Die juristische Presseschau vom 3. September 2020: BGH zur schutz­losen Lage bei § 177 StGB / Keine Pfän­dung von Corona-Sofort­hilfen / Sam­mel­klagen gegen Coo­kies

03.09.2020

BGH ändert Rechtsprechung zur schutzlosen Lage im Sexualstrafrecht. Keine Pfändung von Corona-Soforthilfen, um Altschulden zu tilgen. In den Niederlanden und Großbritannien gibt es Sammelklagen gegen Cookie-Nutzung ohne Einwilligung.

Thema des Tages

BGH zur "schutzlosen Lage" in § 177 StGB: In einem nun veröffentlichten Urteil stellt der Bundesgerichtshof klar, dass der Begriff der "schutzlosen Lage" in § 177 Abs. 5 Strafgesetzbuch (StGB) rein objektiv zu bewerten ist und hob damit laut LTO und zeit.de ein anderslautendes Urteil des Landgerichts Halle auf. Der BGH änderte auch seine eigene Rechtsprechung aus dem Jahr 2006. Der BGH begründete diesen Paradigmenwechsel mit der Intention der Strafrechtsreform aus 2016, die die sexuelle Selbstbestimmung des Opfers in den Vordergrund rückte, welches selbst über das "Ob", "Wann" und "Wie" eines sexuellen Kontakts bestimmen können muss.

Rechtspolitik

Insolvenzantragspflicht: Die Pflicht, einen Insolvenzantrag zu stellen, soll bis Jahresende ausgesetzt bleiben, sofern die Überschuldung eines Unternehmens Folge der Coronakrise ist. Bei Zahlungsunfähigkeit hingegen wird es ab dem 1. Oktober wieder die ursprüngliche Frist von drei Wochen zum Stellen eines Insolvenzantrags geben. Über den nun beschlossenen Gesetzentwurf schreiben LTO und spiegel.de.

Embryonenschutzgesetz: Die Bundesärztekammer fordert laut taz (Heike Haarhoff) eine weitgehende Liberalisierung des Embryonenschutzes. So müsse nicht nur die Eizellenspende erlaubt werden, sondern auch die Identifikation und Auswahl entwicklungsfähiger Embryonen, die bei einer künstlichen Befruchtung übertragen werden. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) dämpfte jedoch die Hoffnungen der Ärzte, in dieser Legislaturperiode werde es keine Änderungen am Embryonenschutzgesetz geben.

Justiz

BFH zur Pfändung von Coronahilfen: Selbstständigen und Freiberuflern, denen aufgrund der Corona-Pandemie Soforthilfe ausgezahlt wurde, darf diese Leistung nicht vom Finanzamt gepfändet werden. Das bestätigte nun auch der Bundesfinanzhof. Die Soforthilfe sei dafür da, unmittelbar durch die Corona-Pandemie ausgelöste wirtschaftliche Engpässe abzufedern, Altschulden beim Finanzamt müssten damit nicht beglichen werden, berichten faz.net und spiegel.de. Betroffene Steuerzahler, denen das Finanzamt wegen alter Steuerschulden gänzlich oder teilweise die Soforthilfeleistung oder die Überbrückungshilfe gepfändet hat, können sich auf den Beschluss des Bundesfinanzhofs berufen und eine Freigabe beim Finanzamt beantragen.

OVG HH zu Kühlung am Kohlekraftwerk: Die ursprünglich von der Stadt Hamburg erteilte Erlaubnis zur Entnahme von Elbwasser für eine Durchlaufkühlung am Kohlekraftwerk Moorburg bleibt rechtswidrig. Das wasserrechtliche Verschlechterungsverbot wurde dem Oberverwaltungsgericht zufolge nicht eingehalten, wie LTO berichtet.

OVG NDS zu Präsenzklausuren: Obwohl der klagende Student als Raucher Teil einer vom Robert-Koch-Institut definierten Risikogruppe ist, hat er keinen Anspruch auf eine Online-Prüfung von zu Hause aus. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht lehnte den Eilantrag laut spiegel.de vor allem unter Verweis auf das bestehende Hygienekonzept der Universität für Präsenzklausuren ab.

VG Wiesbaden zu Maskenpflicht im Unterricht: Wie die FAZ (Robert Maus) berichtet, hat das Verwaltungsgericht Wiesbaden dem Eilantrag eines Schülers stattgegeben, der sich gegen die "dringende Empfehlung" seiner Schule gewandt hatte, eine Maske im Unterricht zu tragen. Für diese gebe es keine Rechtsgrundlage, die Maskenpflicht betreffe lediglich den Rest des Schulgeländes.

