Reaktionen zur Einigung bei der Migration: "Hor­r­or­ka­talog" oder "ver­nünf­tiger Kom­pro­miss"?

07.11.2023

Bund und Länder haben sich nach stundenlangen Beratungen über weitreichende Verschärfungen in der Migrationspolitik geeinigt. Während Bundeskanzler Scholz von einem "historischen Moment" spricht, äußerten sich Unionsvertreter zurückhaltend.

Bund und Länder haben sich nach monatelangem Streit über die Aufteilung der Flüchtlingskosten geeinigt und Maßnahmen zur Verringerung der irregulären Migration nach Deutschland vereinbart. Vorgesehen sind dabei auch Leistungseinschränkungen für Asylbewerber. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach am frühen Dienstagmorgen nach knapp neunstündigen Beratungen mit den Regierungschefinnen und -chefs der Länder von einem "sehr historischen Moment". Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) äußerte sich zurückhaltender und betonte, man habe einen Schritt in die richtige Richtung gemacht. "Klar ist aber auch, dass ein Weg aus sehr vielen Schritten besteht, und natürlich noch weitere Schritte folgen müssen."

Es sei gelungen, dass alle Ebenen des Staates eng zusammenarbeiten, sagte Scholz. "Und das ist auch notwendig, das erwarten die Bürgerinnen und Bürger von uns, dass wir das tun." Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) versicherte, man habe es am Ende geschafft, "wirklich zu einem guten Gesamtergebnis zu kommen".

Er wünsche sich, dass dies nun durch eine Einigung zwischen Bundesregierung und Union ergänzt werde. Der Beschluss von Bund und Ländern biete dafür "eine sehr gute Grundlage". Dass es auch eine Einigung in der umstrittenen Finanzierungsfrage gegeben habe, sei bis zum frühen Morgen ungewiss und keine Selbstverständlichkeit gewesen.

Neuaufteilung der Flüchtlingskosten

Bund und Länder einigten sich auf eine Systemumstellung bei der Finanzierung der Flüchtlingskosten. Vom kommenden Jahr an zahlt der Bund für jeden Asylerstantragssteller eine jährliche Pauschale von 7.500 Euro und nicht mehr eine jährliche Gesamtsumme von derzeit rund 3,7 Milliarden Euro.

Scholz sprach vom "Übergang zu einem atmenden System" und erläuterte: "Mit steigenden Zahlen gibt's mehr Geld, mit sinkenden Zahlen gibt's weniger." Hessens Ministerpräsident Rhein erklärte, dass es zusammen mit Entlastungen um ein Volumen von insgesamt rund 3,5 Milliarden Euro für die Kommunen gehe. Es sei gelungen, "hier Handlungsfähigkeit zu beweisen".

Maßnahmen gegen "unkontrollierte Zuwanderung"

Bund und Länder hielten fest, dass derzeit zu viele Menschen nach Deutschland flüchteten. "Klare und zielgerichtete Maßnahmen gegen unkontrollierte Zuwanderung" seien daher nötig. So will die Bundesregierung prüfen, ob Asylverfahren außerhalb Europas möglich sind. Asylverfahren sollen schneller abgewickelt werden als bisher, dafür setzen sich Bund und Länder neue Zielmarken.

Insbesondere bei Menschen aus Staaten mit einer Anerkennungsquote von weniger als fünf Prozent soll das Asylverfahren in drei Monaten abgeschlossen sein. An den Kontrollen, die Deutschland derzeit an den Grenzen zur Schweiz, Tschechien, Polen und Österreich durchführt, will man festhalten. Asylbewerber in Deutschland sollen mindestens einen Teil ihrer Leistungen künftig als Guthaben auf eine Bezahlkarte bekommen.

Leistungskürzungen, Auslagerung der Verfahren, "Migrations- Kommission"

Wenn sich Verfahren hinziehen, sollen künftig nicht nur 18, sondern 36 Monate lang nur Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gezahlt werden. Aktuell haben Asylbewerber eineinhalb Jahre lang Anspruch auf ein Dach über dem Kopf sowie Nahrung, Kleidung, Gesundheitspflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgütern. Statt solcher Sachleistungen sind teils auch Wertgutscheine oder Geldleistungen vorgesehen. Nach 18 Monaten steigen die Sätze ungefähr auf Höhe der regulären Sozialhilfe. Dieser Schritt soll künftig später erfolgen, was im Effekt eine Kürzung der staatlichen Leistungen bedeutet.

