Vor 30 Jahren – modernes Schulrecht in Kinderschuhen: Mörderische Mengenlehre, katholische Ketzer und Versetzungen vor Gericht

von Martin Rath

29.05.2011

Ein Griff in alte Gerichtsentscheidungen zum Schulrecht mag ähnliche Gefühle wecken wie der ins eigene oder Mutters Poesiealbum aus Schulzeiten: Wunderlich, was damals vertraut erschien oder Konflikte auslöste. Zum Beispiel gab die Mengenlehre Anlass zu journalistischer wie juristischer Besorgnis. Fremde Seiten juristischer Schulgeschichten, aufgeblättert von Martin Rath

In Ehren ergraute Staatsrechtslehrer hatten früher eine gute Gelegenheit, in ihrem Hörsaal voll junger Semester ein wenig Feuerzangenbowle-Stimmung zu zaubern. Rechtsfiguren aus dem Zeitalter der Dampfmaschine: Am Gymnasium, so konnten frischgebackene Jura-Studenten überrascht erfahren, seien sie einem ähnlichen Rechtsverhältnis unterworfen gewesen wie Strafgefangene oder Irrenhaus-Insassen. "Besonderes Gewaltverhältnis" nannte sich die Doktrin der Verwaltungsrechtsgelehrten. Gemeint war damit, dass das Leben hinter den geschlossenen Mauern staatlicher Anstalten mit eingeschränkten Grund- und Bürgerrechten einherging – und diese Beschränkungen keiner ordentlichen Begründung durch Gesetz bedurften.

Ein Schüler, der nachsitzen musste oder gar geschlagen wurde, galt dem Rechtsgelehrten der Heinz-Rühmann-Generation ebenso viel oder wenig wie der Zuchthausgefangene, dessen Briefwechsel von der Anstaltsleitung mitgelesen wurde. Als das Bundesverfassungsgericht Anfang der 1970er-Jahre für die Briefkontrolle im Strafvollzug eine gesetzliche Ermächtigung verlangte, ging es mit dem "besonderen Gewaltverhältnis" unweigerlich auch im schulischen Bereich zu Ende.

Auch das "Sitzenbleiben" kommt vor Gericht

Öffentlich umstritten war damals – und ist es in gesellschaftlichen Randgruppen bis heute – etwa die Frage, ob Kinder vor dem sogenannten sexualkundlichen Unterricht bewahrt werden könnten. Geklärt wurde in den 1970er-Jahren, dass die Lehrerschaft dazu gesetzlich ermächtigt sein müsse.

Ob auch das wohl weniger heikle "Sitzenbleiben" unter dem "Vorbehalt des Gesetzes im Schulverhältnis" steht, konnte das Bundesverfassungsgericht 1981 in vergleichsweise kurzen Worten entscheiden (Beschluss vom 20.10.1981, 1 BvR 640/80): Ein Schüler hatte seit 1971/72 ein Gymnasium in Frankfurt am Main besucht. Es stellten sich schulische Misserfolge ein. Das Verfassungsgericht hält fest: "Am Ende des Schuljahres 1978/79 wurde der Beschwerdeführer wegen ungenügender Leistungen in fünf Unterrichtsfächern nicht in die Klasse 11 versetzt und seine Entlassung aus der Schule (wegen dritter Nichtversetzung) zum 1. August 1979 angeordnet."

Hätten die Gerichte wenige Jahre zuvor wohl noch entschlossen die Autorität von Lehrern und Schulverwaltungen vor juristischer Kontrolle in Schutz genommen, waren diese Zeiten des "besonderen Gewaltverhältnisses" nun vorbei. Das Bundesverfassungsgericht nahm die Verfassungsbeschwerde an, hielt sie allerdings im Ergebnis für nicht begründet.