OLG Naumburg – Angriff auf Synagoge: Die taz (Pia Stendera) bringt einen ausführlichen Bericht über den achten und neunten Prozesstag um das Attentat auf die Synagoge von Halle, an dem erneut die Nebenkläger das Wort erhielten. Dies nutzten sie nicht nur, um einen Gegenpol zur Selbstdarstellung des Täters zu setzen, sondern auch die Aufarbeitung durch Polizei und Gericht zu kritisieren. Die SZ (Cornelius Pollmer/Annette Ramelsberger) widmet dem Thema ihre Seite Drei.

LG Köln zu Google-Bewertung: LTO (Maximilian Amos) berichtet von einer kürzlich erlassenen einstweiligen Verfügung des Landgerichts Köln gegen Google. Der Tech-Konzern hatte zu langsam auf den Löschungsantrag eines Unternehmens wegen einer ungerechtfertigten Negativbewertung reagiert. Wegen der immensen rufschädigenden Auswirkungen gehen derzeit viele Unternehmen den Weg zu Gericht, um unliebsame Bewertungen schnellstmöglich löschen zu lassen.

KG Berlin – Mord an Georgier im Tiergarten: Gut ein Jahr nach dem Mord an einem Georgier im Berliner Kleinen Tiergarten soll am 7. Oktober der Prozess gegen den Tatverdächtigen beginnen. Dem 55-jährigen Russen werden Mord und ein Verstoß gegen das Waffengesetz vorgeworfen. Für den Prozess sind laut spiegel.de 25 Verhandlungstermine bis zum 27. Januar 2021 festgesetzt.

LG Berlin – Abou Chaker/Bushido: Am fünften Prozesstag gegen Arafat Abou Chaker wird erneut der Rapper Bushido vernommen. Diesmal geht es um die finanziellen Verflechtungen der beiden, insbesondere um Immobiliengeschäfte. Bushido stellt dabei laut faz.net (Julia Schaaf) und spiegel.de (Wiebke Ramm) seinen Geschäftspartner als äußerst dominant dar, er selbst habe meist nur schweigend dabei gesessen und keine Details von windigen Geschäften erfahren.

LG Frankfurt/M. – geplantes Islamisten-Attentat: Vor dem Staatsschutzsenat des Frankfurter Landgerichts hat der Prozess gegen einen deutschen Islamisten – Sohn eines Chefarztes – begonnen, der geplant hatte, ein Sprengstoffattentat auf eine Bar im Süden der Stadt zu verüben. Ihm wird von der Staatsanwaltschaft deshalb unter anderem die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat vorgeworfen. Gefasst wurde er durch verdeckte Ermittler des FBI. Die FAZ (Julian Staib) berichtet über den ersten Prozesstag.

AG Fulda zu Taubenfüttern: Einer Rentnerin aus Fulda, die regelmäßig verbotenerweise Tauben gefüttert hat, soll nach einer Entscheidung des Amtsgerichts Fulda 265 Euro an Bußgeld zahlen. In insgesamt zwölf Verfahren gegen die Frau hatten sich eigentlich mehrere tausend Euro an Bußgeldern angehäuft, das Gericht ließ laut LTO jedoch Milde walten. Weil der von der Rentnerin bezweckte Tierschutz auch im Grundgesetz verankert sei, hat der Anwalt nun Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt.

Recht in der Welt

Niederlande/Großbritannien – Klagen gegen Datensammler: Durch Cookies gesammelte Daten erlauben es Softwaredienstleistern, personalisierte Werbung für im Internet Surfende anzubieten. Dass dies häufig ohne Einwilligung der Betroffenen geschehe, hat Datenschützer in den Niederlanden und in Großbritannien dazu bewogen, Sammelklagen gegen mehrere Tech-Unternehmen wegen Verstößen gegen die Datenschutzgrundverordnung zu erheben. Die FAZ (Marcus Jung) berichtet.

In seinem separaten Kommentar prognostiziert Marcus Jung (FAZ), dass die Sammelklagen Nachahmer in der Szene klagefreudiger Aktivisten finden werden.

Dänemark – Sexualstrafrecht: In Dänemark gab es eine Reform des Sexualstrafrechts, nach der der Tatbestand der Vergewaltigung bereits erfüllt sein kann, wenn zwischen den Beteiligten keine Einigkeit über den Geschlechtsverkehr bestehe. Wie die taz (Reinhard Wolff) berichtet, kann ein Flirt oder ein Kuss zu einem früheren Zeitpunkt genauso wenig als Einverständnis interpretiert werden wie reine Passivität.

