Tariq Shinwari
"Ich bin dreimal knapp dem Tod entkommen"
LTO: Herr Shinwari, Sie haben Ihr Jurastudium in Potsdam mit einem zweistelligen Prädikat abgeschlossen. Wie war der Moment, als Sie Ihre Note gesehen haben?
Tariq Shinwari: Tatsächlich hat es etwas länger gedauert, bis ich meine richtige Note gesehen habe: Als ich in die Notenliste geschaut habe, war ich so aufgeregt, dass ich in der Zeile verrutscht bin – da standen 2,9 Punkte und ich wäre fast in Ohnmacht gefallen. Ich war geschockt, musste mich kurz sammeln und habe dann zum Glück noch einen zweiten Blick in die Liste geworfen. In der richtigen Zeile stand ein zweistelliges Prädikat. Das war wie eine Fahrt durch die Hölle, aber mit einem guten Ende.
Als ich dann realisiert habe, dass ich es geschafft habe, war ich sehr erleichtert und stolz. Für mich ist Deutschland ein Land, in dem die Leistung honoriert wird – egal wo man herkommt oder wer man ist.
"Ich bin dankbar, dass ich hier bin und lebe"
Um aus Afghanistan wegzukommen, haben Sie 2016 eine dreimonatige, lebensgefährliche Flucht auf sich genommen. Was können Sie uns davon erzählen?
Ich kann nur so viel sagen, dass ich sehr dankbar dafür bin, dass ich jetzt hier bin und lebe. Ich bin von Kabul aus über mehrere Länder, zum großen Teil zu Fuß, nach Deutschland gekommen. Es war Winter und wir sind regelmäßig nachts gegangen. Gerade das Zagros-Gebirge im Iran ist an den höchsten Gipfeln über 4.000 Meter hoch, da bei Minusgraden durchzuwandern, ist sehr gefährlich. Man hat permanent Angst – ich entkam drei Mal knapp dem Tod. Wenn man solche Grenzerfahrungen macht, weiß man, worum es im Leben wirklich geht.
Sie sind erstmal allein nach Deutschland gekommen. Lebt Ihre Familie inzwischen auch hier?
Ja, seit zweieinhalb Jahren. Ich habe während des Studiums darum gekämpft, dass meine Mutter und Schwestern dem frauenverachtenden Regime der Taliban entfliehen können – eine Herkulesaufgabe. Als sie endlich hier waren, war das einer der glücklichsten Momente meines Lebens.
Erinnern Sie sich an Ihre Ankunft in Deutschland?
Sehr genau. Ich kam mitten in der Nacht an der deutsch-österreichischen Grenze an. Die Polizei brachte mich auf ein Revier, dort bekam ich Kleidung und etwas zu essen – den hellblauen Pullover behielt ich jahrelang als Erinnerung an Menschlichkeit. Ich habe dann auch etwas zu essen bekommen. Am nächsten Tag wurde ich dann in eine Flüchtlingsunterkunft für Minderjährige in Passau gebracht.
"Mein Ziehvater gab mir früh 'Buddenbrooks' zum Lesen"
Sie haben noch an diesem Tag angefangen, Deutsch zu lernen.
Ja. Ich wollte dazugehören, und für mich war klar: Das geht nur über Sprache und Bildung. Ich habe meine Betreuer in der Unterkunft gebeten, kein Englisch mehr mit mir zu sprechen. Ich wollte, dass sie mir deutsche Sätze ins Handy eintippen und ich sie mir selbst übersetze. Ich habe ihnen dann süffisant gesagt, dass wir in Deutschland leben und hier Deutsch gesprochen wird. Da mussten sie natürlich lachen. Ich habe mir auch viel selbst beigebracht, vor allem über YouTube.
Außerdem hatte ich einen Vormund, der für mich zu einer Art Ziehvater wurde. Er gab mir früh deutsche Bücher – zum Beispiel Buddenbrooks. Anfangs habe ich kaum etwas verstanden, aber ich blieb dran. Mittlerweile habe ich den Roman schon zweimal gelesen und lese ihn gerade ein drittes Mal. Für mich zeigt er die Schönheit der sonst so sehr auf Logik bedachten deutschen Sprache.
"In meiner Klasse war ich fast der einzige Ausländer"
Sie kamen dann auf ein Gymnasium in Potsdam. Wie war die Schulzeit für Sie?