Eine "6" in fünf Unterrichtsfächern sieht nach einem hoffnungslosen Fall aus. Doch gab er den Verfassungsrichtern 1981 Gelegenheit, eine schulrechtliche Dogmatik zu entwickeln. Der Ausschluss vom Gymnasium war, so das Gericht, nach Maßstäben der Berufsfreiheit zu messen, Artikel 12 des Grundgesetzes. Für spätere Fälle, so das Verfassungsgericht, musste der hessische Gesetzgeber eine hinreichend konkrete gesetzliche Grundlage für Fälle von Schulentlassung schaffen.

Ob der parlamentarische Gesetzgeber mögliche Konflikte zwischen Staat und Bürger selbst regeln muss oder ob er der Verwaltung – mehr oder weniger – freie Hand lassen darf, diese Fragen unterwarf das Bundesverfassungsgericht seit den 1970er-Jahren zunehmend der von ihm entwickelten "Wesentlichkeitstheorie". Grob formuliert: Je intensiver die Grundrechte berührt sein könnten und je wesentlicher das Grundrecht, desto detaillierter müsste der parlamentarische Gesetzgeber die Frage selbst behandeln.

Hessische Sorgenkinder und -eltern

In den 30 Jahren, die seit der Verfassungsbeschwerde des Frankfurter Gymnasiasten mit der "6" in fünf Fächern vergangen sind, haben nicht nur der hessische Gesetzgeber und die Schulbürokratie ganze Arbeit geleistet – inzwischen dürfte das gesellschaftliche Biotop "Schule" mit Gesetzen, Verordnungen und Normen schwächeren Rechts so durchreguliert sein, wie es sich der selbstkritischste Jurist der 1970er-Jahre nicht hätte alpträumen lassen.

Eine sehr umstrittene Entscheidung sollte Ende des Jahres 1981 in Hessen selbst fallen: Mit Urteil vom 30. Dezember erklärte der Hessische Staatsgerichtshof weite Teile der – immerhin vom Gesetzgeber, also entsprechend der Wesentlichkeitstheorie geregelten – gymnasialen Oberstufe für verfassungswidrig. Maßstab war die Landesverfassung, aus der der Staatsgerichtshof ein – im Vergleich zum Grundgesetz oder anderen Landesverfassungen – weitergehendes Recht der Eltern ableitete, "in der Schule eine dem Ausbildungsgang entsprechende umfassende Allgemeinbildung ihrer Kinder" zu verlangen.

Was harmlos klingt – Allgemeinbildung ist ja heute das windige Wissen, das von Günter Jauch mit mehr oder weniger viel Geld belohnt wird – führte die hessischen Richter damals zu starken Beschränkungen des Gesetzgebers in schulpolitischen Gestaltungsmöglichkeiten: So galt in den Augen der Richter die Auflösung der Klassengemeinschaft durch das System der Grund- und Leistungskurse als dem Ziel der Allgemeinbildung schädlich. Die Ertüchtigung der Gymnasiasten für das spätere Studium, die sie in der hessischen Verfassung angelegt sahen, galt gleichfalls als bedroht (Urt. v. 30.12.1981, Az. P.St. 880, abgedruckt in der "Neuen Juristischen Wochenschrift" NJW 1982, Seiten 1381-1385). In nahezu epischer Breite kritisierte Lutz Dietze, Professor in Bremen, das hessische Urteil im gleichen Heft der "NJW" (Seiten 1353-1363). Man kann seine Urteilskritik als Zeugnis für die heftig umkämpfte Schulpolitik dieser Jahre lesen. Eine Rückkehr zur gymnasialen Oberstufe wie zu Kaiser Wilhelms Zeiten sollte verhindert werden. Auch bestreitet Dietz, dass das Kurssystem besonders bildungsschädlich sei. Heute, angesichts mitunter absurder Vorgänge im System des Zentralabiturs, haben beide Positionen fast etwas Anrührendes.

Der Staatsgerichtshof hat die hessische gymnasiale Oberstufe übrigens auch missbilligt, weil der Geschichtsunterricht zu kurz komme. Nach 30 Jahren könnte man den Erfolg seines Urteils danach messen: Ob hessische Schüler das inzwischen historische Urteil aus dem Jahr 1981 jemals im Unterricht präsentiert bekamen?

