Geschichte des Beleidigungsrechts: Vom Mittelfinger

von Martin Rath

29.03.2015

Mittelfinger im positiven Recht der USA

George W. Bush fasste im Jahr 2005 den heutigen Stellenwert des Digitus Impudicus für die US-amerikanische Kultur zusammen, es handle sich um einen "one-fingered victory salute", den einfingrigen Siegergruß.

Nun ist George W. Bush jener US-Präsident, dessen Aufmerksamkeitsspanne nicht zu bemerken ausreichte, dass gewisse Elemente der nordkoreanischen Justizkultur in das Repertoire der US-Geheimdienste importiert worden waren, weshalb nicht nur seine Erwähnung im Zusammenhang mit Staatsmännern wie Caligula, Varoufakis oder Steinbrück problematisch ist.

Auch die einheimische US-Justiz, namentlich der sonst von seiner republikanischen Partei so heißgeliebten Lokal- und Staatsbehörden, folgt Bushs Digitus-Diktum nicht. Insbesondere auf Staatsebene kennen Polizei- und Gerichtsbehörden nicht unbedingt Gnade für jene, die sich des "one-fingered victory salutes" bedienen. Ira P. Robbins nennt beispielsweise den Fall eines Robert Lee Coggin, dem die Geste – einem anderen Verkehrsteilnehmer auf einer Autobahn gezeigt – zunächst ein Bußgeld über 250 US-Dollar sowie Prozesskosten über 15.000 US-Dollar eintrugen. Vom Bußgeld befreite ihn das Appellationsgericht von Texas zwar, hielt aber die Möglichkeit offen, dass der Digitus Impudicus nach dem Recht des Bundesstaats als Ausdruck von öffentlichem Fehlverhalten abgestraft werden könnte.

Robbins stellt fest, dass in den USA Menschen, "die den Mittelfinger zeigen, Gefahr laufen, inhaftiert, angeklagt, mit Bußgeldern belegt, möglicherweise in Strafhaft genommen zu werden, ungeachtet der Tatsache, dass die Geste oft dazu diene, gewaltfrei Stress abzubauen oder Frustration auszudrücken".

Einerseits, andererseits, es kommt darauf an

Die US-Justiz nimmt zur Mittelfinger-Geste eine solide juristische Einerseits-andererseits-Haltung ein: Es sei kaum vorzustellen, dass sie nicht grundsätzlich in den Schutzbereich der Redefreiheit nach dem ersten Zusatzartikel zur US-Verfassung falle, die auch nonverbale Kommunikation, vom Flaggenverbrennen bis zur "facepalm" umfasse, meint Robbins, einerseits. Andererseits schuf der U.S. Supreme Court eine Kategorie verfassungsrechtlich ungeschützter Rede: "fighting words", zu Deutsch etwa "Kraftausdrücke, die Verletzungen zufügen oder unmittelbar zum Friedensbruch anstiften" (Fall Chaplinsky v. New Hampshire, 1942).

Dazu, ob der "one-fingered victory salute" als "fighting word" vom verfassungsrechtlichen Schutz der Meinungsfreiheit ausgenommen ist, nehmen die lokalen und Staatsbehörden in den USA eine weitere juristische Grundsatzhaltung ein: Es kommt darauf an. Einige Gerichte sehen den Digitus Impudicus in Verbindung mit dem "F"-Wort und einer aggressiven Haltung als strafwürdigen Kraftausdruck, andere nicht. Generell verurteilen untere Gerichtsbarkeiten eher, während in den Instanzen gern mit Blick auf die Verfassung aufgehoben wird.

