EuGH-Schlussanträge zum Europäischen Haftbefehl: Solange in Polen noch Gerichte stehen

von Dr. Markus Sehl

12.11.2020

Auch wenn die Unabhängigkeit der polnischen Gerichte bedroht ist, rechtfertigt das nicht die automatische Ablehnung von europäischen Haftbefehlen aus Polen. So sieht es der EuGH-Generalanwalt in seinen Schlussanträgen.

Europäische Haftbefehle (EuHB), mit denen mutmaßliche Straftäter aus anderen europäischen Ländern nach Polen zurückgeholt werden sollen, dürfen nicht pauschal abgelehnt werden. So sieht es der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, Az. C-354/20 und C-412/20). 

Der EuHB beruht auf der Idee, dass die EU-Mitgliedstaaten die Entscheidungen ihrer Justizbehörden untereinander anerkennen und möglichst schnell und unkompliziert umsetzen. Das System – und das hat der Generalanwalt auch mit seiner Einschätzung am Donnerstag noch einmal betont – beruht auf gegenseitigem Vertrauen zwischen den Behörden der EU-Staaten. So können sich die Strafverfolgungsbehörden direkt an ihre Kollegen in einem anderen EU-Staat wenden, ohne dass sie ein kompliziertes Auslieferungsverfahren durchführen müssten.

Die Vorlagefragen eines niederländischen Gerichts, angestoßen von der dortigen Staatsanwaltschaft, zielten auf Sorgen um wachsende "systemische und allgemeine Mängel" im Justizsystem Polens ab. Die Staatsanwaltschaft fragte sich, ob sie zwei polnische Staatsbürger auf einen EuHB aus Polen hin auch in die Hände der polnischen Justiz übergeben sollte – oder ob ihnen dort wegen struktureller Missstände im Justizsystem ein unfaires Verfahren drohen könnte. Die nationalkonservative PiS-Regierung in Warschau baut das Justizwesen des Landes seit Jahren trotz internationaler Kritik um und setzt Richter damit unter Druck. Die EU-Kommission klagte schon mehrfach gegen die Reformen; zum Teil wurden sie vom EuGH gekippt. Die niederländische Justiz möchte vom EuGH angesichts der bisher letzten polnischen Justizreformen wissen, ob sie eine Einzelfallprüfung bei den EuHB aus Polen aussetzen kann und pauschal alle ablehnen darf.

Dieser Ansicht erteilte der Generalanwalt nun eine Absage. "So sehr sich die Bedrohung der Unabhängigkeit der polnischen Gerichte in dieser Hinsicht intensiviert haben mag, ist jedoch eine automatische und unterschiedslose Aussetzung der Anwendung des Rahmenbeschlusses für sämtliche von den polnischen Gerichten ausgestellten EuHB nicht ohne Weiteres zulässig", heißt es in den am Donnerstag veröffentlichten Schlussanträgen. Entscheidend sei nicht die bedrohte Unabhängigkeit, sondern die "Eigenschaft der Behörde".

Auch ein in der Unabhängigkeit bedrohtes Gericht bleibt ein Gericht

"Die systemischen oder allgemeinen Mängel, die im Hinblick auf die Unabhängigkeit der polnischen Gerichte festgestellt werden können, ändern meiner Ansicht nach nichts daran, dass es sich bei ihnen weiterhin um Gerichte handelt." Und weiter: "Sie behalten diesen Status bei, obwohl die Unabhängigkeit der Justiz – im Sinne der Gesamtheit der für die Rechtsprechung zuständigen Organe – durch Regierungsstrukturen (oder sogar durch die nicht ordnungsgemäße Ausübung der Disziplinarfunktionen) bedroht ist. Die Feststellung solcher Mängel, so gravierend sie auch sein mögen, vermag den Gerichten nicht ihre Eigenschaft als solche zu nehmen."

Eine automatische Ablehnung aller EuHB aus Polen würde wahrscheinlich zur Straffreiheit zahlreicher Straftaten führen, könne die Rechte der Opfer verletzen und zudem als Entwertung der Arbeit aller polnischer Richter verstanden werden, befand der Generalanwalt Manuel Campos-Bordona. Deshalb müsse stets der Einzelfall geprüft werden. 

Eine automatische - oder in den Worten des Generalanwalts: "radikale Nichtvollstreckung" - komme nur in Betracht, etwa wenn der Europäische Rat in einem Art.-7-Rechtsstaatsverfahren eine schwere und anhaltende Verletzung des Rechtsstaats für den Mitgliedstaat feststellt.

Bereits 2018 hatte der EuGH entschieden, dass EuHB aus Polen unter bestimmten Bedingungen nicht vollstreckt werden müssen. Dafür müsse zweierlei geprüft werden: Zunächst müsse geklärt werden, ob wegen systematischer oder allgemeiner Mängel im Justizsystem Gefahr für das Grundrecht auf ein faires Verfahren bestehe. Anschließend müsse im Einzelnen geprüft werden, ob es im konkreten Fall Auswirkungen auf das Verfahren des Betroffenen geben könnte. 

Die Schlussanträge sind für die EuGH-Richter nicht bindend, häufig folgen sie ihnen aber. Ein Urteil dürfte in einigen Monaten fallen.

Zitiervorschlag

EuGH-Schlussanträge zum Europäischen Haftbefehl: Solange in Polen noch Gerichte stehen . In: Legal Tribune Online, 12.11.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43418/ (abgerufen am: 14.05.2024 )

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