Mengenlehre – gefährlich nur in Frankreich

Vermutlich bleiben sie verschont. Es ist auch nicht damit zu rechnen, dass sie mit viel Herzblut bei der Sache wären. Da ging es in Frankreich seinerzeit schon leidenschaftlicher zu.

Als tödliche Gefahr erwies sich, glaubt man dem "Spiegel", dort eine Reform des Mathematikunterrichts. Aus Verzweiflung über die Einführung der Mengenlehre sollen sich in Frankreich sieben Volksschullehrer das Leben genommen haben. "Einer von ihnen – Yvon Cremades, 35, schoß sich eine Kugel in den Kopf", berichtete das Nachrichtenmagazin (Heft 11/1972, S. 140) und ordnete den Todesfall recht herzlos in die bildungspolitische Diskussion ein: "Motiv: Er konnte die moderne Mathematik nicht kapieren."

Sehr viel nüchterner entschied das Bundesverwaltungsgericht 1980 über die Einführung der Mengenlehre an bayerischen Schulen. Die Eltern eines Grundschülers hatten gegen deren Einübung im Mathematikunterricht einer Grundschule geklagt. Die Bundesrichter wiesen dieses Anliegen mit dem Argument ab, dass neben der "organisatorische(n) Gliederung der Schule" auch die "Bestimmung des Unterrichtsstoffes" der "elterlichen Bestimmung grundsätzlich" entzogen sei. Zugleich beschied das Gericht, dass auch in Bayern der "humanistisch-altsprachliche Zweig des Gymnasiums" keinen verfassungsrechtlichen Schutz genieße.

Anders als von ihr zu erwarten, hat sich die alte Dame Justitia nie sehr für die humanistische Bildung in die Robe geworfen.

Nicht nur Muslime bleiben von Rechts wegen verhüllt

Ob es merkwürdigen Minderheiten erlaubt sein soll, ihre verschrobenen Moralvorstellungen auch im schulischen Bereich gegen die Weisheit der Mehrheitsgesellschaft durchzusetzen, strapaziert rasch die Toleranzbereitschaft der öffentlichen Meinung.

Dann wird über "diese Richter" geschimpft, die "den Muslimen" alles erlaubten. Eine bemerkenswerte Fußnote dazu enthält das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs München vom 6. Mai 1987, das folgende religiöse Vorstellungen zitiert: "Wenn man an den Schulen von den Mädchen solches [das Tragen von Hosen] verlangt, wie z.B. für Leibesübungen, so müssen sie das rundwegs verweigern." Allen Gläubigen sei es "untersagt, Strandbäder, Schwimmbäder und ähnliche Orte zu besuchen, wo unanständige Bekleidung getragen wird" (Aktenzeichen 7 B.86.01557).

Unter Anerkennung dieser religiösen Vorstellungen befreite der Verwaltungsgerichtshof ein Kind vom Schwimm- und Sportunterricht, kein muslimisches Mädchen, sondern Angehörige der "Palmarischen Kirche, einer Glaubensgemeinschaft aus dem katholischen Bereich". Die "palmarische Kirche" ist eine Sekte, die sich von der römisch-katholischen Kirche abgespalten hat, angeblich weil der seinerzeitige Papst von Freimaurern und Kommunisten ferngesteuert war. Die Sekte scheint mit einigen tausend Anhängern, nicht zuletzt in Deutschland bis heute zu bestehen. Interesse dürfte inzwischen weniger ihr Einfluss auf schulrechtliche Fragestellungen finden als die Frage, wie ihre Anhänger durch eine ganz gewöhnliche deutsche Fußgängerzone kommen – ist ihnen doch verboten, "Orte zu besuchen, wo unanständige Bekleidung getragen wird".

