Eine Frage an Thomas Fischer: Sollte Schwarz­fahren weiter bestraft werden?

Gastbeitrag von Prof. Dr. Thomas Fischer

23.05.2022

Schwarzfahren in Zukunft nur noch als Ordnungswidrigkeit verfolgen? Das Bundesjustizministerium hat eine Überprüfung des § 265a StGB angekündigt. Thomas Fischer warnt vor einem faulen Kompromiss.

Fahren ohne Fahrschein wird in Deutschland mit Geldstrafe oder sogar mit Gefängnis bestraft. Denn die Rechtsprechung sieht darin ein "Erschleichen der Beförderung durch ein Verkehrsmittel in der Absicht, das Entgelt nicht zu errichten" (§ 265a Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB)).  Ob das so richtig ist, war immer wieder streitig, seit die Vorschrift aus dem Jahr 1935 nach 1949 beibehalten wurde. Seit ein paar Jahren ist es populär, in dieser Frage die "kritische" Meinung zu vertreten, es solle nicht weiter bestraft werden. Wenn man die Vertreter dieser Ansicht nach den Gründen dafür fragt, äußern sie Zweifel an der "Erforderlichkeit", bringen das "Ultima-Ratio-Prinzip" ins Spiel oder berichten, dass die Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen wegen Verurteilungen nach § 265a StGB sozial ungerecht und teuer sei. Man solle, so sagen viele, das Schwarzfahren "nur" als Ordnungswidrigkeit verfolgen. Ich möchte dem entgegenhalten, dass diese Kritik sich in Sozialromantik erschöpft.

Es gibt keinen sachlichen Grund, das "Erschleichen" der Beförderung – läge es beim Schwarzfahren tatsächlich vor – für "besser" zu halten als das Erschleichen des Zugangs zu Opernaufführungen, Telefonnetzen oder Bundesligaspielen. Wir reden über Strafrecht, nicht über klientelorientierte Wahlkampfrhetorik.

Ein Tatbestand ist ein Tatbestand. Was das ist, steht in § 1 des StGB und Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz: Ein Gesetz, aus dem sich die Merkmale einer Straftat ergeben. Es gibt objektive und subjektive: äußere und innere. Für § 265a StGB gilt im objektiven Bereich: Verkehrsmittel ist klar; Beförderung ist klar. Bleibt: "Erschleichen", also die Tathandlung. Die herrschende Meinung (h.M.) weiß seit 90 Jahren, was das ist: "Das Überwinden einer Zugangsschwelle ohne Täuschung einer natürlichen Person". Das bedeutet: Wer beim Einlass eine gefälschte Karte vorzeigt, betrügt, wer durchs Klofenster einsteigt, obwohl und weil an der Tür ein Kontrolleur steht, erschleicht.

Handeln wie Alle = Erschleichen?

Was aber, wenn beim Opernbesuch der Zugangskontrolleur fehlt und der Gast trotzdem durchs Fenster krabbelt? Oder noch besser: wenn beim U-Bahnfahren weder Kontrolleur noch Klofenster vorhanden sind, sondern nur ein Schild: "Einsteigen und Befördertwerden kostet 4.00 Euro"? Dann steigen alle ein und werden befördert. Viele haben bezahlt, manche nicht, was nicht an sich schon eine strafbare Handlung ist, seit 1869 in Deutschland das Schuldgefängnis abgeschafft wurde.

Frage: Was ist die Tathandlung? Die Rechtsprechung sagt: Erschleichen ist "das Sich-Umgeben mit dem Anschein der Rechtmäßigkeit". Letzten Endes ist das Tathandeln also, sich so zu verhalten wie alle anderen. Das bedeutet dann umgekehrt, dass sich alle anderen so verhalten wie Täter, dass also alle Fahrgäste tun, was man "Erschleichen" nennt. Der Unterschied ist allein das Fehlen einer Berechtigung. Dagegen sagt die h.M. in der Literatur, seit Alwart (JZ 1986) und Fischer (NJW 1988) mit dem Mäkeln angefangen haben: "Sich durch Nichtstun Verhalten wie alle anderen" sei keine Handlungsbeschreibung im Sinn des Art. 103 Abs. 2 GG. Und das bloße Fehlen einer Berechtigung erzeuge keine abgrenzbare Tathandlung. Die Justiz hält am Gegenteil fest, weil es doch nun einmal so ist und man ja auch wirklich nicht schwarzfahren sollte.

In der rechtspolitischen Diskussion ist von Artikel 103 Abs. 2 GG wenig, von Überzeugung viel zu lesen. Das ist legitim; es kommt aber auf soziale Absichten und innere Logik an. Doch da diskutiert man aktuell einen im Grunde faulen Kompromiss: Wie wär’s, wenn wir das Schwarzfahren zur Ordnungswidrigkeit machten, also dem Falschparken gleichstellten? Das ist ein spontan sympathischer Gedanke: "Ordnungswidrigkeit" könnte besser sein als "Vergehen".

Bestrafung als Ordnungswidrigkeit wäre fauler Kompromiss

Allerdings stellt sich die Frage. Warum dann nicht auch den erschlichenen Opernbesuch zur Ordnungswidrigkeit herabstufen? Warum sollte man, als "Kompromiss" zwischen Handlung und Nichthandlung, ein Verhalten mit Geldbuße sanktionieren, das darin besteht, sich "wie alle anderen" zu verhalten? Es ist klar: Wer in die U-Bahn einsteigt, schließt konkludent einen entgeltlichen Vertrag. In den vergangenen 50 Jahren haben die Verkehrsbetriebe alle Schranken, Sperren, Zugangshindernisse und Kontrollen abgeschafft; man erinnert sich kaum noch, dass es sie einmal gab. Die Unternehmen beschränken sich darauf, den Kunden schriftlich anzudrohen, dass diese eine Vertragsstrafe zahlen müssen, falls sie nicht vorab zahlen. Das rechnet sich auch wirtschaftlich; sonst wäre die Vertragsstrafe ja höher. Die Geldstrafen wegen § 265a StGB sind also kein Schadensausgleich, sondern ein Zuschlag der Rechtsgemeinschaft wegen Sozialschädlichkeit. Jeder, der nach § 265a verfolgt wird und eine Geldstrafe zahlen muss, ist zusätzlich auch das "erhöhte Beförderungsentgelt" schuldig.

Antwort, im Ergebnis:

Schwarzfahren sollte nicht weiter bestraft werden. Es ist in der Substanz nur das Nichtzahlen einer Schuld. Das reicht für keine der anderen Varianten des § 265a StGB. Die geschädigten Unternehmen können sich zivilrechtlich wirksam wehren. Das Unrecht des bloßen Schwarzfahrens ohne Zugangserschleichung rechtfertigt weder eine Verfolgung als Straftat noch eine solche als Ordnungswidrigkeit. Wenn das die Rechtsprechung nicht einsieht, muss der Gesetzgeber es ihr ins Strafgesetzbuch schreiben.

Prof. Dr. Thomas Fischer ist Rechtsanwalt in München und Rechtswissenschaftler. Er war von 2013 bis 2017 Vorsitzender Richter des 2. Strafsenats am Bundesgerichtshof. 

Zitiervorschlag

Eine Frage an Thomas Fischer: . In: Legal Tribune Online, 23.05.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48530 (abgerufen am: 13.12.2024 )

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