Buchrezension "Die letzte Kolonie": Eine "Geschichte fort­ge­setzter Unge­rech­tig­keit"

Gastbeitrag von Katharina Leusch

17.06.2023

1968 wurde Mauritius unabhängig, aber den Chagos-Archipel hielten die Briten zurück und vertrieben die Bewohner. Philippe Sands erzählt die Geschichte – und verknüpft Politik, Völkerrecht und persönliche Schicksale, so Katharina Leusch.

"Das ist eine wahre Geschichte" – so beginnt Philippe Sands, der in London Völkerrecht lehrt und regelmäßig als Jurist vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) auftritt, sein jüngst erschienenes Buch "Die letzte Kolonie". Es ist jedoch nicht nur eine Geschichte, die Sands hier erzählt, sondern eine "Reihe miteinander verwobener Geschichten", wie er es ausdrückt. Der Autor verwebt vier Erzählstränge zu einer großen Geschichte, die durch ein verbindendes Element zusammengehalten wird: das Schicksal des im Indischen Ozean gelegenen Archipels Chagos.

Sands nimmt die Leser:innen mit auf eine Reise in die Welt des Völkerrechts, an den IGH sowie in das imperiale Denken des British Empire, das in den 1960er-Jahren eine gesamte Inselgruppe zum Spielball internationaler Politik machte. Eine persönliche Ebene zieht Sands durch die Erzählung der Lebensgeschichte Liseby Elysés ein; einer Chagossianerin, deren Leben sich durch die britische Entscheidung, Chagos zu räumen, dramatisch verändern sollte. Dabei stellt Sands so profund wie erschreckend die Bemühungen der verschiedenen britischen Regierungen dar, sich mit aller Macht den dekolonistischen Bemühungen der jeweiligen Zeitläufte zu widersetzen.

Im Jahr 1973 begannen die Briten, den Archipel Chagos zu räumen und siedelten die Bewohner:innen gegen ihren Willen um. Die britische Kolonie im Indischen Ozean war fortan anderen – politischen und militärischen – Zwecken zu dienen bestimmt. Das letzte Schiff verließ die Insel Peros Banhos am 27. April 1973.

Das britische Völkerrechtsverständnis und der Widerstand gegen die Dekolonisierung

Die Aneignung Chagos vollzog sich in einer Zeit, in der die Dekolonisierung einen Aufwind erfuhr und mit den Befreiungsbewegungen in Asien und Afrika in die Zeit passte. 

Am 14. Dezember 1960 verabschiedete die UN-Generalversammlung mit der Resolution 1514 eine kurze, aber für das Völkerrecht wichtige Resolution. Im Kern ging es der Erklärung um das Selbstbestimmungsrecht der Völker, denn "[d]ie Unterwerfung von Völkern unter fremde Unterjochung, Herrschaft und Ausbeutung stellt eine Verweigerung grundlegender Menschenrechte dar".

Die Briten enthielten sich bei der Abstimmung in der UN-Generalversammlung, denn von Dekolonisierung waren sie weit entfernt. So zitiert Sands einen britischen UN-Delegierten, der die Dekolonisierungsdebatte mit dem "Groll der dunkleren Völker gegen die frühere Beherrschung der Welt durch europäische Nationen" abtat. 

"Richter brauchen eine Lanze für die Kolonialherrschaft"

Das britische Unbehagen gegen das Ende des Kolonialismus zeigte sich ebenso in ihrem Wirken am IGH. Die nach Ansicht Sands für das Ansehen des IGH fatale Entscheidung zu Südwestafrika im Jahr 1966, an dem maßgeblich zwei Richter aus dem Commonwealth beteiligt waren, habe das Gericht für zwei Jahrzehnte in einen "Abgrund der Schande" gestürzt. Das Sondervotum von Percy Spender und Gerald Fitzmaurice habe gezeigt, "wie Richter eine Lanze für die Kolonialherrschaft brachen, indem sie Apartheid und Diskriminierung unangetastet ließen". 

Liberia und Äthiopien verklagten im November 1960 Südafrika vor dem IGH. Sie wandten sich gegen die Apartheidspolitik der Südafrikaner im ehemaligen Mandatsgebiet Südwestafrika und begehrten die Feststellung, dass diese Politik gegen die südafrikanischen Mandatsverpflichtungen verstößt. 1962 wies der Gerichtshof die südafrikanische Anfechtung mit acht zu sieben Stimmen zurück. 

