BGH rügt LG München II: Eine Beru­fung ist keine Revi­sion

von Dr. Max Kolter

20.09.2023

Will der Eigentümer eines Grundstücks künftig selbst dort wohnen, kann er den Mietern kündigen. Bei der Frage, ob umstrittener Eigenbedarf wirklich vorliegt, darf es sich die Berufungsinstanz aber nicht zu leicht machen, so der BGH.

Kandidaten zum zweiten Staatsexamen sollten die unterschiedlichen Funktionen von Berufung und Revision kennen: Das Berufungsverfahren bildet eine zweite Tatsacheninstanz, im Fall einer zulässigen Berufung ergeht eine völlig neue Entscheidung, in der der Sachverhalt festgestellt und rechtlich gewürdigt wird (§ 538 Abs. 1 Zivilprozessordnung, ZPO). Das Revisionsgericht dagegen überprüft das erst- oder zweitinstanzliche Urteil nur auf Rechtsfehler (§ 545 Abs. 1 ZPO).

Man sollte meinen, dass diese Unterscheidung auch Richtern bekannt ist. Doch dem Landgericht (LG) München II klopfte nun der Bundesgerichtshof (BGH) unsanft auf die Finger (Beschl. v. 08.08.2023, Az. VIII ZR 20/23).

Die Karlsruher Richter beanstandeten, dass sich das LG nicht mit den Argumenten der Berufungsführer auseinandergesetzt habe, die sich gegen die Beweiswürdigung des Amtsgerichts (AG) Wolfratshausen gewendet hatten. Der BGH erkannte eine Verletzung des rechtlichen Gehörs und mahnte an, das LG habe sich hier selbst die Fesseln eines Revisionsgerichts angelegt. Er hob das Berufungsurteil deswegen auf und verwies die Sache an eine andere Zivilkammer des LG zurück.

Mietrecht als Ausgangspunkt: Eigenbedarf oder Verkaufsabsicht?

Den materiell-rechtlichen Ausgangspunkt des Falls bildet das Mietrecht: Hat der Eigentümer eines vermieteten Hausgründstücks mit 410 Quadratmetern Wohnfläche den Mietern zulässig gekündigt?

Er hatte das mit Haus und Nebenhaus bebaute Grundstück zunächst den Mietern sowie Dritten zum Kauf angeboten und die Mieter darum gebeten, Kaufinteressenten und Makler zum Zweck der Besichtigung den Zutritt zum Grundstück zu gewähren. Die Mieter hatten der Kündigung widersprochen und die Besichtigung vereitelt. Anschließend tauschte der Eigentümer den Kündigungsgrund aus: Er wolle künftig selbst mit seiner Familie auf dem Hausgrundstück wohnen.

Während § 573 Abs. 2 Nr. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) einen solchen Eigenbedarf als berechtigtes Interesse an einer Kündigung ansieht, ist die Beendigung eines Wohnraum-Mietvertrages zum Zweck des Verkaufs regelmäßig kein zulässiger Kündigungsgrund. Nur dann, "wenn der Vermieter durch die Fortsetzung des Mietverhältnisses an einer angemessenen wirtschaftlichen Verwertung des Grundstücks gehindert und dadurch erhebliche Nachteile erleiden würde", erkennt § 573 Abs. 2 Nr. 3 BGB ein berechtigtes Kündigungsinteresse an.

Dem AG Wolfratshausen stellte sich die entscheidende Frage: Lag hier wirklich Eigenbedarf vor oder hatte der Vermieter das Argument nur vorgeschoben, um die Mieter aus dem Haus zu kriegen und das Grundstück dann anschließend, wie ursprünglich geplant, an einen Dritten zu veräußern? Dazu wurden u.a. die beiden Söhne des Vermieters vernommen.

