Individualprozessen" mit am Fließband gefertigten Individualklagen geführt werden müssen. Statt das Gericht auf Kosten der Parteien zu stärken, solle der Gesetzgeber lieber die Möglichkeiten des kollektiven Rechtsschutzes ausbauen und es Betroffenen ermöglichen, Sammelprozesse auch als solche zu führen.

Cannabis: Assistenzprofessor Robin Hofmann erklärt nun auch im Interview mit spiegel.de (Sophie Garbe), dass Deutschland mit der geplanten Freigabe von Cannabis Völker- und EU-Recht brechen würde.

Die Mo-taz (Christian Rath) diskutiert den Hinweis von Rechtsprofessor Kai Ambos, dass die UN-Suchtstoff-Abkommen die Pflicht zur Cannabis-Kriminalisierung unter einen Verfassungsvorbehalt stellen. Das bringe der Ampel-Koalition aber wenig, weil das Bundesverfassungsgericht 1994 die Kriminalisierung von Cannabis abgesegnet hat. Derzeit liegen beim Bundesverfassungsgericht zwar sieben Richtervorlagen, die die Kriminalisierung von Cannabis für verfassungswidrig halten. Eine schnelle Entscheidung wäre aber wohl nur bei einer Ablehnung der Vorlagen möglich. Wichtiger sei eine Ratifikations-Erklärung der Bundesregierung von 1993, wonach man die Rechtsordnung im Wandel sehe.

Jumiko - Pakt für den Rechtsstaat: Nun berichtet auch LTO über den bayerischen Beschlussvorschlag zur Verstetigung des Paktes für den Rechtsstaat, der auf der Justizministerkonferenz in dieser Woche diskutiert werden soll. Der Bund soll aufgefordert werden, Verhandlungen mit den Ländern über die Weiterfinanzierung der bereits geschaffenen Stellen und die Digitalisierung der Justiz aufzunehmen.

IMK - Missbrauchsdarstellungen: Auf der Innenministerkonferenz in dieser Woche soll ein "bundesweit abgestimmter Melde- und Löschprozess" für Aufnahmen sexuellen Kindesmissbrauchs (Kinderpornografie) auf den Weg gebracht werden, berichtet der Spiegel (Jörg Diehl). Ziel ist, solche Aufnahmen effektiver aus dem Internet zu entfernen. Derzeit sind sie oft jahrelang zu finden, weil die Polizei sich für die Löschung nicht zuständig fühle.

Justiz

BGH zu Pflichtverteidigung im Vorverfahren: Am Mittwoch letzter Woche hat der Bundesgerichtshof eine Entscheidung zur Bestellung eines Pflichtverteidigers im strafrechtlichen Vorverfahren veröffentlicht und dabei erstmals eine Neuregelung von 2019 interpretiert. Der BGH billigte dabei, dass einem später u.a. wegen Beihilfe zum Mord und Kriegsverbrechen zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilten Syrer vor zwei polizeilichen Vernehmungen kein Pflichtverteidiger beigeordnet worden war. Auch ein Fall der notwendigen Verteidigung gebiete für sich genommen keine Pflichtverteidigerbestellung im Vorverfahren. Für die Frage, ob die sofortige Bestellung eines Verteidigers erforderlich ist, sei maßgeblich auf die individuelle Schutzbedürftigkeit des Beschuldigten abzustellen, die hier nicht vorgelegen habe, so das Gericht. Bei mangelnden deutschen Sprachkenntnissen genüge ein Dolmetscher. LTO (Hasso Suliak) berichtet auch über die Kritik von Anwält:innen an der Entscheidung, die den Gesetzgeber zu einer besseren Umsetzung der zugrundeliegenden EU-Richtlinie auffordern.

BVerwG zu Online-Dating/Bundeswehr: Über die Reaktionen zur Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes zum Online-Dating-Profil einer Bundeswehr-Kommandeurin berichtet die Sa-FAZ (Stephan Klenner). Während beispielsweise die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann das Urteil als aus der Zeit gefallen kritisierte, zeigt der Abgeordnete Henning Otte (CDU) Verständnis für die Entscheidung.

Im Interview mit spiegel.de (Florian Gontek) meint auch der Rechtsanwalt Michael Giesen, dass das Bundesverwaltungsgericht zu Recht die Art und Weise kritisiert habe, wie sich die Bataillonskommandeurin auf der Datingplattform Tinder präsentiert habe.

Für Reinhard Müller (Sa-FAZ) kommt es hier auf die Wirkung nach außen an. Wer das partout nicht verstehe, sollte die Uniform ganz ausziehen.

OLG Frankfurt/M. – Folter in Syrien: Die FAS (Eva Schläfer) wirft einen Blick auf die Schnelligkeit, mit der der syrische Arzt Alaa M., der sich derzeit vor dem Oberlandesgericht Frankfurt u.a. wegen Mordes und Folter verantworten muss, seine ärztliche Tätigkeit in Deutschland aufnehmen konnte. Nur zwei Monate habe es gedauert, bis er seine Arbeitserlaubnis erhalten habe. Es dränge sich der Eindruck auf, dass der Arzt, der die deutsche Sprache weiterhin nur leidlich spreche, entweder ein großes Organisationstalent sein müsse oder sich vorhandener, mutmaßlich syrischer Netzwerke bedient habe.