Zur Diskussion, mit einer ähnlichen Verurteilungs-Aufhebungstendenz, steht auch der sexuelle Aspekt der Mittelfingergeste. Am verbalen Kraftausdruck "Fuck the Draft" (im älteren Juristendeutsch etwa: "Vollziehe die geschlechtliche Beiwohnung am Gesetzentwurf") fehlte dem obersten US-Gericht bereits im Jahr 1971 jedenfalls in der politischen Diskussion um Gesetzentwürfe jene erotische Komponente, der ihn als obszön und mithin strafwürdig gebrandmarkt hätte. Solange der Digitus Impudicus nicht als sexuelle Kraftmeierei zu verstehen ist, wird dieser Befund nach Robbins auch auf diesen nonverbalen Ausdruck zu übertragen sein.

Einem kalifornischen Richter, der 1975 den Mittelfinger reckte, weil eine Prozesspartei verspätet vortrug, nützte eine nur langsam einziehende Digitus-Liberalität nichts: Er wurde aus dem Amt entfernt.

Caligula und das Bundesverfassungsgericht

Ob Kaiser Caligula es wirklich unfreundlich mit seinen Besuchern meinte, wenn er sie den Mittelfinger küssen ließ, kann man im Abstand von 2000 Jahren kaum wissen. Der Imperator fühlte sich offenbar nur von seinem Pferd verstanden. Römische Historiker gingen mit ihren Herrschern um, wie heute die "Bild"-Zeitung mit Politikern: entweder, sie wurden verherrlicht oder sie wurden verdammt. Ambivalenzen sind bei Gesten noch größer als bei Worten: Der Zoologe Desmond Morris zeigt in seinem "Bodytalk"-Buch, wie leicht ihre Bedeutung wechseln kann. Die "V"-Geste gilt beispielsweise, je nachdem wie herum die Hand gehalten wird, als Beleidigung oder als Siegeszeichen.

Es bestünde also viel Anlass, sich über den tatsächlichen und normativen Charakter der Beleidigung Gedanken zu machen, um vielleicht zu klaren gesetzlichen Maßstäben zu kommen. Glücklicherweise sind wir in Deutschland, anders als die US-Bürger, mit einer Justiz ausgestattet, die sich keine schlafraubenden Gedanken über den Status von "fighting words" machen muss.

Zum dürren § 185 des Strafgesetzbuches (StGB), der bekanntlich nichts weiter besagt, als dass "die Beleidigung" bestraft wird, heißt es im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Oktober 1995 (Az. 1 BvR 1476, 1980/91 u.a.): "Zwar unterscheidet er sich von den übrigen Vorschriften des Strafgesetzbuchs dadurch, daß er den Straftatbestand lediglich mit dem Begriff der Beleidigung benennt, aber nicht näher definiert. Auch wenn das für eine unter der Geltung des Grundgesetzes erlassene Strafvorschrift als unzureichend anzusehen sein sollte, hat der Begriff der Beleidigung jedenfalls durch die über hundertjährige und im wesentlichen einhellige Rechtsprechung einen hinreichend klaren Inhalt erlangt, der den Gerichten ausreichende Vorgaben für die Anwendung an die Hand gibt und den Normadressaten deutlich macht, wann sie mit einer Bestrafung wegen Beleidigung zu rechnen haben […]."

Damit können wir nun sogar klären, was der Mittelfinger von Finanzminister Varoufakis, sollte er ihn wirklich gereckt haben, von Rechts wegen sagen sollte: Er war solange nicht als Beleidigung gemeint, wie nicht ein deutsches Amtsgericht mit Blick in "die über hundertjährige und im wesentlichen einhellige Rechtsprechung" zu einer gegenteiligen Auffassung gelangt. Für alle, die nicht die Ehre haben, als Richter in Beleidigungssachen zu urteilen, liegt der Affekt hingegen wohl einfach nur im Auge des Betrachters.

Literatur: Ira P. Robbins: "Digitus Impudicus. The Middle Finger and the Law". University of California Davis Law Review, 2008, Bd. 41, S. 1403-1485. Desmond Morris: "Body Talk. Körpersprache, Gesten und Gebärden" München 1995.

Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Geschichte des Beleidigungsrechts: Vom Mittelfinger . In: Legal Tribune Online, 29.03.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15087/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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