Die juristische Presseschau vom 19. August 2020: Con­tai­nern bleibt strafbar / UN-Tri­bunal zu Hariri-Mord / Prü­gelte Kal­bitz?

19.08.2020

Laut BVerfG darf Containern als Diebstahl bestraft werden. UN-Tribunal sprach ein Urteil zum Mord am libanesischen Ex-Premier 2005. Die StA Potsdam ermittelt gegen den AfD-Politiker Andreas Kalbitz wegen fahrlässiger Körperverletzung.

Thema des Tages

BVerfG zum Containern: Das auch Containern genannte Mitnehmen von wertlosen Lebensmitteln aus Abfallcontainern von Supermärkten kann als Diebstahl bestraft werden, wie nun das Bundesverfassungsgericht bestätigt hat. Das Gericht erklärte im Zusammenhang mit dem strafrechtlichen Schutz des Eigentums, dass es für die Verwirklichung von § 242 Strafgesetzbuch nicht auf einen "objektiv messbaren Substanzwert oder auf eine wirtschaftliche Interessenverletzung" ankomme. Schützenswert sei auch das Interesse der Supermärkte, Haftungsrisiken zu vermeiden. Die Strafbarkeit des Containerns könne allerdings der Gesetzgeber neu regeln. Zwei Studentinnen hatten mit Unterstützung der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) Verfassungsbeschwerde gegen Strafurteile eingelegt, die ergangen waren, nachdem sie erwischt wurden, als sie auf dem Gelände eines Edeka-Marktes bei München Waren aus einem verschlossenen Abfallcontainer holten. Es berichten SZ (Wolfgang Janisch), FAZ (Corinna Budras/Jonas Jansen), taz (Christian Rath) und LTO (Tanja Podolski).

Lebensmittelverschwendung sollte "nicht auch noch mit der Keule des Strafrechts" geschützt werden, findet Corinna Budras (FAZ) im Wirtschaftsteil. Dagegen begrüßt Reinhard Müller (FAZ) das Urteil im Politik-Teil und ist der Meinung, dass das Recht auf Eigentum hochgehalten werden müsse, um eine Wegwerfgesellschaft zu verhindern. Christian Rath (taz) hält das Urteil für vertretbar und plädiert dafür, dem Problem der Lebensmittelverschwendung nicht durch die Legalisierung des Containern zu begegnen. Erforderlich sei vielmehr ein bereits in Frankreich erprobtes Gesetz, das Supermärkten verbieten soll, nutzbare Lebensmittel wegzuwerfen. Jost Müller-Neuhof (Tsp) prangert die Auswüchse der Wegwerfgesellschaft an, die durch das Containern erst sichtbar gemacht würden und hat ebenfalls Reformvorschläge. 

Rechtspolitik

Whistleblower: Auf dem Verfassungsblog erläutern Caroline Hunt-Matthes und Yasemine Motarjemi, selbst Whislteblowerin, (in englischer Sprache) wie der Schutz von Whistleblowern in Europa effektiver gestaltet werden könnte. 

Justiz

BVerfG – Mietenstopp: Die Initiatoren des bayerischen Volksbegehrens "Sechs Jahre Mietenstopp" haben, nachdem der Bayerische Verfassungsgerichtshof das Volksbegehren für unzulässig erklärt hatte, nun Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingereicht, wie LTO und die SZ im Bayern-Teil berichten. Die Beschwerdeführer sehen sich in ihren Rechten aus Art. 3 I und Art. 101 I 2 Grundgesetz verletzt, da der Bayerische Verfassungsgerichtshof das Volksbegehren entweder zulassen oder die Frage nach der Landeskompetenz für einen Mietenstopp dem Bundesverfassungsgericht hätte vorlegen müssen. 

BVerfG – Paritätsgesetz: Wie LTO berichtet, haben 13 Thüringer Bürger beim Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Thüringer Verfassungsgerichtshofs vom Juli eingelegt, der das Gesetz für die paritätische Besetzung von Parteilisten mit Männern und Frauen für nichtig erklärte. Die Beschwerdeführer sind der Ansicht, dass das Fehlen von Paritätsregeln Frauen faktisch benachteilige. 

BVerfG – Pressearbeit: Stephan Detjen, Chefkorrespondent des Deutschlandradios, äußert sich im Interview mit deutschlandfunk.de (Brigitte Baetz) zur Kritik des Deutschen Presserats an der Vorab-Pressearbeit des Bundesverfassungsgerichts. Er erläutert insbesondere das Wesen der Justizpressekonferenz und die historische Entwicklung der aktuellen Praxis.