Spender und Fitzmaurice argumentierten in ihrem Sondervotum, dass diese Entscheidung ein rein politischer Akt gewesen und der IGH "humanitären Instinkten" gefolgt sei. Die abschließende Entscheidung in der Sache fiel erst 1966. Es kam zu einem Patt, sodass die Stimme des Präsidenten Percy den Ausschlag gab. Er verwarf die Ansprüche Liberias und Äthiopiens. Die beiden Staaten hätten nicht das Recht, "rassistische und diskriminierende Maßnahmen des weißen Südafrikas gegen die Schwarzen Bewohner seiner Kolonie anzufechten".

Der Chagos-Archipel durfte nicht unabhängig werden

Sands erzählt in seinem Buch die Geschichte der Inselgruppe Chagos. Eine "Geschichte fortgesetzter Ungerechtigkeit", die einem breiteren Publikum bislang unbekannt gewesen sei, wie er zu Beginn mitteilt. 

Foto: S. Fischer Verlag

Chagos liegt inmitten des Indischen Ozeans zwischen den Malediven und Mauritius. Den Archipel und London trennen 8.706 km. Seit 1903 war die Inselgruppe ein administrativer Teil von Mauritius. Die britische Kolonialherrschaft über Mauritius endete am 12. März 1968 nach zähen Verhandlungen mit der Entlassung in die Unabhängigkeit. Davon ausgenommen war der Chagos-Archipel, denn die Inselgruppe spielte für London und Washington eine zu bedeutende Rolle. 

Noch während der Unabhängigkeitsberatungen wurde im Frühjahr 1963 auf britischer und US-amerikanischer Seite ganz klandestin der Plan geschmiedet, den Chagos-Archipel zurückzuhalten. Für die USA war die Inselgruppe aufgrund der geografischen Lage von Interesse. Der Kalte Krieg tobte und man brauchte einen strategischen Militärstützpunkt im Indischen Ozean. Die Wahl fiel auf die Insel Diego Garcia. 

Keine Rechtsgrundlage für "Umsiedlung" der Chagossianer

Im Jahr 1964 traten die Amerikaner mit der Bitte an die Briten heran, "eine Räumung der Insel Diego Garcia durch Umsiedlung der Bewohner zu prüfen". Eine Rechtsgrundlage für die Abtrennung der Inselgruppe von Mauritius existierte nicht und obschon sich die Briten dieses Umstandes bewusst waren, boten sie an, "›auf Kosten der Regierung Ihrer Majestät‹ das Notwendige zu veranlassen". 

Die Verhandlungsgruppe entwickelte einen Plan: Die Mauritier sollten der Abtrennung zustimmen. Mit einer Verpachtung des Archipels zeigte sich der mauritische Premierminister nach langen Überlegungen einverstanden, eine Abtrennung lehnte er jedoch ab. Nun setzten die Briten auf eine neue Strategie: "Das Ziel ist, ihm mit Hoffnung Angst einzujagen: Hoffnung, dass er die Unabhängigkeit bekommen könnte; Angst, dass nicht, sollte er sich unempfänglich zeigen für die Abtrennung des Chagos-Archipels." 

Eingekleidet wurde diese implizite Drohung in ein Bündel von Rechten – Fischereirechte, Handelskonzessionen – und eine Entschädigungszahlung in Höhe von drei Millionen britische Pfund. Die Mauritier stimmten zu; damit war die Gründung einer neuen britischen Kolonie im Indischen Ozean besiegelt. 

Vertreibung ins Exil

Die Abtrennung bedeutete für alle Bewohner:innen Chagos die Zwangsumsiedlung und damit die Vertreibung ins Exil – vornehmlich auf die Seychellen oder nach Mauritius.  

Sands schildert die menschlichen Schicksale, die hinter dieser Entscheidung standen, exemplarisch an der Geschichte Liseby Elysés, die 1953 auf Peros Banhos geboren wurde. Sie war gerade einmal 20 Jahre alt, als sie aus ihrer Heimat vertrieben wurde. Über den Schock und die Trauer verlor sie nach der Ankunft im Exil ihr ungeborenes Kind. 

