Strategische Prozessführung: Mehr als gewinnen

von Annelie Kaufmann

04.10.2017

2/2 Der Fall Kik

Vor fünf Jahren starben bei einem Brand in der Textilfabrik Ali Enterprise im pakistanischen Karachi 260 Arbeiter, 36 wurden verletzt – einer der Hauptkunden der Fabrik war der deutsche Textildiscounter Kik. Vier Überlebende und Hinterbliebene klagen deshalb mit Unterstützung des ECCHR vor dem Landgericht (LG) Dortmund und fordern von Kik Schmerzensgeld. Sie werden von dem Berliner Rechtsanwalt Remo Klinger vertreten.

Klinger sitzt im Beirat des ECCHR und unterstützt das Verfahren pro bono. Er legt Wert darauf, dass es auch bei solchen strategischen Prozessen eben nicht nur um die Strategie geht: "Ich bin sehr froh, dass in der Zusammenarbeit mit dem ECCHR immer klar war, dass das, was die Betroffenen wollen, das Wichtigste ist und für mich als Anwalt auch bindend." Wenn sich die Kläger auf einen Vergleich einlassen wollen, sei das zu akzeptieren – auch wenn es den strategischen Interessen zuwiderliefe.

Kik hat den Betroffenen inzwischen zugesagt, 5,15 Millionen US-Dollar Hinterbliebenen- und Unfallentschädigung zu zahlen. Trotzdem wollen die vier Kläger ihre Klage auf Schmerzensgeld aufrechterhalten. Auch weil es ihnen wichtig ist, dass das Unternehmen zur Verantwortung gezogen wird, erklärt Saage-Maaß: "Es ist ihnen wichtig, dass sie ein Forum finden und vor einem deutschen Gericht ihre Geschichte erzählen können."

Neben der Klage vor dem LG Dortmund unterstützt das ECCHR Strafverfahren gegen die Besitzer der abgebrannten Fabrik in Pakistan und ein Verfahren gegen die Zertifizierungsfirma RINA in Italien.

Intensive Öffentlichkeitsarbeit gehört dazu

Nicht gegen Unternehmen, sondern gegen den Staat richtet die 2015 gegründete Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) ihre Prozessführung. Vorsitzender ist der Berliner Richter Ulf Buermeyer. "Die große Koalition war eigentlich ein Subventionsprogramm für strategische Prozessführung, so unsensibel wie sie in der Gesetzgebung vorgegangen ist," sagt Buermeyer. Die GFF geht insbesondere mit strategischen Verfassungsbeschwerden gegen Gesetze vor, die ihrer Ansicht nach die Freiheitsrechte des Grundgesetzes bzw. die Europäische Menschenrechtskonvention verletzen.

Zu den ersten Fällen der GFF gehören etwa Verfahren gegen die Überwachung internationaler Telekommunikation nach dem "G 10"-Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses, gegen den § 202d Strafgesetzbuch, der den Umgang mit geleakten Daten weitreichend unter Strafe stellt, und gegen das neue BND-Gesetz.

Wie der ECCHR will auch die GFF nicht nur einen Fall gewinnen, sondern vor allem auch gesellschaftliches Umdenken erzeugen. Intensive Öffentlichkeitsarbeit gehört zu den Verfahren dazu. "Es kann sein, dass man einen Prozess aus bestimmten Gründen verliert, aber trotzdem sein Ziel erreicht, etwa weil die gesellschaftliche Debatte zu einer Änderung der Gesetze führt", so Buermeyer.

Kollektiven Rechtsschutz ausweiten?

Bisher kommen kollektive Klagerechte, insbesondere Verbandsklagerechte, in Deutschland vor allem im Umweltrecht zum Tragen. Doch es gibt Überlegungen, das auszuweiten, aktuell wird vor allem über die Ausweitung der Klagerechte für Verbraucher diskutiert. Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) hatte dazu einen Gesetzentwurf vorgelegt, scheiterte jedoch am Widerstand von CDU und CSU. Die Union hielt die Vorschläge für unzureichend, sie befürchtet "amerikanische Verhältnisse." Das Thema wird jedoch auch die nächste Koalition beschäftigen.

Stephan Wernicke vom deutschen Industrie- und Handelskammertag sieht das kritisch: "Wir wollen keine Klageindustrie." So spekulieren in den Verfahren wegen des Dieselskandals gegen VW Investoren auf Prozesse von Aktionären. Wernicke warnt davor, dass ökonomische Interessen von Prozessfinanzierern und Anwälten solche Verfahren bestimmen. Für die Unternehmen sei das mit hohen Risiken verbunden, zumal der Reputationsverlust oft noch schwerer wiege als Schadensersatzzahlungen und Prozesskosten.

Wagner sieht das anders. Solange es für die Unternehmen teuer sei, rechtliche Regelungen einzuhalten, andererseits aber keine Sanktion drohe, sei der Anreiz eben nicht besonders hoch, sich an das Recht zu halten. Er hält es allerdings auch nicht für richtig – wie in den USA – vor allem auf die ökonomischen Interessen von Anwälten zu setzen. Das deutsche, von Verbänden getragene Modell, sei insofern nicht ganz verkehrt. "Idealisten sind unverzichtbar, wenn es darum geht, Recht durchzusetzen."

Zitiervorschlag

Annelie Kaufmann, Strategische Prozessführung: Mehr als gewinnen . In: Legal Tribune Online, 04.10.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24815/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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