Grundrechte-Report 2022: Lob und Tadel für Karls­ruhe

von Hasso Suliak

18.05.2022

Fehlende Instrumente im Kampf für mehr Klimaschutz, Bagatellisierung rechter Strukturen in der Polizei und eine "brandgefährliche" Corona-Entscheidung des BVerfG: Bürgerrechtler sehen Deutschland in einer "multiplen Grundrechtskrise".

Wenn die zehn größten Bürgerrechtsorganisationen Deutschlands ihren jährlichen Report zum Umgang mit Bürger- und Menschenrechten im Land präsentieren, stellen sie diesem in der Regel eine Aussage voran: Dass es auch in der aktuellen Auflage nicht zu schaffen war, alle wesentlichen Grundrechtsverletzungen und -gefährdungen des Vorjahres zu dokumentieren. Auch im Vorwort des am Mittwoch vorgestellten Grundrechte-Reports 2022, der das Jahr 2021 beleuchtet, findet sich ein solcher Hinweis: Die Unmöglichkeit, alle relevanten Eingriffe aufzuführen, sei jedoch nicht nur begrenzten Ressourcen geschuldet, sondern sei auch ein Ausdruck der "multiplen Grundrechtskrise", in der sich das Land befinde.

Eingang in die diesjährige, rund 200-Seiten umfassende Krisen-Dokumentation haben 39 Beiträge gefunden. Den Rahmen bilden ein Aufsatz zur verletzten Menschenwürde von Strafgefangenen, von denen bundesweit heute rund ein Fünftel in viel zu kleinen Mehrfachzellen untergebracht seien, und ein Bericht über problematische Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte bei der Caritas, die sich auch aus den arbeitsrechtlichen Privilegien der Kirchen (und deren verfassungsrechtlicher Herleitung aus Art. 140 Grundgesetz (GG)) ergäben.

Auf den Seiten dazwischen widmet sich der Report diversen Schwerpunkten. Einer davon ist die bürgerrechtliche Situation, die durch den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan entstanden ist. Im Beitrag "Realitätsverweigerung bis zuletzt" wird thematisiert, welche fatalen Auswirkungen die fehlerhafte Lagebewertung hinsichtlich der Stabilität des Landes vor dem Truppenabzug Mitte 2021 auf die Abschiebepraxis von Afghaninnen und Afghanen habe.   

NRW-VersG: "Aufrüstung des repressiven Staates"  

Ein anderer Schwerpunkt des Reports ist die Klimakrise und die daraus resultierende Klimagerechtigkeitsbewegung. Erörtert werden Fragen wie: Stehen den einschlägigen Verbänden angemessene rechtliche Instrumentarien zur Verfügung? Ist unsere Verfassung in Sachen Klimaschutz gut aufgestellt oder verhindert die in Art. 109 Abs. 3 GG verankerte Schuldenbremse die notwendige Finanzierung?  

Exemplarisch an der Auseinandersetzung über den Hambacher Wald wird dargelegt, dass es um den (grund)rechtlichen Schutz für Klimaaktivisten nicht gut bestellt ist. Jedenfalls leiste einen solchen das neue nordrhein-westfälische Versammlungsrecht nicht. In einem Beitrag von Anna Magdalena Busl zeigt diese, wie sich aus ihrer Sicht das Gesetz eigne, um auf verfassungsrechtlich problematische Weise Proteste einzudämmen oder gar unmöglich zu machen. "Das Gesetz reiht sich ein in eine Reihe von Maßnahmen und Gesetzen der letzten Jahre, die den Rechtsstaat aushöhlen und den repressiven Staat aufrüsten", klagt die Anwältin, die Mitglied im erweiterten Vorstand des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins (RAV) ist.   

Lob erfährt unterdessen das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) wegen seines Beschlusses zum Klimaschutzgesetz. Nach Meinung von Jura-Professorin a.D. Rosemarie Will sei der Beschluss des Gerichts bahnbrechend gewesen, eine Art umweltrechtliche "Elfes"-Entscheidung. Die objektive Staatszielbestimmung des Art. 20a GG sei nun kein "zahnloser Tiger" mehr, so Will. Das BVerfG habe Art. 20a GG in einer Weise konkretisiert, die nun die exakte Kontrolle ermögliche, "ob das Notwendige dafür getan wird, dass die Kipppunkte der Erderwärmung, bei deren Überschreitung es zu irreversiblen Prozessen kommt, vermieden werden".   

Umweltverbandsklagen ausweiten  

Nicht das Notwendige getan hat indes laut Grundrechte-Report die Politik in Sachen Klimaschutz. Internationale Verpflichtungen wie die Aarhus-Konvention, die in Umweltangelegenheiten u.a. den Zugang zu Gerichten regelt, seien von Deutschland nicht angemessen umgesetzt worden. Würde man hier den völkerrechtlichen Verpflichtungen nachkommen, wären z.B. auch für Umweltstiftungen und -vereine effiziente Verbandsklagen möglich.  

