Kartellrecht in Zeiten der Coronapandemie: Wenn es schwierig wird, darf man zusam­men­rü­cken

Gastbeitrag von Dr. Daniel Dohrn

18.08.2020

In der Coronakrise gilt: Je näher man sich kommt, desto höher das Risiko. Auch Unternehmen dürfen nicht zu eng mit Konkurrenten kooperieren. Aber die Kartellbehörden sind bereit, neu über die Abstandsregeln zu verhandeln, weiß Daniel Dohrn.

Die Coronakrise führt zu großen Umwälzungen in der Wirtschaft. In vielen Branchen ist die Nachfrage drastisch eingebrochen, andere Bereiche profitieren von der stark gestiegenen Nachfrage nach bestimmten Gütern und Dienstleistungen. In beiden Fällen wächst der Bedarf an externer Unterstützung: Die Verlierer der Krise müssen Nachfrageeinbrüche verarbeiten, die Gewinner wollen die gesteigerte Nachfrage bedienen.

In solchen Ausnahmesituationen suchen Unternehmen verstärkt den Kontakt zu ihren Wettbewerbern. Denn eine koordinierte Vorgehensweise, zum Beispiel bei der Produktion stark nachgefragter Waren, kann erhebliche Synergien heben - insbesondere, wenn sie branchenweit erfolgt. Weltweit erkennen Kartellbehörden an, dass Unternehmen während der Coronakrise einen gesteigerten Abstimmungsbedarf haben. Und sie sind gewillt, die kartellrechtlichen Regeln flexibler anzuwenden als üblich.

Kein Freifahrtschein für Kartellabsprachen

Das bedeutet jedoch nicht, dass die Grundsätze des Kartellrechts keine Geltung mehr beanspruchen. Marktaufteilungs-, Quoten- und Preiskartelle bleiben weiterhin verboten. Auch exzessive Preiserhöhungen, die unter dem Deckmantel der Coronakrise erfolgen, werden von den Kartellbehörden streng verfolgt.

Es muss außerdem damit gerechnet werden, dass die Kartellbehörden spätestens nach Abflachen der Pandemie die Kartellverfolgung wieder verstärkt aufnehmen werden. Spätestens dann wird sich das Risiko der Aufdeckung eines geschmiedeten Kartells stark erhöhen, etwa weil ein Kartellmitglied die Kronzeugenkarte spielt oder weil die Beamten nach Hinweisen aus dem Markt bei Durchsuchungen fündig werden. Mit Milde der Behörden sollte nicht gerechnet werden.

Unternehmen tun daher gut daran, schon heute ihre präventiven Compliance-Maßnahmen zu optimieren und ein wachsames Auge auf die Vorgänge in ihren Unternehmen zu werfen. Im Idealfall kann kartellrechtswidriges Verhalten von Anfang unterbunden werden.

Fließende Grenze zwischen Kartell und Kooperation

Wo die roten Linien zwischen einer zulässigen Krisenkooperation und einem illegalen Kartell verlaufen, lässt sich indes nicht pauschal beantworten. Einige Länder haben klare gesetzliche Bereichsausnahmen geschaffen. Beispielsweise hat Norwegen seinen Transportsektor für drei Monate vom Kartellverbot freigestellt. Und die EU-Kommission gestattet – gestützt auf eine Sonderregelung – Erzeugern von Milch, Blumen und Kartoffeln, von bestimmten EU-Wettbewerbsregeln abzuweichen.

Außerhalb der wenigen gesetzlichen Regelungen bleibt die Rechtslage jedoch vage. Viele Kartellbehörden haben daher "Corona-Kommuniqués" veröffentlicht, die Unternehmen Orientierung bei der Zusammenarbeit mit Wettbewerbern bieten sollen. Diese Anwendungshilfen begründen allerdings keinen rechtlichen Anspruch auf Zusammenarbeit. Das Europäische Wettbewerbsnetz (ECN), ein Netzwerk aus Kommission, den Kartellbehörden der EU-Mitgliedstaaten und der EFTA-Staaten, hat in seiner Erklärung betont, dass die Wettbewerbsbehörden nicht aktiv gegen notwendige und temporäre Maßnahmen zur Beseitigung von Versorgungsengpässen vorgehen werden.

Befristete Kooperation, aber nur für "unentbehrliche" Güter

Auch die Kommission erachtet in ihrem Temporären Rahmen für die Zusammenarbeit von Unternehmen während des Covid-19-Ausbruchs bestimmte Kooperationen zwischen Wettbewerbern als zulässig, die in normalen Zeiten wohl nicht die Zustimmung der Behörde gefunden hätten. Beispielsweise dürfen selbst enge Wettbewerber Informationen über Lager- und Transportbestände untereinander austauschen, gemeinsame Forschung und Entwicklung betreiben, oder die Produktion von Waren koordinieren.

Voraussetzung ist allerdings, dass die Zusammenarbeit auf die Zeit der Krise befristet ist und sie dazu dient, die Versorgungssicherheit mit unentbehrlichen Produkten und Dienstleistungen sicherzustellen. Als "unentbehrlich" sieht die Kommission insbesondere Medikamente, Impfstoffe sowie Produkte zur Sicherstellung der medizinischen Versorgung.

