Feuilleton: "I see there has been a famine in the land"

von Martin Rath

06.11.2016

2/2: Tröstet der BGH die Hungernden?

Wenig Trost finden wir in der Urteilspraxis des Bundesgerichtshofs, wenn es um hungernde Menschen geht.

Der 2. Strafsenat, unter Vorsitz des Senatspräsidenten Dr. Dagobert Moericke (1885–1961) – die "Wikipedia" schreibt ihm in unerschütterlicher lexikographischer Neutralität ein "berüchtigtes" antikommunistisches Verdikt zu – befand etwa mit Urteil vom 4. November 1952 (Az. 2 StR 449/52) über Vorsatzfragen in einem Fall des Hungertodes.

Die Stiefpflegemutter des zehnjährigen Horst aus dem Sprengel des Landgerichts Köln hatte den Jungen nach tatgerichtlichen Feststellungen zunächst aushungern lassen, er starb 1951 nach Verabreichung eines "barbituratsäurehaltigen Schlafmittels".

Dem 2. Strafsenat gefiel es, immerhin, das Schwurgericht dafür zu tadeln, nur wegen Körperverletzung mit Todesfolge in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung verurteilt zu haben, und gab die Sache zur Prüfung der "inneren Tatsache" zurück – ein bedingter Tötungsvorsatz sei doch möglich.

Ein für das Verhältnis von "hate speech" und "love speech" höchst interessantes Urteil fand der 5. BGH-Strafsenat am 10. Januar 1956 (Az. 5 StR 261/55).

Vorweg: Wir wissen heute, dass der NS-Staat tiefe Verheerungen, auch und gerade am deutschen Sprachgut hinterließ. Heinrich Himmler (1900–1945) hatte beispielsweise in seiner berüchtigten Posener Rede von 1944 das Wort "Anstand" dahingehend missbraucht, dass er die Gefühlskälte seines mordenden Personals zum Beleg für ebendiesen "Anstand" erklärte. Für Freunde des moralischen Sprechakts mag das heute fast eine seiner schlimmeren Taten gewesen sein.

Kinder, die nicht kauen, erfahren Liebe nach BGH-Art

Viel besser der BGH, schon 1956: Die im Oktober 1943 geborene Ute war "ein schwer erziehbares Kind. Sie nahm es mit der Wahrheit nicht genau. Außerdem aß sie schlecht", hält das Urteil fest: "Sie hatte insbesondere die Angewohnheit angenommen, Brot das sie essen sollte, zerkaut im Mund zu behalten."

Statt nun der Empfehlung eines Arztes zu folgen, ihr Kind einfach so lange hungern zu lassen, bis es von selbst esse, ging die Mutter wie folgt vor: "Die sogenannte Löffelmethode bestand darin, daß die Angeklagte dem Kind, nachdem sie es auf einem Stuhl hatte Platz nehmen lassen, die Nase zuhielt, beim Öffnen der Lippen infolge Luftmangels mit dem Stielende eines hölzernen Kochlöffels gegen die noch zusammengepreßten Zähne klopfte, nach dem Öffnen der Zahnreihen den Löffelstiel zwischen diese zwängte und mit ihm bei etwaigem erneuten Zusammenpressen der Zähne Hebelbewegungen ausführte, bis sie das Brot mit dem Löffelstiel an das Zäpfchen schieben konnte, so daß Ute zum Schlucken gezwungen wurde."

Der 5. Strafsenat hob das Urteil des Landgerichts Hamburg wegen Kindesmisshandlung auf, weil es das Züchtigungsrecht der Mutter falsch bewertet habe. Die Hamburger hatten der Angeklagten vorgehalten, die Löffelmethode nicht mit Anstand, also mit hinreichend gemütsruhiger Hand, ausgeführt zu haben. Dazu der BGH: "Erregung, Wut, Rücksicht auf höhnische, kritische Äußerungen anderer und mangelnde Selbstbeherrschung schließen ein Handeln zu Erziehungszwecken nicht aus, Züchtigungen in Erregung und Wut sind sogar oft von größerer erzieherischer Wirkung als solche, die mit kalter Sachlichkeit vorgenommen werden. Außerdem kann hinter Erregung und Wut sehr wohl durch Liebe begründete Sorge um das Wohl des Kindes stehen, die dieses trotz aller Erregung und Wut des Züchtigenden durchaus spürt."

Dies für die Angeklagte freundliche Verdikt kam unter Bundesrichter Professor Dr. Werner Sarstedt (1909–1985) zustande, der als Weltkriegsteilnehmer und Kriegsgefangener in Italien gewiss am eigenen Leib erfahren hatte, was Nahrungsmangel bedeutet. Wut und Liebe in der Misshandlung eines Kindes konnten aus dieser Kenntnis heraus wohl "anständiger" erscheinen als die kühle Professionalität eines Arztes, der empfohlen hatte, einfach auf den Hunger des Kindes zu warten.

Wer im Glashaus sitzt, erhält Brot statt Steine

Über die zahlreichen Fälle der Kindstötung und -misshandlung, begangen durch Aushungern, über die der BGH seit jenen Jahren nachzurichten hatte, diese grässlichen Geschichten, in denen es fast ausschließlich um seelisch verkrüppelte Menschen geht, soll hier der Mantel des Schweigens gebreitet bleiben.

Da wir uns hier in einem assoziativen Feuilletonbeitrag befinden, liebe Leserin, geschätzter Leser, können Sie sich entscheiden, ob Sie als Fazit ein "Schuster, bleib bei deinen Leisten" ziehen wollen oder doch lieber: "Wer sein Glashaus nicht liebt, mag Steine werfen, aber doch eher Brot finden (unter dem Aktenzeichen 5 StR 261/55)."

Zum Schluss daher nur eine von Bundesrichter Thomas Fischer inspirierte Pointe. Er berichtet davon, dass ihm mitunter danach zumute sei, Rednerinnen und Rednern von allzu frommer und/oder selbstverliebter Denkungsart die lamettahaltige Stimmung zu verderben, indem er ihnen vorrechne, wie viele Menschen auf der Welt in der Zeit ihres Vortrags verhungert seien.

Wir rechnen uns das seit circa 1984 immer einmal wieder vor, allerdings eher als Übung zum Erwerb von Demut in eigener Sache. Den vorliegenden Text haben Sie in vielleicht 12 Minuten gelesen, Fischer'scher Bodycount: 200 Seelen unter zwölf Jahren.

Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs. Das grauenhafte "Wir" im Text soll nicht darüber in die Irre führen, dass es sich um Auffassungen des Autors handelt.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Feuilleton: "I see there has been a famine in the land" . In: Legal Tribune Online, 06.11.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21064/ (abgerufen am: 27.04.2024 )

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