Verschärfte Strafgesetze, mehr Polizeibefugnisse, ungehemmte Durchsetzung. Immer häufiger beschwören Politiker den "Rechtsstaat", wenn sie etwas ganz anderes meinen, so Maximilian Pichl. Warum das gefährlich ist und eine neue Debatte braucht.
Im Mai 2018 wurde ein Großaufgebot der Polizei zu einer Flüchtlingsunterkunft in Ellwangen geschickt. Die Bewohner wehrten sich dort passiv gegen eine Abschiebung, die Polizei nahm den Betroffenen fest und schob ihn nach Italien ab, was der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl so kommentierte: "Bei uns setzen sich Polizei und Rechtsstaat durch." Kurz darauf sagte der CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, eine "Anti-Abschiebe-Industrie" nutze die Mittel des Rechtsstaates, um ihn zugleich "von innen heraus zu bekämpfen".
In den letzten Jahren lässt sich beobachten, dass der Begriff des "Rechtsstaats" immer häufiger in politischen Diskussionen auf eine Art und Weise verwendet wird, die seinen eigentlichen Gehalt ins Gegenteil verkehrt.
Und nicht nur (rechts-)konservative Politiker beziehen sich ordnungspolitisch auf den Rechtsstaat. So erregte die Grünen-Parteivorsitzende Annalena Baerbock Unmut bei Menschenrechtsorganisationen als sie in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagte, um das Recht auf Asyl aufrechterhalten zu wollen, müsse man auch bei Rückführungen "den Rechtsstaat durchsetzen".
Nicht nur in Bezug auf Abschiebungen wird der Rechtsstaatsbegriff in Anschlag gebracht. In einem Strafverfahren Mitte Februar 2019 gegen eine Aktivistin, die sich ihrer Räumung im Hambacher-Wald widersetzt hatte, begründete der zuständige Richter sein hartes Urteil von neun Monaten Jugendgefängnis ohne Bewährung mit dem Verweis darauf, dass der "Rechtsstaat" ein deutliches Signal erwarte.
Rechtsstaat meint Einhegung des Gewaltmonopols
Diese Aufzählung ließe sich beliebig erweitern. Im politischen Diskurs wird der Rechtsstaat adressiert, wenn es um die Verschärfung von Gesetzen, eine exzessive Anwendung des Strafrechts oder die Durchsetzung von behördlichen Befugnissen geht. Auf diese Weise vollzieht sich indes eine ordnungspolitische Vereinnahmung des Rechtsstaatsbegriffs, der historisch, politisch und juristisch etwas ganz anderes meinte.
Der Rechtsstaat entstand in den Auseinandersetzungen des liberalen Bürgertums gegen die Feudalgewalt und sollte auf der einen Seite die eigene ökonomische Herrschaft in Form des Privateigentums absichern, aber zugleich – und hier liegt sein emanzipatorisches Moment - das erstarkende staatliche Gewaltmonopol einer umfassenden Kontrolle unterwerfen. Zu diesem Zweck entstand sukzessive ein engmaschiges rechtsstaatliches Netz aus Gerichten, Rechtsverfahren, subjektiven Rechten und Rechtsbeiständen, die Einzelne vor staatlicher Gewalt schützen sollten.
Rechtsstaat meinte in diesem Sinne gerade nicht "Law&Order". Die liberale Idee, einer restlos kontrollierten Exekutive, blieb historisch betrachtet zwar eine Illusion. Denn die Exekutive konnte sich stets aufgrund von unklar bestimmten Rechtsbegriffen, ausgeweiteten Befugnissen und dem Aufbau von eigenen Machtstrukturen von den rechtsstaatlichen Vorgaben verselbstständigen. Dennoch sind die Achtung vor einer strengen Gesetzlichkeit und die Möglichkeit des Einzelnen Schutz in Rechtsverfahren zu erhalten eminent wichtige Gradmesser für eine demokratische Gesellschaft. Der Staatstheoretiker Nicos Poulantzas verwies darauf, dass man die sogenannten "formalen Freiheiten" oft "erst wirklich schätzen lernt, wenn sie einem genommen werden".
