Die juristische Presseschau vom 11. März 2020: Umbruch am BVerfG / Syri­sche Geheim­dienstler vor Gericht / Ver­fas­sungs­än­de­rung in Russ­land

11.03.2020

Am Bundesverfassungsgericht stehen in naher Zukunft gleich vier Wahlen an. In Koblenz werden zwei Syrer wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt und in Russland sind grundlegende Änderungen der Verfassung geplant.

Thema des Tages

Verfassungsrichterwahlen: Mit Blick auf das baldige Ende der Amtszeit der Verfassungsrichter Andreas Voßkuhle und Johannes Masing muss der Bundesrat zwei neue Richter sowie einen Nachfolger Voßkuhles in seinem Amt als Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts wählen. Der Bundestag hingegen wählt einen neuen Vizepräsidenten. Die Grünen haben das Vorschlagsrecht für die Nachfolge Voßkuhles und auch bereits einen Kandidaten, der am Donnerstag in der Ministerpräsidentenkonferenz diskutiert und möglicherweise bereits am Freitag im Bundesrat gewählt wird. Für die Nachfolge Masings hat die SPD das Vorschlagsrecht behalten, ist aber noch im Findungsprozess. Neuer Präsident des Bundesverfassungsgerichts wird trotz aktueller Kritik voraussichtlich der 2018 auf Vorschlag der CDU/CSU gewählte derzeitige Vizepräsident Stephan Harbarth. Das Vorschlagsrecht des neuen Vizepräsidenten wiederum liegt bei der SPD, die einen Richter aus dem Zweiten Senat wählen muss und vermutlich einen der von ihnen einst vorgeschlagenen Richter (Monika Hermanns, Doris König oder Ulrich Maidowski) vorschlagen wird. Die vier Wahlen stellt lto.de (Christian Rath) ausführlich dar und erläutert zudem die unsichere Entwicklung der informellen Proporz-Regel der Vorschlagsrechte angesichts stark veränderter Mehrheitsverhältnisse in Bundesrat und Bundestag.

Rechtspolitik

Frauenquote: Den Gesetzentwurf von Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) und Frauenministerin Franziska Giffey (SPD) befürwortet auch die Digitalstaatsministerin Dorothee Bär (CSU) laut der Welt (Caroline Turzer/Maren Jensen). Auch wenn im Kern eine Einstellungsänderung in der Gesellschaft nötig sei, so Bär anlässlich des "Wo/men-Day" des Medienkonzerns Axel Springer, halte sie entgegen ihrer früheren Ansicht inzwischen die verbindliche Quote in Vorständen großer Börsenunternehmen für "sehr sinnvoll".

Suizidhilfe: In dem Vorschlag der Rechtsprofessorin Frauke Rostalski für einen neuen § 217 des Strafgesetzbuches sieht Christian Geyer in einem Kommentar in der FAZ einen wichtigen Anfang für die Debatte um die Novellierung des vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärten Paragrafen. Er bemängelt dann jedoch vor allem das Fehlen ausreichender (Verfahrens-)Restriktionen und sieht dadurch "in aufreizender Weise de[m] Ermessensspielraum der Suizidassistenz das letzte Wort zugebilligt". Dem gegenüber stellt er restriktivere Ansätze etwa der Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) und sinniert schließlich über die Allgemeingültigkeit der Annahme eines ausreichenden Bewusstheitsniveaus bei Suizidwilligen.

"Femizid": In ihrem Buch "Akteneinsicht" beschreibt die Rechtsanwältin Christina Clemm das Problem der geschlechtsspezifischen Gewalt in der deutschen Justiz. Einen neuen Straftatbestand "Femizid" brauche es nicht, stattdessen macht sie im Interview mit der taz (Simone-Schmollack) darauf aufmerksam, dass es "besseren Schutz, mehr Beratung und echte Perspektiven für gewaltbetroffene Frauen geben müsse". Auch halte sich der Mythos der "lügenden Frau" hartnäckig, obwohl Frauen in Deutschland in der Regel keine Vorteile aus einer Anzeige zögen.