OVG Hamburg zu Durchsuchung in Flüchtlingsunterkunft: Wie taz-nord (Kai von Appen) berichtet, hat das Oberverwaltungsgericht Hamburg die Rechtswidrigkeit einer nächtliche Razzia bestätigt, die von der Ausländerbehörde und der Polizei in Wohnunterkünften für Geflüchtete durchgeführt wurde, um Ausreisepflichtige ausfindig zu machen, ohne dass ein richterlicher Durchsuchungsbeschluss vorlag.

LG Mannheim zu Mobilfunkpatent: Das Landgericht Mannheim hat laut FAZ (Susanne Preuß) und Hbl (Franz Hubik) entschieden, dass Mercedes mit jeder Auslieferung eines Neuwagens Patentrechte von Nokia verletze, die sich auf die Verbindung der Autos mit dem LTE-Mobilfunknetz beziehen. Daimler hat angekündigt, umgehend Berufung gegen das Urteil einzulegen, weshalb vorerst kein Verkaufsstopp für Mercedes drohe.

LG Regensburg – Mord an Maria Baumer: Im Prozess vor dem Landgericht Regensburg um den Tod von Maria Baumer hat laut SZ (Johann Osel) und spiegel.de der Angeklagte F., Verlobter des Opfers, durch eine Erklärung verlauten lassen, das er die Leiche Baumers im Mai 2012 morgens tot neben sich im Bett gefunden habe, nachdem sie eine tödliche Dosis Medikamente geschluckt hatte, die er bei seiner damaligen Tätigkeit als Krankenpfleger in einer Psychiatrie besorgt habe. Das Verschwindenlassen und Vergraben der Toten seien "Kurzschlussreaktionen" gewesen, die ihm unumkehrbar erschienen seien. 

LG Köln – Datenschutz und Informationsfreiheit: Wie netzpolitik.org (Arne Semsrott) berichtet, hat das Bundesinnenministerium die Behörde des Bundesdatenschutzbeauftragten Ulrich Kelber vor dem Verwaltungsgericht Köln verklagt, weil das Ministerium den Vorgaben zur Datensparsamkeit bei Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) nicht nachkommen möchte, wozu es jedoch von Kelber zuvor angewiesen worden war. 

StA Potsdam – Andreas Kalbitz: Die Potsdamer Staatsanwaltschaft hat von Amts wegen Ermittlungen gegen den früheren Chef der Brandenburger AfD-Fraktion Andreas Kalbitz aufgenommen, nachdem der Parlamentarische AfD-Geschäftsführer Dennis Hohloch nach einem Treffen mit Kalbitz am 10. August ins Krankenhaus eingeliefert wurde und Ärzte bei ihm einen Milzriss diagnostizierten. Gegen Kalbitz werde ein "Anfangsverdacht der fahrlässigen Körperverletzung" geprüft, wie spiegel.de (Sven Röbel/Timo Lehmann/Ann-Katrin Müller/Severin Weiland), SZ (Markus Balser) und FAZ (Markus Wehner) schreiben. 

StA Köln – Cum-Ex-Geschäfte: Die Staatsanwaltschaft Köln hat die Räume der Privatbank Varengold und des Bankhauses Hauck & Aufhäuser in Berlin, Frankfurt und Hamburg im Zusammenhang mit Ermittlungen zu Steuerbetrug durch Cum-Ex-Geschäfte durchsuchen lassen, wie SZ (Klaus Ott/Jörg Schmitt/Jan Willmroth), FAZ (Markus Jung/Hanno Mussler), Hbl (Sönke Iwersen, Volker Votsmeier) und LTO berichten. Ehemalige Bankmanager und andere Geschäftsleute werden der Steuerhinterziehung oder Beihilfe hierzu verdächtigt. 

Sportschiedsgericht zu Doping: Das Deutsche Sportschiedsgericht hat den Eisschnellläufer Robert Lehmann-Dolle wegen Mangel an Beweisen von dem Vorwurf freigesprochen, mit Eigenblut gedopt zu haben, wie auf spiegel.de (Antje Windmann), taz und FAZ zu lesen ist. 

Recht in der Welt

Libanon – UN-Tribunal zum Hariri-Mord: Laut SZ (Moritz Baumstieger), taz (Jannis Hagmann) und FAZ (Rainer Hermann) hat ein UN-Tribunal einen von vier Angeklagten für den 2005 verübten Mord am ehemaligen libanesischen Premier Hariri verurteilt. Die Richter fanden jedoch keine Beweise für eine Beteiligung des syrischen Regimes oder der Hisbollah-Miliz an der Tat. Alle vier bis heute flüchtigen Angeklagten waren jedoch Mitglieder der Miliz. Das Tribunal, welches das erste UN-Strafgericht zur Aufklärung eines politischen Mordes ist, stellte in seinem 2600 Seiten umfassendes Urteil fest, dass die Täter professionell organisiert waren. 

