Recht und Wissenschaft: Annäherungen an das strafende Gehirn

von Martin Rath

06.07.2014

2/2: Forschungsbedarf und kulturelle Provokationen

Über solche basalen Strukturen hinaus, die zu den Inhalten und Anlässen sogenannter Strafansprüche noch nicht viel besagen können, stellt Hoffman unter anderem auch einen interessanten Forschungsansatz vor, mit dem die sozialethische Bewertung von Rechtsgütern und Verletzungsmethoden empirisch erfolgt: Aus einem Sample von 100 Fall-Skizzen werden Probanden gebeten, Rangordnungen der Vorwerfbarkeit zu erstellen. Beispielsweise sollen ein brutaler Muttermord, ein grauenhafter Kindsmord sowie ein weiteres Morddelikt bewertet werden. Jedenfalls in der US-gestützten Forschung kommt es zu überraschend gleichförmigen Rechtsgut-/Tatunwert-Bewertungen, aus denen sich starke intersubjektive Werthaltungen ableiten lassen.

Um eine gleichsam anthropologische Herleitung von Rechtsgutwerten zu erlauben, müsste hier der geographische Horizont natürlich drastisch erweitert, müssten kulturelle Grenzen überschritten werden. Schon aus Gründen der Politikberatung wäre eine Ausweitung entsprechender sozialpsychologischer Forschungen auf die Sanktionsbedürfnisse auch hierzulande wünschenswert.

Eine anthropologische Konstante lässt sich jedenfalls zeigen: Hinter nichtintentionalem Schädigen, zu Deutsch: dem Unfall, mag man allenthalben wenig strafwürdig Böses entdecken.

Neue, undogmatische Straf-Perspektiven

Morris B. Hoffmans theoretische Begründung von Strafe aus dem Sanktionsbedürfnis des gemeinen Menschen, zunächst in den basalen Strukturen, dann aber auch in den großen Zügen des konkreten Rechtsgüterkonzepts, bleibt im vorliegenden Band zivilisiert – vielleicht weil er dem Volk nicht aufs Maul (Luther), sondern möglichst subtil ins Hirn schaut. In diesem Zusammenhang finden sich bedenkenswerte Ansichten eines Richters in der demokratischen "rule of law" auf die demokratische "rule of law" – beispielsweise schreibt Hoffman dem Resozialisierungsgedanken Mitverantwortung für die ausufernden Inhaftierungen in den USA zu.

Alteuropäer halten das meist für durchgeknalltes Rachedenken.
Allerdings: Dem Volk aufs Hirn zu schauen, erlaubt auch, neben dem Sanktionsbedürfnis der sozialpsychologischen und -biologischen Spur der Gnade zu folgen, die bei der historisch staatsfixierten "top down"-Perspektive gerne unterbelichtet bleibt.

Natürlich muss das alles auch nicht im rhetorischen Blutbad des Volksempfindens landen. Als Richter in Colorado steht Hoffman, wie online nachzulesen ist, unter einer durchaus zivilisierten öffentlichen und demokratischen Supervision seiner judikativen Arbeit.

Ob sich die deutsche Öffentlichkeit im Verhältnis zu ihrer Justiz etwas von der US-amerikanischen abschauen sollte, muss hier offen bleiben. Von Hoffmans "The Punisher’s Brain" sollte man sich aber dringend analytisch eine Scheibe abschneiden. Denn, dass Richter, Staats- und Rechtsanwälte nebst Angeklagten, Zeugen und Sachverständigen im deutschen Strafprozess vor dem Eintritt in die Verhandlung alle einmal mit dem Finger schnippen, um sich daran zu erinnern, wie bedingt frei in ihrem Willen sie als Normalsterbliche doch allesamt sind, ist ja leider nicht zu erwarten.

Literatur: Morris B. Hoffman: "The Punisher’s Brain. The Evolution of Judge and Jury", Cambridge University Press, 2014, 360 Seiten, ISBN 9781107038066. Gedruckt in ganz unangelsächsisch guter Qualität zum Preis von ca. 27 Euro zu erwerben, als eBook für ca. 15 Euro.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Recht und Wissenschaft: Annäherungen an das strafende Gehirn . In: Legal Tribune Online, 06.07.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12459/ (abgerufen am: 27.04.2024 )

Infos zum Zitiervorschlag
Jetzt Pushnachrichten aktivieren

Pushverwaltung

Sie haben die Pushnachrichten abonniert.
Durch zusätzliche Filter können Sie Ihr Pushabo einschränken.

Filter öffnen
Rubriken
oder
Rechtsgebiete
Abbestellen