PolG NRW und Palantir: Nach Hessen hat nun auch Nordrhein-Westfalen beschlossen, Ermittler mit digitalen Hilfsmitteln der umstrittenen US-Firma Palantir auszustatten, der in den USA mit Pentagon und Geheimdiensten kooperiert. Das Hbl (Moritz Koch/Dietmar Neuerer) stellt die von verschiedenen Politikern und Datenschützern geäußerten datenschutzrechtlichen Bedenken dar: FDP-Fraktionsvize Stephan Thomae fürchtet um eine "tektonische Verschiebung" der Bürgerrechte, Jens Zimmermann (SPD) eine "neue Abhängigkeit" der Behörden und der Hamburgische Datenschutzbeauftragte Johannes Caspar kritisiert, dass Palantir ausländischen Regeln unterliege und zudem mit US-Geheimdiensten zusammenarbeite.

Justiz

OLG Koblenz – syrische Folterer: Vor dem Oberlandesgericht Koblenz wird vom 23. April an der weltweit erste Prozess gegen mutmaßliche syrische Geheimdienstmitarbeiter wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit stattfinden. Das OLG hat nun die Anklage des Generalbundesanwaltes zugelassen. Sie beruft sich auf das Weltrechtprinzip, um die angeschuldigten Kriegsverbrechen in Deutschland zu verfolgen. Der Angeklagte Anwar R. soll als Mittäter an der Folter von 4000 Menschen sowie der Tötung von 58 Gefangenen beteiligt gewesen sein. Der Angeklagte Eyad A. soll in mindestens 30 Fällen Beihilfe zu Folter geleistet haben, wie lto.de und SZ (mob) schreiben.

BVerfG – Ausgleich bei Betriebsrenten: Das Bundesverfassungsgericht verhandelte über die Aufteilung der Altersversorgung im Falle einer Scheidung. Wenn beim Versorgungsausgleich im Scheidungsurteil eine sogenannte externe Teilung der Betriebsrenten festgelegt wird, könnten Frauen systematisch benachteiligt werden, befürchtet das vorlegende Oberlandesgericht Hamm laut taz und focus.de. Ein Urteil wird in den kommenden Monaten erwartet.

BVerwG zu Suizidmedikament: Seit nunmehr drei Jahren wird das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum Erwerb von Natrium-Pentobarbital zum Zweck der Selbsttötung durch das Bundesgesundheitsministerium nicht beachtet. Im ersten Teil eines zweiteiligen Beitrags bewertet die wissenschaftliche Mitarbeiterin Miriam Lemmert auf juwiss.de dies vor allem mit Blick auf die grundgesetzlich garantierte Gewaltenteilung als problematisch. Sie sieht eine Parallele zu ebenso bedenklichen Fällen wie Stadthalle Wetzlar, Abschiebung von Sami A. und den verweigerten Dieselfahrverboten in München.

BVerfG – Impfpflicht: Der SWR-RadioReport Recht (Gigi Deppe) stellt nun auch die Hintergründe für die Masern-Impfpflicht sowie die dagegen eingereichten Verfassungsbeschwerden dar.

GBA – Mord an Walter Lübcke: Kurz vor Anklageerhebung gegen den mutmaßlichen Mörder Stephan Ernst rekonstruiert die Welt (Tina Kaiser/Alexej Hock) die Geschehnisse rund um die Tötung Walter Lübckes im vergangenen Sommer. Neben den unmittelbar im Zusammenhang mit der Tatnacht stehenden Ereignissen wird ein Bild langanhaltender Bedrohung gegen den CDU-Politiker gezeichnet.

BGH zu Nebenkosten: Für eine wirksame Abrechnung der Nebenkosten genügt es, dass der Vermieter eine Zusammenstellung der Gesamtkosten, den Verteilungsschlüssel und den Anteil des Mieters sowie schon geleistete Vorauszahlungen auflistet. Das entschied der Bundesgerichtshof laut FAZ (Marcus Jung) in einem nun veröffentlichten Urteil.