Durch die persönlichen Erzählungen gelingt es Sands, den Sachverhalt aus einem rein rechtlichen Kontext herauszulösen und den frappanten britischen Völkerrechtsbruch mit den dahinterstehenden menschlichen Schicksalen zu verknüpfen. Das Buch zieht zudem Früchte aus dem Umstand, dass Sands als Rechtsberater an dem Fall beteiligt war. Er vertrat die Interessen des Staates Mauritius vor dem IGH und bringt so eine Innenperspektive ein, die einen interessanten Einblick in die Vorbereitungen eines IGH-Verfahrens zulässt.

Langer juristischer Kampf um Rückkehr

Seit Jahrzehnten kämpfen die Chagossianer:innen juristisch für ihre Rückkehr. Im Jahr 2000 urteilte ein Londoner Gericht, dass die Zwangsumsiedlungen des Jahres 1965 rechtswidrig erfolgten und sprach den Chagossianer:innen ein Rückkehrrecht zu. Die britische Regierung ließ sich durch dieses Urteil jedoch nicht von ihrem Kurs abbringen und legte Berufung ein. 

Im Rahmen der völkergerichtlichen Auseinandersetzungen zog man zunächst vor den Internationalen Seegerichtshof (ISGH), um gegen die britische Einrichtung der Marine Protected Area (MPA) rund um Chagos vorzugehen. Offiziell forcierten die Briten mit der MPA u.a. den Schutz der marinen Biodiversität vor dem Archipel. Inoffiziell sollte die Rückkehr der Chagossianer:innen verhindert werden, wie eine durch WikiLeaks-Enthüllungen zu Tage beförderte amerikanische Depesche aus dem Jahr 2009 beweist. Der ISGH entschied im März 2015, dass die MPA widerrechtlich ausgewiesen wurde; über die Souveränitätsfrage erfolgte hingegen keine Entscheidung. 

Ferner sollte sich der IGH mit der Diskriminierung der Chagossianer:innen durch die britische Umsiedlung befassen. Der Weg nach Den Haag führte unweigerlich über New York. Die UN-Generalversammlung stimmte mehrheitlich für die Resolution 71/292 und damit dafür, den IGH um ein Rechtsgutachten zur Rechtmäßigkeit der Dekolonisierung zu ersuchen. Der IGH kam darin im Jahr 2019 zu dem Schluss, dass der britische Souveränitätsanspruch über Chagos mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker unvereinbar (wrongful act) war und forderte die britische Regierung auf, die Inselgruppe schnellstens an Mauritius zu übergeben. Erst im November 2022 kündigte diese an, Verhandlungen mit Mauritius aufzunehmen.

Weltpolitik, Völkerrecht und das Schicksal der Chagossianer

"Die letzte Kolonie" ist nach "Rückkehr nach Lemberg" das zweite Buch von Philippe Sands, das Weltpolitik, Völkerrecht und persönliche Erfahrungen in kurzweiliger Weise zusammenführt. Indem er die Geschichte des Chagos-Archipels erzählt, gibt er allen Chagossianer:innen eine Stimme und einen Platz in der Geschichte des britischen Kolonialismus.

Mit "Das Herz der Finsternis" legte Joseph Conrad im Jahr 1902 eine Erzählung vor, die zu einer Fundamentalkritik des europäischen Kolonialismus ansetzte und mittlerweile als weltliterarisches Standardwerk gelesen wird. Das jüngste Buch von Sands hat ebenfalls das Potential, ein Standardwerk zu werden.

Philippe Sands, Die letzte Kolonie – Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Indischen Ozean. Übersetzt von Thomas Bertram. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2023, 320 S., 25,00 EUR.

Katharina Leusch ist Doktorandin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Juristische Sachbearbeiterin am Bundesministerium für Bildung und Forschung. Der Beitrag gibt allein ihre persönliche Meinung wieder und nicht die des Ministeriums.

Zitiervorschlag

Buchrezension "Die letzte Kolonie": Eine "Geschichte fortgesetzter Ungerechtigkeit" . In: Legal Tribune Online, 17.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52012/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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