Wie auch der temporäre Rahmen der Kommission privilegieren die meisten Kommuniqués nur solche Kooperationen, welche die Produktion und Verteilung mit systemrelevanten und lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen sicherstellen sollen. Unternehmen, die nicht in systemrelevanten Bereichen tätig sind, können sich mit ihren krisenbedingten Problemen daher im Zweifel nicht auf diese Kommuniqués berufen.

Dass aber auch bei ihnen ein krisenbedingtes Bedürfnis besteht, gegebenenfalls in Abstimmung mit ihren Wettbewerbern Überkapazitäten abzubauen oder Produktionslinien und Lieferketten zu koordinieren, ist unbestritten. Die gängigen Leitlinien der Kartellbehörden lassen aber solche branchenweiten Kooperationen in der Regel nicht zu. Welche weiteren Möglichkeiten stehen Anbietern nicht-systemrelevanter Güter also zur Verfügung?

Rückkehr der Strukturkrisenkartelle?

Abhilfe kann hier ein Blick auf das – leicht angestaubte – Instrument des "Strukturkrisenkartells" schaffen. In den 1980er und 90er Jahren hatten die Kommission und das Bundeskartellamt vereinzelt branchenweite Absprachen zum koordinierten Abbau von Überkapazitäten genehmigt. Voraussetzung war unter anderem, dass Probleme nicht auf einer kurzzeitigen Konjunkturkrise, sondern auf einem nachhaltigen Nachfrageeinbruch basierten, die Kooperation unerlässlich war, weil die Selbstbereinigungskräfte des Marktes gescheitert waren, und die Kunden durch die Sicherung einer gesunden Angebotsstruktur und Versorgungslage von den Absprachen profitierten. Das deutsche Recht sah bis 2005 mit § 6 GWB a.F. sogar eine Ausnahmeregelung für Strukturkrisenkartelle vor.

Die Grundsätze zu Strukturkrisenkartellen lassen sich auf die heutige Situation übertragen: Es handelt sich hierbei nicht um einen Konjunktureinbruch, sondern um eine nachhaltige volkswirtschaftliche Krise mit globalen Auswirkungen. Zudem sind die Marktkräfte offensichtlich nicht in der Lage, dieser Krise Herr zu werden. Das belegen nicht zuletzt die erheblichen staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft in Form von Subventionen.

Das deutsche und europäische Kartellrecht bietet die notwendigen Instrumente, um die Grundsätze zu Strukturkrisenkartellen anzuwenden. Gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV / § 2 GWB können an sich wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen im Rahmen einer Gesamtabwägung kartellrechtlich gerechtfertigt sein, wenn ihre Vorteile die negativen Effekte überwiegen. Befristete Krisenkartelle mit dem Ziel, wettbewerbsfähige Marktstrukturen für die Zeit nach der Krise zu sichern, ohne dabei den Wettbewerb komplett auszuschalten, könnten folglich kartellrechtlich zulässig sein - insbesondere, wenn sie eine Monopolisierung der Märkte verhindern können.

Behörden verweigern Comfort Letters nicht

Solche Krisenkooperationen sollten jedoch in enger Abstimmung mit den Kartellbehörden erfolgen. Es gibt – auch unter den Corona-Kommuniqués – keine Blaupause für zulässige Kooperationen. Jedes Vorhaben muss individuell auf seine Rechtmäßigkeit hin überprüft werden. Allerdings sind die Behörden während der Krise gewillt, Unbedenklichkeitserklärungen - sogenannte Comfort Letters -  für konkrete Projekte abzugeben, sofern sie im Vorfeld ausreichend über die Zusammenarbeit informiert werden. Das bietet Rechtssicherheit für die Kooperationspartner.

Die Kommission hat beispielsweise mit ihrem ersten Comfort Letter seit 20 Jahren Pharmaunternehmen bei der Zusammenarbeit während der Coronakrise unterstützt. Und das Bundeskartellamt hat nach Konsultation durch den Verband deutscher Automobilhersteller VDA in einem Schreiben nicht nur darauf verzichtet, ein Verfahren gegen abgestimmte Restrukturierungsmaßnahmen in der Automobilindustrie einzuleiten. Es hat darüber hinaus auch konkrete Hinweise gegeben, wie die Kooperation ausgestaltet werden sollen. Das zeigt, dass die Behörden Coronabedingten Kooperationen durchaus wohlwollend gegenüberstehen.

Dr. Daniel Dohrn ist Rechtsanwalt und Partner im Kölner Büro von Oppenhoff. Er berät im deutschen und europäischen Kartellrecht, insbesondere in der Fusionskontrolle, bei der Ausgestaltung von Vertriebssystemen, zu Compliance, bei kartellrechtlichen Schadenersatzsprüchen und in kartellbehördlichen Ermittlungsverfahren.

Beteiligte Kanzlei

Zitiervorschlag

Kartellrecht in Zeiten der Coronapandemie: Wenn es schwierig wird, darf man zusammenrücken . In: Legal Tribune Online, 18.08.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42520/ (abgerufen am: 20.04.2024 )

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