OVG NRW zu Lenin-Statue: In der Stadt Gelsenkirchen darf eine 2,15 Meter hohe Statue Lenins aufgestellt werden. Die Aufstellung auf einem Privatgrundstück der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD) bedürfe keiner denkmalrechtlichen Erlaubnis, wie nun auch das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen laut lto.de und taz urteilte.

GenStA Jena – Geraer Staatsanwalt: Die Thüringer Generalstaatsanwaltschaft konnte im Verfahren gegen den Staatsanwalt, der gegen die Künstlergruppe "Zentrum für politische Schönheit" wegen Verdachts auf Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelte, keine Anhaltspunkte für ein Dienstvergehen wie fehlende Neutralität feststellen. Das gab eine Sprecherin laut lto.de nun bekannt. Hintergrund der Ermittlungen des Staatsanwalts war eine Aktion der Künstlergruppe, bei der sie in Sichtweite zum Wohnhaus Björn Höckes (AfD) einen Nachbau des Berliner Holocaust-Denkmals errichtet hatte.

Recht in der Welt

Russland – Verfassungsänderung: In Moskau haben russische Abgeordnete eine Verfassungsänderung gebilligt, die unter anderem Mindestlöhne und -renten, die Aufnahme eines Gottesbezuges in die Verfassung sowie die Unvereinbarkeit gleichgeschlechtlicher Ehen enthalten soll. Weil sie ebenfalls die Begrenzung der Amtszeiten des Präsidenten auf maximal zwei reduzieren wird, stimmte die Duma kurzerhand dafür, Putins bisherige vier Amtszeiten auf null zu setzen. Am 22. April wird es eine Volksabstimmung geben, die den geplanten Änderungen die entscheidende Legitimation verleihen wird. U.a. die FAZ (Friedrich Schmidt), die SZ (Frank Nienhuysen), spiegel.de (Christina Hebel) und die taz (Klaus-Helge Donath) berichten.

Silke Bigalke kommentiert das Vorgehen in Russland in der SZ und kommt zu dem Schluss, dass es Putin bei den Reformen der Verfassung letztlich nur darum gehe, die eigene Macht länger zu sichern. Das große "Schauspiel" der Verfassungsänderung sei nach Ansicht Reinhard Wesers in der FAZ nötig gewesen, um Proteste wie nach der "offen vorgetragene[n] einsame[n] Entscheidung Putins" für eine Rückkehr in den Kreml 2012 zu vermeiden.

Niederlande – MH-17: Berichten der SZ (Thomas Kirchner) und zeit.de zufolge warf die niederländische Staatsanwaltschaft am zweiten Verhandlungstag im MH17-Prozess Russland vor, den Prozess mittels Hacker-Angriffen zu sabotieren und Zeugen zu bedrohen. Der russische Diplomat Alexander Lukaschewitsch entgegnete hingegen bei der OSZE, dass die Beteiligten voreingenommen seien, was die Rolle Russlands angehe. In dem Prozess geht es um den Abschuss des Linienfluges MH17 am 17. Juli 2014 auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur über der Ostukraine.

Türkei – Menschenrechte: Für Rechtsprofessorin Bertil Emrah Oder auf verfassungsblog.de waren die groß angelegten Proteste am Weltfrauentag ein Zeichen der Resilienz zivilgesellschaftlichen Engagements für Menschenrechte in der Türkei. Ausführlich beschreibt sie (in englischer Sprache) die Verstrickung von Justiz und Regierung in ihrem Land. Vor allem die Kriminalisierung von Protesten sowie groß angelegte Prozesse um Einzelpersonen wie Osman Kavala zersetzen laut der Rechtsprofessorin die Rechtsstaatlichkeit.