Jannis Hagmann (taz) weist darauf hin, dass das Urteil keine echte Abhilfe für das Problem der Straflosigkeit schaffe, da keiner der Angeklagten bei dem Prozess anwesend war. Insbesondere mit Blick auf die jüngste Katastrophe im Hafen von Beirut hält der Autor die Unabhängigkeit der libanesischen Justiz für sehr gefährdet. Rainer Hermann (FAZ) hält das Urteil hingegen für eine mittelbare Beschuldigung der Hisbollah, da aufgrund ihrer straffen Organisationsstrukturen Mitglieder nicht individuell handlungsfähig wären. 

Frankreich – Maskenpflicht: In Frankreich ist ab dem 1. September das Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung in Unternehmen Pflicht, wenn sich mehr als ein Beschäftigter in einem geschlossenen Raum befinde, wie FAZ (Christian Schubert) und spiegel.de berichten. 

Brasilien – Schwangerschaftsabbruch: Nachdem es vor und während der Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs bei einer vergewaltigten Zehnjährigen in Brasilien heftige Proteste von ultrareligiösen und rechtsextremen Gruppen gab, steht laut SZ (Christoph Gurk) in dem Land das ohnehin schon restriktive Abtreibungsrecht weiter unter Druck. Insbesondere evangelikale Gemeinden spielen dabei eine wichtige Rolle; sie möchten Schwangerschaftsabbrüche möglichst komplett verbieten. 

Sonstiges

Wiedervereinigung: Die SZ (Boris Herrmann) widmet sich in einer Seite 3-Reportage dem Beitrittsbeschluss der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland und der Bedeutung eines womöglich folgenschweren Formfehlers. In dem Dokument wurde das Wort DDR vergessen. 30 Jahre nach dem Ereignis lässt der Autor den Bundestagsabgeordneten Gregor Gysi und die damalige Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl als Zeitzeugen zu Wort kommen. 

Polizeigewalt: Die SZ (Ronen Steinke) nimmt drei aktuelle Vorfälle von gewalttägigem Polizeihandeln aus Düsseldorf, Hamburg und Frankfurt/M. zum Anlass, um die Rechtslage zu beleuchten. Der Autor weist darauf hin, dass unmittelbarer Zwang nur legal sein kann, wenn er geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ist. Weiter zitiert er die beiden Polizeirechtler Markus Thiel und Tobias Singelnstein, die alle drei Situationen ausführlich analysieren und für zumindest rechtlich bedenklich halten.

Drohmails und Polizei: FAZ (Katharina Iskandar) und LTO berichten über die Einrichtung einer Expertenkommission unter der Leitung von Angelika Nußberger, ehemalige Vizepräsidentin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, die mögliches Fehlverhalten der hessischen Polizei im Zusammenhang mit rechtsextremen Drohmails aufarbeiten soll. 

Kartellabsprachen: Rechtsanwalt Daniel Dohrn beschreibt auf LTO wie weltweit Kartellbehörden anerkennen, dass der Abstimmungsbedarf bei Unternehmen aufgrund der Coronakrise gestiegen ist und somit Kartellbestimmungen flexibler ausgelegt und angewandt werden.

Geldwäsche: Die beim Zoll angesiedelte Financial Intelligence Unit (FUI) hat festgestellt, dass es in Deutschland deutlich mehr Verdachtsfälle von Geldwäsche gibt, wie SZ, FAZ (Markus Frühauf) und spiegel.de berichten. Die Zahlen waren um 49 Prozent im Gegensatz zum Vorjahr gestiegen. 

Corona-Listen: Die Rechtsanwälte Jörg Risse und Holger Lutz erklären in der FAZ die rechtliche Situation für den Zugriff der Polizei auf Corona-Listen von Gaststätten. Ein solcher Zugriff sei zumindest auf die Aufklärung schwerer Straftaten beschränkt, denn nur dort überwiege das allgemeine Strafverfolgungssinteresse das Interesse am Datenschutz der Gäste eindeutig. 

Verfassungsstaat in der Coronakrise: Rechtsprofessor Klaus Ferdinand Gärditz bespricht auf LTO das Buch "Verfassungsstaat in der Coronakrise" von Jens Kersten und Stephan Rixen. Er hält das Werk für ein elegantes Plädoyer für den Pragmatismus des Verfassungsstaates. 

 

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lto/ls

(Hinweis für Journalisten)   

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 19. August 2020: Containern bleibt strafbar / UN-Tribunal zu Hariri-Mord / Prügelte Kalbitz? . In: Legal Tribune Online, 19.08.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42530/ (abgerufen am: 27.04.2024 )

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