OLG Hamm – Klimaschutz/peruanischer Bauer: Das Oberlandesgericht Hamm hat sich zu der von dem peruanischen Bergbauer Saúl Luciano Lliuya gegen den Energiekonzern RWE erhobenen Klage ein Bild vor Ort gemacht, berichten Sa-FAZ (Katja Gelinsky) und LTO. In der vergangenen Woche seien Vertreter des Gerichts, Sachverständige und weitere Prozessbeteiligte dazu in Peru gewesen. Der Bergbauer wirft RWE vor, durch die produzierten CO2-Emissionen mitverantwortlich für den Klimawandel zu sein, und verlangt von RWE, 0,47 Prozent der Kosten für Schutzmaßnahmen für sein Haus und sein Dorf zu übernehmen.

KG Berlin – Spionage: zeit.de (Markus Sehl) erzählt ausführlich über einen Spionageprozess, der vor dem Kammergericht stattgefunden hat. Ein früherer DDR-Bürger hatte der russischen Botschaft Gebäudepläne des Bundestages zugesandt, um sich – so die Vermutung – als Agent anzudienen. Das Gericht verurteilte den Mann im Oktober 2021 zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe.

LG Frankfurt/M. – Drogenhandel/Anom-Chats: Wie spiegel.de schreibt, hat die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt/M. Anklage gegen elf Angeschuldigte erhoben, die zwischen Dezember 2020 und Juni 2021 unter anderem Kokain, Amphetamin und Cannabis von Spanien und aus den Niederlanden nach Deutschland eingeführt haben sollen. Die Ermittlungsergebnisse beruhten unter anderem auf Erkenntnissen, die aus der Auswertung des Messengerdienstes Anom stammten, einer vom FBI programmierten Software.

LG Schwerin zu Klimastiftung: Wie die Mo-Welt (Dirk Banse/ Alexej Hock u.a.) berichtet, hat das Landgericht Schwerin gegen die landeseigene Stiftung Klima- und Umweltschutz MV ein Zwangsgeld in Höhe von 5.000 Euro verhängt, mit dem ein Versäumnisurteil von Ende April vollstreckt werden soll. Die Stiftung war seinerzeit verpflichtet worden, umfangreiche Fragen eines Welt-Reporters zu ihrem "wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb" zu beantworten.

VG Berlin zu Corona-Tests an Schulen: Das Berliner Verwaltungsgericht hat mehrere Eilanträge gegen die Testpflicht an Berliner Schulen zurückgewiesen. Der Testpflicht stünden keine durchgreifenden Bedenken entgegen, so das Gericht. Sie könne als notwendige Schutzmaßnahme angeordnet werden - auch unabhängig von einer durch den Bundestag festgestellten epidemischen Lage von nationaler Tragweite. spiegel.de und LTO berichten.

Völkerstrafrecht: Ex-Bundesrichter Thomas Fischer zeigt sich in seiner Kolumne auf spiegel.de irritiert über die unterschiedliche Intensität, mit der Straftaten nach dem Völkerstrafrecht verfolgt werden. Er nennt als Beispiele die Kriegsverbrechen in der Ukraine, zu denen der Generalbundesanwalt gerade Beweise sammelt, das chinesische Vorgehen gegen die Uiguren, das nicht erst durch die jüngsten Veröffentlichungen bekannt geworden ist, und die gefundenen Leichen von fast 1000 Kindern der amerikanischen Ureinwohner in Kanada, das nach wie vor als "verlässlicher Partner" Deutschlands gilt. Als Schlussfolgerung meint Fischer, dass wer sage, mit dem einen Völkermörder solle man paktieren und gegen den anderen Krieg führen, jedenfalls einen Grund dafür nennen müsse, der außerhalb des Rechts liege.

Recht in der Welt

Polen – Justizreform/Disziplinarkammer: Polen will, wie nun auch Sa-FAZ, (Gerhard Gnauck/Thomas Gutschker), Sa-SZ (Björn Finke/Viktoria Großmann), Sa-taz (Gabriele Lesser), Hbl (Ivo Mijnssen) und LTO berichten, die umstrittene Disziplinarkammer am Obersten Gericht per Gesetz abschaffen. Eine der beiden Parlamentskammern hat bereits entsprechend votiert. Damit habe sich Polen in Teilen den Forderungen aus Brüssel gebeugt. Die Regierung in Warschau hoffe nun, so den wichtigsten Streitpunkt im Konflikt mit der EU um die Justizreform aus dem Weg geräumt zu haben und Zugang zu jenen 36 Milliarden Euro an Zuschüssen und Krediten aus dem Corona-Aufbaufonds zu erhalten, die Brüssel wegen des Streits bisher blockiert.