Italien – Carola Rackete: In einem gemeinsamen Beitrag für verfassungsblog.de erörtert u.a. Senior Lecturer Marco Goldoni (in englischer Sprache) die nun veröffentlichte Begründung des Freispruchs der Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete vor dem Obersten Gericht Italiens. Diese hatte im vergangenen Sommer bei dem Versuch, 40 Schiffbrüchige an die Küste Lampedusas zu bringen, ein Schiff der italienischen Guardia di Finanza angefahren. In dem Urteil mache sich das Gericht sowohl für die Rechte ziviler Seenotretter als auch der Geretteten selbst stark.

Libyen – Seenotrettung: Kapitäne deutscher Schiffe, die schiffbrüchige Migranten entgegen der Anweisung der libyschen Küstenwache nicht nach Libyen zurückbringen, begäben sich nach Einschätzung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages zwar in eine rechtliche Grauzone. Von Bußgeldern solle wegen der menschenrechtlichen Bedenken der Kapitäne aber abgesehen werden, so lto.de.

USA – Harvey Weinstein: Im Prozess um den von der Jury schuldig gesprochenen Harvey Weinstein wird am heutigen Mittwoch das Strafmaß verkündet. Kurzfristig hatten die Anwälte Weinsteins, dem bis zu 25 Jahre Haft drohen, unter Verweis auf den Gesundheitszustand ihres Mandanten das Gericht um eine Gefängnisstrafe von fünf Jahren gebeten, wie spiegel.de meldet.

Sonstiges

Corona und Großveranstaltungen: Im Frage-und-Antwort-Format stellt tagesschau.de (Christoph Kehlbach/Frank Bräutigam) die Rechte von Verbrauchern bei abgesagten Events dar. Eine Erstattung von Ticketpreisen sei unproblematisch, auch bei Besitz von Dauerkarten oder Abonnements seien Rückzahlungen einfach einzufordern. Bei der Erstattung von Kosten für Anreise oder Unterkunft seien Verbraucher hingegen auf die Kulanz der Unternehmen angewiesen.

Corona und Vertragsrecht: In einem Gastbeitrag für die FAZ beschreibt Rechtsanwalt Jochen Ellrott verschiedene Vertragsklauseln sowie die gesetzlichen Regelungen in unterschiedlichen Rechtsordnungen, die aufgrund der Coronakrise Einfluss auf die Leistungspflichten der Parteien haben. Vieles spräche etwa dafür, dass sich die Folgen des Coronavirus unter "Höhere Gewalt"-Klauseln subsumieren ließen. Auswirkungen auf die vertraglichen Leistungspflichten seien aber in jedem Fall der anderen Partei unverzüglich mitzuteilen und die Vertragsparteien sollten generell zunächst den Dialog suchen.

Corona und Betriebsversammlungen: Wegen vielfacher Ankündigungen, anstehende Betriebsversammlungen wegen Ansteckungsgefahr mit dem Coronavirus abzusagen, schlägt der Rechtsanwalt Thomas Niklas im Handelsblatt-Rechtsboard virtuelle Betriebsversammlungen mit Videozuschaltung vor. Das Betriebsverfassungsgesetz sieht vor, dass der Betriebsrat vierteljährlich Betriebsversammlungen einzuberufen hat.

Benjamin Ferencz: Am heutigen Mittwoch wird Benjamin Ferencz 100 Jahre alt. Er war Ankläger im Nürnberger Einsatzgruppenprozess 1946 und wirkte maßgeblich an der Entstehung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag mit. In einem Kurzbeitrag in der FAZ (Reinhard Müller) wird der Kampf Ferencz' für Gerechtigkeit und gegen Rache, Vergeltung und Nationalismus als "ebenso hartnäckig wie verschmitzt" beschrieben.


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lto/jpw

(Hinweis für Journalisten)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 11. März 2020: Umbruch am BVerfG / Syrische Geheimdienstler vor Gericht / Verfassungsänderung in Russland . In: Legal Tribune Online, 11.03.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40739/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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