Schaler Gesamtgeschmack des Schulrechts

Von solch kuriosen Seiten abgesehen hinterlässt auch ein kurzer Einblick in die jüngere Rechtsgeschichte einen zwiespältigen Eindruck vom Schulrecht. Entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ist aus dem einst nahezu "justizfreien" Raum Schule eine bis ins Detail verrechtlichte Zone geworden. Im vergangenen Jahr versuchte beispielsweise ein Schüler in Hamburg, seine Mathematik-Punktzahl von "3,5" von Rechts wegen zu "4,0" aufrunden zu lassen, um trotz weiterer schlechter Leistungen ans Abitur zu kommen. Man fragt sich, ob die Mühe nicht besser aufs Lernen verwendet worden wäre (später, im Jurastudium dürfte eine Klage um die halbe Note schon mehr Verständnis finden).

Damals, als engagierte, konservative Eltern für den Erhalt eines Schulwesens kämpften, das sie selbst kennengelernt hatten, eine Schule ohne Mengenlehre und mit ordentlichem Lateinunterricht, entwickelte der linkskatholische Schulkritiker Ivan Illich eine weitergehende Perspektive: die gesamte Gesellschaft drohe zu einer großen Schule zu werden, in der vor allem die wirtschaftliche Verwertbarkeit des Bildungsstoffes zähle. Auf den Bestand des einmal Gelernten dürfe bald niemand mehr vertrauen, weil stets neue, das Alte obstruierende Bildungspakete von innovationsfreudigen EDV-Unternehmern geliefert würden. Und am herkömmlichen Schulsystem sei, allen vorgeschobenen Inhaltsstreitereien zum Trotz, vor allem seine Eigenschaft von Interesse, Kinder und Jugendliche für einige tausend Stunden im Jahr wegzusperren.

Ohne dem im Detail beipflichten zu wollen: die Schulkritik von Illich hatte – erstmals 1978 (!) publiziert – etwas Prophetisches. Während die Forderung nach "lebenslangem Lernen" nur unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten diskutiert wird, bleiben etwa die sachlich zuständigen Landtage überraschend still.

Man könnte den Verdacht hegen: Nachdem vor rund 30 Jahren die Gerichte mit jedem Detail der einstigen Reformbemühungen "durch" waren, war den Bildungspolitikern in Deutschland vergangen, was keinem Schüler je vergehen sollte: die Lust am Ausprobieren, Diskutieren und Dazulernen.

Angeschnittene, aufgeschnittene oder nur abgestaubte Entscheidungen & Literatur:

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 20.10.1981 (1 BvR 640/80), abgedruckt in der "Juristenzeitung" 1982, Seiten 758-760 mit einer Anmerkung von Professor Dieter Welke, Berlin | Hessischer Staatsgerichtshof, Urteil vom 30.12.1981 (P. St. 880), abgedruckt in der "Neuen Juristischen Wochenschrift" (NJW) 1982, Seiten 1.381-1.385 | "Elternrecht als Bestimmungsrecht und Anspruchsgrundlage der schulischen 'umfassenden Allgemeinbildung' ihrer Kinder?" von Professor Lutz Dietze, Bremen, in: NJW 1982, Seiten 1.353-1.363 | VGH München vom 06.05.1987 (7 B 86.01557) in: "Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht" (NVwZ) 1987, Seiten 706-708 | "Gesetzesvorbehalt im Schulwesen zur Lateinentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts" von Professor Ingo Richter, Hamburg, NVwZ  1982, 357-359 | BVerWG vom 17.07.1980 (7 B 192/79), in: NJW 1981, 1.056 | "Große Verwirrung" in: "Der Spiegel" Nr. 11 vom 06.03.1972, Seiten 140-142 | VG Hamburg, Urteil vom 26.08.2010, 2 K 2533/09 |Ivan Illich: "Wider die Verschulung", abgedruckt in: "Fortschrittsmythen", Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 1978, 1980

Martin Rath, freier Journalist und Lektor in Köln.

 

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Zitiervorschlag

Martin Rath, Vor 30 Jahren – modernes Schulrecht in Kinderschuhen: Mörderische Mengenlehre, katholische Ketzer und Versetzungen vor Gericht . In: Legal Tribune Online, 29.05.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3383/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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