BGH: Prüfungsmaßstab "grundlegend verkannt"

Im Ergebnis glaubte das AG der Familie, dass sie sich wirklich umentschieden habe und selbst in dem Haus leben wolle, und gab der Räumungsklage statt. Die aktuellen Bewohner des Hauses wollten das nicht akzeptieren und legten Berufung zum LG München II ein. Sie meinen, die zur Verfügung stehenden Beweismittel begründeten erhebliche Zweifel am Vorliegen eines "echten" Eigenbedarfs.

Beim LG München II hatten sie damit keinen Erfolg. Die zwölfte Zivilkammer führte keine eigene Beweisaufnahme durch. Sie setzte sich mit den gegen die Glaubhaftigkeit der Eigenbedarfskündigung vorgetragenen Bedenken inhaltlich gar nicht erst auseinander. Vielmehr sahen sich die Richter an die Tatsachenfeststellungen des AG gebunden. Eben damit hätten sie sich zu Unrecht wie ein Revisionsgericht verhalten, entschied nun der achte Zivilsenat des BGH.

Aus dem Nichts kommt die nun vom BGH gerügte Zurückhaltung des LG München II nicht. Schließlich muss auch die Berufung – wie die Revision – auf einen Berufungsgrund gestützt werden. Liegt dieser nicht in einer Rechtsverletzung (§ 513 Abs. 1 i.V.m. § 546 ZPO), kommt zwar auch eine unrichtige Beweiswürdigung als Grund in Betracht. Jedoch ist das Berufungsgericht gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO an "die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen" gebunden.

Das gilt aber nur, "soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten". Genau diesen Prüfungsmaßstab hat das LG München II laut BGH "grundlegend verkannt". Das nennt man in Bayern wohl "a Watschn".

Berufungsgericht muss Beweise im Zweifel selbst würdigen

Der BGH betonte dabei, dass die Berufungsinstanz eine "zweite – wenn auch eingeschränkte – Tatsacheninstanz [sei], deren Aufgabe in der Gewinnung einer 'fehlerfreien und überzeugenden' und damit 'richtigen' Entscheidung des Einzelfalles besteht." Auch verfahrensfehlerfrei getroffene Tatsachenfeststellungen seien für das Berufungsgericht dann nicht bindend, "wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Feststellungen unvollständig oder unrichtig sind". Entsprechende Zweifel könnten sich auch daraus ergeben, "dass das Berufungsgericht das Ergebnis einer erstinstanzlichen Beweisaufnahme anders würdigt als das Gericht der Vorinstanz".

Indem das LG München hier nicht nur die erstinstanzliche Beweisaufnahme, sondern auch die Beweiswürdigung des AG Wolfratshausen übernommen hatte, habe es sich wie ein Revisionsgericht auf die Prüfung von Rechtsfehlern beschränkt, beanstandete der BGH. Da es sich mit den Einwänden der Mieter gar nicht erst auseinandergesetzt habe, liege eine Verletzung des Gebots rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz) vor. Das LG hätte die Argumente der Mieter selbst würdigen müssen.

Laut BGH ist nicht ausgeschlossen, dass die Beweiswürdigung des AG hier zu einem falschen Ergebnis gelangte. Dabei wies der BGH zum einen auf Widersprüchlichkeiten zwischen den Aussagen der beiden Söhne zur künftigen Aufteilung der Zimmer im Haus hin. Zum anderen stünden die Schilderungen eines Sohnes zum Zeitpunkt des Entschlusses, das Haus nicht mehr verkaufen, sondern selbst nutzen zu wollen, in Widerspruch zu Angaben des Vermieters in einem früheren Gerichtsverfahren.

Der BGH würdigte die Beweismittel im Rahmen seiner Entscheidung über eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht selbst, sondern verwies den Rechtsstreit gemäß § 544 Abs. 9 ZPO an das LG zurück. Er machte dabei von der Möglichkeit Gebrauch, die Sache einer anderen Kammer zu übertragen.

Zitiervorschlag

BGH rügt LG München II: Eine Berufung ist keine Revision . In: Legal Tribune Online, 20.09.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52748/ (abgerufen am: 27.04.2024 )

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