Anfänglich war es schwierig. Ich war fast der einzige Ausländer in meiner Klasse und fiel auf. Es gab Vorbehalte, aber ich habe gelernt, damit umzugehen. Ich wusste, dass Bildung mein Schlüssel ist. Von Anfang an hatte ich das Ziel, zu studieren – und darauf habe ich hingearbeitet. Mein Abitur habe ich schließlich mit einem Schnitt von 1,9 abgeschlossen.
Danach haben Sie in Potsdam studiert. Warum Jura?
Früher hätte ich nie gedacht, dass ich einmal Jura studieren würde. Aber seit ich in Deutschland bin, wollte ich die Grundstrukturen der Gesellschaft und der Wirtschaft verstehen – und das Land, das mich aufgenommen hatte. Was bedeutet Rechtsstaat, was macht eine Demokratie aus? All diese Fragen haben mich sehr interessiert, Jura bietet sich dafür an.
"Wenn man Ziele hat, kann man alles schaffen"
Sie haben die Note erreicht, von der die meisten Jurastudierenden nur träumen: ein zweistelliges Prädikatsexamen. Wie haben Sie das geschafft?
Ich glaube, man muss es einfach wollen. Allgemein sollte man im Leben Ziele und Visionen haben. Wenn man die hat, kann man alles schaffen. Ich wollte nicht einfach Jura studieren, sondern ein gutes Examen machen. Das Jurastudium ist sehr hart, aber hat mich gleichzeitig auch motiviert, es gut zu schaffen. In der Examensvorbereitung habe ich viel allein gelernt, aber auch ein Repetitorium besucht und mich viel mit meinem guten Freund Jannis ausgetauscht. Und ich habe viele Klausuren gelöst. Ich habe nicht alle Lösungen ausformuliert, aber zumindest Lösungsskizzen gemacht, das hilft auch schon sehr.
Seit kurzem sind Sie Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Hengeler Mueller. In welchem Bereich sind Sie tätig und was reizt Sie an der Arbeit dort?
Ich bin im Bereich Gesellschaftsrecht und M&A tätig. Es ist spannend, weil man dort die wirtschaftliche Realität hinter juristischen Strukturen versteht. Ich lerne viel Neues – das Studium vermittelt ja eher Grundlagen, die Praxis ist noch einmal eine andere Welt. Ich bin für diese Erkenntnisse sehr dankbar.
"Ich möchte mit meinem Beruf etwas zurückgeben"
Haben Sie schon Pläne für Ihre Zukunft?
Im nächsten Frühjahr beginne ich das Referendariat. Danach möchte ich mir verschiedene Bereiche ansehen und herausfinden, wo ich mich einbringen kann. Mir ist wichtig, später einen Beitrag dazu zu leisten, die Grundpfeiler des Rechtsstaats zu stärken. Das Jurastudium hat mir gezeigt, dass Rechtsstaat und Demokratie keine Selbstverständlichkeit sind – vor allem in diesen Zeiten, und als Jurist sehe ich es als meine Verantwortung, diese fundamentalen Werte zu schützen. Gleichzeitig möchte ich mit meinem Job etwas zurückgeben, weil ich sehr dankbar dafür bin, dass Deutschland mich aufgenommen hat und mir eine Zukunft ermöglicht. Wie ich das mache, wird sich dann zeigen.
Sie bauen offensichtlich auf Mut, Ehrgeiz und Disziplin. Möchten Sie anderen Menschen noch etwas sagen?
Glaubt immer an Euch, denn der Glaube versetzt Berge. Aus meiner Sicht hat man ja nur die Wahl zwischen Optimismus und Pessimismus. Und es ist vernünftiger, optimistisch zu sein. Ich habe damals geglaubt, dass ich es schaffen kann, bei eisigen Minusgraden diese hohen Berge zu überqueren. Und ich wünsche jedem, Menschen zu finden, die einem gegenüber wohlgesonnen sind und Türen öffnen. Das ist Glück. Für mich ist das mein deutscher Ziehvater. Er hat mir gezeigt, welche Möglichkeiten ich habe, und mich immer unterstützt, und dafür bin ich sehr dankbar.
Herr Shinwari, vielen Dank für das Gespräch – und weiterhin viel Erfolg!
Auf Jobsuche? Besuche jetzt den Stellenmarkt von LTO Karriere.
Flüchtlinge
Verwandte Themen:- Flüchtlinge
- Jurastudium
- Berufswege
- Karriere
- Instagram-Karriere-News
Teilen