Polen sei mit der Abschaffung der Disziplinarkammer noch lange nicht zu einem lupenreinen Rechtsstaat geworden, heißt es in einer Analyse von spiegel.de (Jan Puhl). Der Einfluss der Politik auf die Justiz sei immer noch ungebührlich hoch und das Prinzip der Gewaltenteilung in Gefahr. 

Bevor nun tatsächlich Geld überwiesen werde, sollte die Kommission den Fortgang der Gesetzgebung in Warschau genau verfolgen, rät Nikolas Busse (Sa-FAZ). Das Regierungslager habe seine problematische Haltung zur Justiz sicherlich nicht aufgegeben und wenn das geplante Nachfolgegremium nur eine Wiedergeburt der Disziplinarkammer unter anderem Namen werden sollte, wäre nichts gewonnen. Für Gerhard Gnauck (FAS) hat die Auflösung der Kammer am großen Bild der umstrittenen Justizreform – zu Anfang wurden etwa auf höchst umstrittene Weise Verfassungsrichter ernannt – nicht viel geändert. Auch Philipp Fritz (Mo-Welt) sieht das geplante Gesetz skeptisch und meint, die Kammer sei nur ein Teil der politischen Agenda der Regierungspartei PiS gewesen. Abgesehen davon, dass sie unter neuem Namen weiterarbeiten könnte, existiere außerdem ein komplettes System der Richterdisziplinierung. Auch daran, dass das polnische Verfassungsgericht Teile der EU-Verträge für nichtig erklärt habe, ändere das neue Gesetz nichts.

Spanien – Sexualstrafrecht: Die spanische Regierung will das Sexualstrafrecht reformieren. Laut Sa-FAZ (Hans-Christian Rößler), Sa-taz (Reiner Wandler) und LTO soll eine Sexualstraftat bereits vorliegen, wenn die andere  Person nicht ausdrücklich zustimmt. ("Nur Ja heißt Ja"). Mit ihrem Vorstoß reagiere die linke Regierung auf mehrere Aufsehen erregende Fälle von Gruppenvergewaltigungen, bei denen die Täter in den vergangenen Jahren mit vergleichsweise milden Strafen davongekommen seien.

Italien – Entschädigung für Militärinternierte: Fast achtzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges können frühere italienische Militärinternierte auf Entschädigungen aus einem Fonds hoffen, den das Kabinett in Rom Ende April beschlossen hat. In der Sa-FAZ (Thomas Jansen) wird der schwierige Weg bis dorthin und der  Zusammenhang mit einer Klage Deutschlands gegen Italien vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) nachgezeichnet.

EU/Großbritannien - Nordirland-Protokoll: Über die andauernden Auseinandersetzungen um das Nordirland-Protokoll schreibt Rechtsprofessorin Dagmar Schiek im Verfassungsblog (in englischer Sprache).

USA – Johnny Depp und Amber Heard/Jury: Am Beispiel des kurz vor seinem Abschluss stehenden Verfahrens zwischen den Schauspielern Johnny Depp und Amber Heard erläutert Rechtsprofessor Kirk W. Junker auf LTO die Rolle der in diesem Fall siebenköpfigen Jury. Die Geschworenen werden nur über die Fakten des Falles entscheiden, im aktuellen Fall beispielsweise, ob Depp Heard mit einer Flasche sexuell angegriffen habe. Die Rechtsfragen werden hingegen von der Richterin entschieden.

Sonstiges

Ersatzfreiheitsstrafe: Im Berlin-Teil thematisiert die Mo-taz (Manuela Heim) das Auslaufen der Regelung zur coronabedingten Aussetzung der Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen. Vorgestellt werden auch die amerikanische Juristin Mitali Nagrecha und ihr "justice collective" sowie die Initiative "Freiheitsfonds", die sich gegen die Ersatzfreiheitsstrafe bei Delikten wie Fahren ohne Fahrerschein wenden.

Versammlungsfreiheit: Ob die Berliner Behörden mit ihren jüngsten Entscheidungen das Versammlungsrecht zu stark einschränkten, thematisiert die Sa-SZ (Jan Heidtman/Wolfgang Janisch). Im Zusammenhang mit dem Verbot einer propalästinensischen Versammlung wird der Abgeordnete Benedikt Lux (Grüne) zitiert, der das Vorgehen der Behörden für gerechtfertigt hält. Bei früheren Veranstaltungen sei es " zu Straftaten und extremem Hass gegen Israel und Jüdinnen und Juden" gekommen und "Der Rechtsstaat muss sich auch nicht alles gefallen lassen".

Corona-Maskenpflicht an Universitäten: Einen Überblick über die noch bestehenden Corona-Schutzmaßnahmen an Universitäten gibt LTO (Felix Flaig). So halten viele Universitäten an der Maskenpflicht für das laufende Semester fest, allerdings mit sehr unterschiedlichen Regelungen. In der Regel stützen sie sich dabei auf das Hausrecht.

 

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LTO/pf

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 28. bis 30. Mai 2022: BGH verhandelt über "Judensau"-Relief / DRB zu Massenverfahren / BGH zu Pflichtverteidigung . In: Legal Tribune Online, 30.05.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48586/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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