Frankreich – Charlie Hebdo: Mehr als fünf Jahre nach dem Anschlag auf das französische Satiremagazin "Charlie Hebdo" begann der Prozess gegen mutmaßliche Komplizen der Attentäter vor einem Pariser Schwurgericht und müssen sich elf Verdächtige wegen "Mitgliedschaft in einer Terrorgruppe" verantworten. Drei weitere sind in Abwesenheit angeklagt, sie werden mit internationalem Haftbefehl gesucht. FAZ (Michaela Wiegel) und spiegel.de (Tanja Kuchenbecker) berichten über den ersten Prozesstag und die dafür getroffenen Sicherheitsvorkehrungen.

USA – Bayer: Im Verfahren um angebliche Krebsrisiken glyphosathaltiger Unkrautvernichter zieht der Pharma- und Agrarchemiekonzern Bayer vor den Obersten Gerichtshof des US-Bundesstaates Kalifornien. Wie LTO und spiegel.de schreiben, soll der Oberste Gerichtshof nun klären, ob ein Hersteller unter dem Staatsprodukthaftungsrecht überhaupt dafür haftbar gemacht werden kann, wenn keine Krebswarnung auf einem Produkt angebracht wird.

Schottland – Referendum: Die schottische Regierung unter Nicola Sturgeon will ein neues Unabhängigkeitsreferendum auf den Weg bringen. Die Umstände seit dem letzten Referendum 2014 hätten sich durch den Brexit geändert. Sturgeon braucht jedoch die Zustimmung Boris Johnsons, der diese derzeit nicht erteilen wird, schreiben LTO und FAZ (Jochen Buchsteiner).

Sonstiges

Transsexualität und Strafvollzug: Der Recht und Unrecht-Teil der Zeit (Benedikt Herber) befasst sich mit der Situation einer transsexuellen Frau, die einen Teil ihrer Untersuchungshaft in der Männerabteilung einer Justizvollzugsanstalt (JVA) verbringen musste. Das Strafvollzugsgesetz von 1976 schreibt die binäre Geschlechterordnung vor, die jeweiligen JVA-Verwaltungen müssen deshalb etwa bei Transsexuellen im Einzelfall entscheiden, wo sie untergebracht werden. Um Anfeindungen und Übergriffe in der Männerabteilung zu vermeiden, täuschen Betroffene oft eine Suizidgefahr vor, um in die isolierte Einzelhaft zu gelangen. Eine diverse Abteilung gibt es derzeit nicht.

beA-Update: In der Diskussion um das besondere elektronische Anwaltspostfach sorgte nun eine von der Bundesrechtsanwaltskammer sehr kurz gesetzte Frist für eine erforderliche Software-Anpassung für Unmut bei den Anbietern von Kanzleisoftware. LTO (Hasso Suliak) befasst sich mit den Einzelheiten.

Jahresbericht BKartA: Über den Bericht des Bundeskartellamts über das Jahr 2019 und die ersten Monate diesen Jahres geben LTO (Hasso Suliak) und Netzpolitik.org (Jana Ballweber) einen Überblick. In dem Bericht geht es schwerpunktmäßig um coronabedingte Probleme bei der Durchsuchung von Unternehmen wegen möglicher illegaler Preisabsprachen sowie die Fusionskontrolle durch das BKartA. Im Fokus standen erneut die großen Tech-Konzerne. Ab 2021 soll dem BKartA zudem die Kompetenz zukommen, Unternehmen mit überragender marktübergreifender Bedeutung strengere Regeln aufzuerlegen.

Juristen-Transfermarkt: In einer Übersicht stellt LTO (Anja Hall) 10 wichtige Wechsel, Zuwächse und Neugründungen in der Kanzleilandschaft Deutschland aus August und September vor.

Reichsflaggen: Wie die FAZ (Reinhard Müller) schreibt, ist weder das Zeigen noch das Verwenden der Reichs- oder sogar der Reichskriegsflagge verboten. Problematisch werde es erst, wenn Handlung mit dem Zeigen einhergingen, die eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellten, wie etwa das Zeigen des Hitler-Grußes.

Nach dem Neoliberalismus: Das Online-Symposium "What Comes After Neoliberalism?" im Verfassungsblog wird fortgesetzt mit (englischsprachigen) Beiträgen der Soziologieprofessorin Sabine Frerichs sowie der Rechtsprofessorin Fernanda G. Nicola.

 

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lto/jpw

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 3. September 2020: BGH zur schutzlosen Lage bei § 177 StGB / Keine Pfändung von Corona-Soforthilfen / Sammelklagen gegen Cookies . In: Legal Tribune Online, 03.09.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42686/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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