(c) Humanistische Union"Um den ökologischen Krisen und damit einhergehenden (potenziellen) Grundrechtseingriffen zu begegnen, sollte die verfahrensrechtliche Stellung von Umweltvereinigungen nicht weiter geschwächt, sondern vielmehr gestärkt werden. Umweltrechtsschutz darf nicht als Hemmschuh, sondern sollte als Unterstützung und wichtiges Korrektiv bei der Umweltplanung betrachtet werden", heißt es in einem Beitrag von Kathleen Pauleweit und Louisa Hantsche vom Unabhängigen Institut für Umweltfragen (UfU) in Berlin.  Die Aktualität des Einwands der Autorinnen zeigt sich in diesen Tagen im Kontext mit dem LNG-Beschleunigungsgesetz, bei dem mehrere Umweltverbände die Nicht-Einhaltung umweltrechtlicher Standards bemängeln.

Wie in früheren Grundrechte-Berichten findet sich schließlich auch im 2022er Report eine kritische Hinterfragung neu geschaffener Ermittlungsbefugnisse, die den Sicherheitsbehörden das Leben erleichtern sollen. In den Fokus der Bürgerrechtsorganisationen gerät etwa die Neuregelung in der Strafprozessordnung (§ 95a), wonach von verdeckten Ermittlungen betroffene Personen im Nachhinein nicht mehr über Beschlagnahmen informiert werden müssen. Damit entfalle jede Möglichkeit der gerichtlichen Kontrolle, heißt es im Bericht.  

Wie es in Sachen Rechtsextremismus um die Integrität staatlicher Behörden und Institutionen bestellt ist, beleuchtet Sarah Praunsmändel, Lehrbeauftragte für Verwaltungsrecht an der Hochschule Fulda, in ihrem Beitrag mit dem Titel "Gefahr für den Rechtsstaat: rechtsradikale Polzist:innen" am Beispiel der Polizei. Ihre ernüchterndes Fazit lautet: "Ein lascher Umgang mit Polizist:innen, die an rechten Chats beteiligt sind, die Bagatellisierung rechter Strukturen und die fehlende Konsequenz gegenüber Rechtsradikalen in der Polizei spotten eines funktionierenden Rechtsstaats, der auch auf eine Rechtsstaatskultur innerhalb der Sicherheitsbehörden und die Verfassungstreue seines Personals gebaut ist."  

Heftige Kritik an Bundesnotbremse-Entscheidung  

Während das BVerfG noch für seine Klimaentscheidung von den Bürgerrechtlern gelobt wird, muss es für seine Bundesnotbremse-Entscheidung vom November 2021 im Report heftige Kritik einstecken. Das Gericht hatte diverse Verfassungsbeschwerden – u.a. eine der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) - gegen Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen der sog. Bundesnotbremse zurückgewiesen.  

Im Grundrechte-Report artikuliert nunmehr der Vorsitzende der GFF, Dr. Ulf Buermeyer, die Kritik an den Karlsruher Richter:innen. Buermeyer wirft dem Gericht vor, "unpräzise" argumentiert zu haben. Die Entscheidung, so der Jurist, gebe Anlass zu "großer Sorge":

"Das Gericht stellt den Gesetzgeber mit einer dünnen, an einigen Stellen rechtsdogmatisch schwer nachvollziehbaren Argumentation weitgehend von verfassungsrechtlicher Kontrolle frei. Überträgt man diesen Blankoscheck auf andere Rechtsgebiete, droht eine erhebliche Verkürzung des verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes – namentlich auf dem von notorischen Grenzüberschreitungen gekennzeichneten Feld der sogenannten Sicherheitsgesetze." Gefährlich, so Buermeyer, sei insbesondere, "wie knapp" das Gericht über wesentliche Fragen der Verhältnismäßigkeitsprüfung hinweg gegangen sei. "Eine akribische Prüfung schwerwiegender Grundrechtseingriffe gerade auch im pandemischen Ausnahmezustand hätte dem BVerfG gut zu Gesicht gestanden", schreibt er.  

Die GFF hatte sich in einer Verfassungsbeschwerde erfolglos gegen die bis zum 30. Juni 2021 befristete allgemeine Ausgangssperre gewandt. Nach dem Urteil des BVerfG kommentierte Buermeyer die Entscheidung, die die GFF betraf, noch eher positiv: "Wir begrüßen die hohen Hürden, die das Bundesverfassungsgericht für Ausgangssperren aufgestellt hat." Das Gericht habe festgestellt, dass Ausgangssperren nur "in einer äußersten Gefahrenlage" in Betracht kämen, lobte er seinerzeit. 

Der Grundrechte-Report dokumentiert seit 1997 als Teil einer zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit den Umgang mit Bürger- und Menschenrechten in Deutschland. Das Hauptaugenmerk liegt dabei jedes Jahr auf den staatlichen Institutionen.  

Herausgegeben wird der Report von zehn Bürgerrechtsorganisationen:  Der Humanistischen Union, des Komitees für Grundrechte und Demokratie, des Bundesarbeitskreises Kritischer Juragruppen, von Pro Asyl, des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins, der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen, der Internationalen Liga für Menschenrechte, der Neuen Richtervereinigung, des Forums InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung sowie der Gesellschaft für Freiheitsrechte.  

Die 26. Ausgabe des Grundrechte-Reports erscheint am 25. Mai 2022. Sie ist im Fischer-Verlag zum Preis von 13,00 Euro erhältlich (ISBN 978-3-596-70805-5).

Zitiervorschlag

Grundrechte-Report 2022: Lob und Tadel für Karlsruhe . In: Legal Tribune Online, 18.05.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48474/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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