Mehr Polizei stärkt das Gewaltmonopol – nicht den Rechtsstaat
Die ordnungspolitische Vereinnahmung des Rechtsstaatsbegriffs hat nicht nur eine diskursive Funktion. Wenn der baden-württembergische Innenminister Strobl die Polizei und den Rechtsstaat umstandslos auf eine Stufe stellt, dann legitimiert er nicht nur die Handlungen der Polizei gegenüber jedweder Kritik, sondern er negiert gerade, dass der Rechtsstaat ebenjene Exekutive kontrollieren soll.
Und wenn Dobrindt Rechtsanwälte unter den Begriff der Industrie subsumiert, unterstellt er ihnen pauschal eigennützige Interessen, obwohl sie gerade die wichtigsten Akteure sind, um für Betroffene von exekutiver Gewalt den Schutz des Rechtsstaates einzufordern. Die Effekte eines solchen Diskurses sind exekutive Exzesse und eine Verunglimpfung gerichtlichen Rechtsschutzes, der – das zeigt das Beispiel des Strafverfahrens gegen die Öko-Aktivistin – sogar Richter zu absurden Verwendungen des Rechtsstaatsbegriffs animiert.
Auf den Rechtsstaatsbegriff wird Bezug genommen, weil die eigentlichen Begriffe, um die es geht, in der Öffentlichkeit keine vergleichbare positive Konnotation haben: Denn wer Rechtsstaat sagt, meint immer öfter Sicherheit oder staatliches Gewaltmonopol. Als Bund und Länder kürzlich den sogenannten "Pakt für den Rechtsstaat" vereinbarten fiel zum Beispiel kaum auf, dass unter diesem Label nicht nur die Justiz mit mehr Personal ausgestattet werden soll, sondern auch die Polizei, die zudem in Form der erweiterten DNA-Analyse sehr umstrittene Befugnisse erhalten wird.
Eine bessere Ausstattung der Polizei mag die Folge einer sicherheitspolitischen Entscheidung für eine Stärkung des Gewaltmonopols sein, sie stellt aber nicht eine Stärkung des Rechtsstaates dar. Wenn der Rechtsstaatsbegriff, die Sicherheit und das Gewaltmonopol immer wieder in einen Topf geworfen und bis zur Unkenntlichkeit vermischt werden, dann ist einer Aushöhlung des Rechtsstaatsprinzips der Boden bereitet.
Fehlende Rechtsstaatsdebatte in der Wissenschaft
Nicht nur in der politischen Sphäre wird der Rechtsstaatsbegriff immer weiter entkernt. Auch in der Rechts- und Politikwissenschaft gibt es kaum noch Verständigungen darüber was Rechtsstaatlichkeit im 21. Jahrhundert bedeutet. Dabei prägten gerade diese Debatten die Gründungszeit der Disziplinen. Franz L. Neumannanalysierte präzise, wie der Rechtsstaat schon in der Weimarer Republik durch Generalklauseln ausgehöhlt wurde, indem die Exekutive immer mehr Ermessensspielräume zur Verfügung hatte. Ingeborg Maus' radikaldemokratische Rechtsstaatstheoriekonturierte das Parlament als wichtigsten Akteur zur Einhegung des Gewaltmonopols. Wolfgang Abendroth fügte der freiheitssichernden Funktion des Rechtsstaats eine soziale Dimension durch Teilhaberechte hinzu. Und Jürgen Habermas kommunikationstheoretische Schriften betonten die Wechselwirkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Von diesen grundsätzlichen Debatten gibt es in der Rechts- und Politikwissenschaft nur noch wenige Restbestände. Möglicherweise erleichtert dies ordnungspolitischen Akteuren den Rechtsstaatsbegriff für sich zu vereinnahmen, weil es kaum kritische Stimmen gibt, die dieser Entwicklung fundierte Positionen entgegensetzen. Eine intensive Debatte über die Schutzfunktionen des Rechtsstaats im 21. Jahrhundert, wie auch über seine immanenten Grenzen, gehört auf die Tagesordnung.
Der Autor ist Rechtswissenschaftler und Politikwissenschaftler, er forscht an der Universität Kassel über Migrationspolitik und Rechtsstaat.
Wie ein Begriff ins Gegenteil verkehrt wird: . In: Legal Tribune Online, 27.02.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/34099 (abgerufen am: 06.12.2024 )
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