Das Majoritätsprinzip: Zankapfel seit eh und je: Gemurrt haben schon die alten Ger­manen

von Martin Rath

03.07.2016

2/2: "Händ uf, liebi Landslüt!" – bis das Ergebnis stimmt

Bei unklaren Stimmverhältnissen wurden "die Zaudernden und Ablehnenden mit dem Ruf 'Händ uf, liebi Landslüt!' angefeuert, ihre Hände ebenfalls hochzuhalten", berichtet Elsener noch als Praxis der Schweizer Landgemeinden im hohen Mittelalter und in der Neuzeit, "man habe den Nachbarn sogar mit Püffen in den Ellbogen gezwungen, seinen Arm emporzustrecken".

Wir sehen, dass Gesinnungsterror und Meinungszwang nicht 1968 als politische Korrektheit über die Menschheit gekommen sind, sondern die alten Germanen sie erfunden haben: "Der Gedanke der Rechtlosigkeit der Minderheit hat seinen Niederschlag gefunden in der typisch germanischen 'Folgepflicht', der Treuepflicht gegenüber dem Ganzen; dieses Ganze wurde repräsentiert durch die überwiegende Mehrheit."

Der historisch-politische Prozess, in dem sich die schweizerischen Eidgenossen zu ihrer heutigen staatlichen Form zusammenrauften, ähnelte dem der Europäischen Union: Eigentlich sollte stets Einstimmigkeit das Ergebnis tragen. Dort, wo sie förmlich und öffentlich erwartet wird, gibt es eben Püffe mit dem Ellbogen, bis es soweit ist.

Majoritätsfiktion kommt über die Alpen

Das uns etwas geläufigere Majoritätsprinzip kam, wie so vieles, im Gepäck katholischer Geistlicher mit juristischer Ausbildung über die Alpen. Die Universität von Bologna entwickelte sich zum Zentrum europäischer Rechtsgelehrsamkeit. Seit dem 11. Jahrhundert wurde in Italien das antike römische Recht akademisch reaktiviert. Darin als juristische Fiktion enthalten: Der Mehrheitswille ist mit dem Gesamtwillen gleichzusetzen.

Darin muss man nicht unbedingt etwas wesentlich anderes sehen als im germanischen Getöse, der Einstimmigkeit vermittels Überschreien, also Verstummen der Minderheit. Freilich war in Italien das Amt des Stellvertreters Jesu auf Erden zu vergeben. Ein kleines bisschen gesitteter sollte es also schon zugehen, bei der Papstwahl. Kardinäle lassen sich zudem leichter zählen als eine germanische Stammesversammlung. Mit dem gebildeten römischen Rechtssatz der Fiktion des Mehrheits- als Gesamtwillen kommt das mathematische Bewusstsein für die Abstimmung ins Spiel.

So führten die kanonistischen Rechtsgelehrten für die Wahl des Papstes jene qualifizierte Mehrheit ein, die wir heute im Grundgesetz allenthalben antreffen: zwei Drittel der Stimmen sind erforderlich. Im lateinischen Ausdruck "numerus duplo maior" klingt dabei noch ein wenig Zahlenmagie an: statt kalter Bruchzahl eine "Verdopplung" der einfachen Mehrheit.

Wo kleine Zahlen von Stimmberechtigten anzutreffen sind, lässt sich das Mehrheitsprinzip in qualifizierter oder einfacher Form durchsetzen. Auch für die Wahl der deutschen Könige durch die sieben Kurfürsten wurde die Zweidrittelmehrheit vorausgesetzt. Die germanische Folgepflicht der Minderheit verlor sich dabei aber nur allmählich, gerade in Abstimmungsprozessen minderer politischer Güte.

Die kirchlichen Rechtsgelehrten blieben dabei allerdings nicht stehen: "Der spirituelle Charakter des Kirchenrechts konnte sich mit der nackten Arithmetik nicht abfinden; die Kirche war seit Jahrhunderten gewohnt, die Stimmen zu wägen, nicht zu zählen." Der "pars maior" wurde daher die "pars sanior" entgegengestellt, bei strittigen kirchlichen Wahlen war daher "nicht die Zahl, sondern die moralische Beschaffenheit der Stimmen" ausschlaggebend. Diese Regel wurde über die Klöster verbreitet, die bis in die Neuzeit hinein zentrale intellektuelle und ökonomische Einrichtungen der europäischen Kultur waren.

Ein Volk ist kein Nonnen-Konvent

Ungeachtet der rund eintausend Jahre, in denen das Majoritätsprinzip halbwegs heutigen Zuschnitts in der europäischen Geistesgeschichte präsent ist, werden im Streitfall seine Voraussetzungen doch wieder in Frage gestellt. Das Murren nach der Brexit-Abstimmung enthält Zweifel an der moralischen Integrität solch britischer Häuptlinge wie Alexander Boris de Pfeffel Johnson oder der Zurechnungsfähigkeit seiner Gefolgschaft. Freilich ist das britische Volk kein Nonnen-Konvent. Es gibt keine moralisch höhere Instanz, die eine Minderheit als "pars sanior" als höherwertig und daher ausschlaggebend würdigen könnte.

Warum aus Misstrauen gegen den Parlamentarismus ausgerechnet Plebiszite so populär geworden sind, ist schwer nachzuvollziehen. Natürlich schmeicheln sie dem Narzissmus der Stimmberechtigten, zur Qualität des Ergebnisses tragen sie, angesichts ihrer fragwürdigen Informationsbasis, aber kaum bei.

Es ist schwer verständlich, warum der repräsentativen Demokratie qua Wahl nicht Elemente einer repräsentativen Demokratie qua Auslosung beigesellt werden. Eine parlamentarische Kammer beispielsweise, der auf Zeit ausgeloste Abgeordnete aus allen Kreisen und Schichten der Bevölkerung angehören, könnte die narzisstische Jedermannskompetenz der Plebiszite einfangen und zudem mit der Intelligenz des Repräsentationsprinzips verbinden. Den am Problem vorbeigehenden Streit um den Wert des Mehrheitsprinzips könnte man sich dann ersparen.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs bei Solingen.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Das Majoritätsprinzip: Zankapfel seit eh und je: Gemurrt haben schon die alten Germanen . In: Legal Tribune Online, 03.07.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19869/ (abgerufen am: 28.04.2024 )

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