Vor Beginn des Treffens im Kanzleramt hatte es bei den Beratungen der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten dem Vernehmen nach heftigen Streit gegeben. Die unionsgeführten Länder und das grünengeführte Baden-Württemberg überrumpelten die SPD-Seite mit einem Katalog von neuen Forderungen. Sie stellten sich unter anderem hinter einen Vorschlag von NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU), Asylverfahren auch außerhalb von Europa zu ermöglichen. Dies will der Bund nun prüfen - ein Schritt, den SPD, Grüne und FDP ähnlich bereits im Koalitionsvertrag vereinbart hatten.

Bund und Länder beschlossen außerdem, eine Kommission zur besseren Steuerung der Migration einzusetzen. Es soll ein breites gesellschaftliches Bündnis gegründet werden, das gemeinsam Lösungen zur Steuerung der Migration und zur Verbesserung der Integration mit dem Ziel der Bewahrung des gesellschaftlichen Friedens erarbeiten soll. Daran könnten zum Beispiel Kirchen und Gewerkschaften, Wissenschaftler und auch Vertreter von Organisationen teilnehmen, die sich für die Belange von Asylbewerbern einsetzen, hieß es.

Söder: "Gesetzespaket noch vor Weihnachten"

Die Reaktionen auf den Kompromiss fielen je nach Parteizugehörigkeit und politischem Lager unterschiedlich aus: Bayerns Ministerpräsident Markus Söder reagierte mit gemischten Gefühlen: "Positiv: Es bewegt sich was! Negativ: Das reicht noch nicht", schrieb der CSU-Chef am Dienstagmorgen auf der Plattform X. "Wir müssen weiter Druck machen, um die Zuwanderung nach Deutschland zu begrenzen", betonte Söder. Der irreguläre Migrationsdruck müsse unverzüglich und umfassend begrenzt werden. "Sonst droht die völlige Überforderung der Kommunen und eine Gefährdung der politischen Stabilität des Landes", schrieb Söder. Es bedürfe einer wuchtigen Neuordnung statt eines "bloßen Klein-Kleins".

In den Beschlüssen sei "Licht und Schatten" erkennbar, erklärte Söder. Positiv sei die Einführung einer Bezahlkarte in ganz Deutschland und Kürzungen der Leistungen für Asylbewerber, wenn sich Verfahren hinzögen. "Es fehlt aber weiterhin eine Integrationsgrenze, eine Absenkung der Sozialleistungen auf europäisches Maß und die Möglichkeit, die doppelte Staatsbürgerschaft zu entziehen, wenn jemand an IS-Demos und antisemitischen Kundgebungen teilnimmt oder sich nicht zur deutschen Verfassung bekennt." Es brauche noch vor Weihnachten ein großes Gesetzespaket, das dann von Bundestag und Bundesrat verabschiedet werden könne, forderte der CSU-Chef.

CDU: "Kleiner Schritt"

Ähnlich wie Söder äußerte sich auch CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann: "Es ist ein kleiner Schritt", sagte Linnemann am Dienstag im ARD-Morgenmagazin. Das Papier reiche aber "bei weitem nicht aus", um die illegale Migration in Deutschland einzudämmen.

"Wir können jetzt nicht jahrelang warten, bis die europäische Außengrenze wirklich geschützt wird, sondern da müssen wir auch an unseren Grenzen Kontroll- und Transitzentren einführen", so der CDU-Poltiker. Asylbewerber sollten erst dann auf die Kommunen verteilt werde, wenn ein Bleiberecht bestehe. Zudem solle der Familiennachzug eingeschränkt und Asylverfahren in Drittstaaten durchgeführt werden. "In dem Papier heute Nacht steht drin, wir wollen das alles prüfen. Das ist alles zu weich."

Lindner: "Einsparung in Höhe von einer Milliarde"

Demgegenüber zeigte sich die FDP zufrieden mit der Bund-Länder-Einigung zur Finanzierung der Migrationskosten. Die geplante Einschränkung bei den Leistungen für Asylbewerber könne zu Einsparungen in Höhe von einer Milliarde Euro führen, schrieb Bundesfinanzminister Christian Lindner am Dienstagmorgen auf der Plattform X, früher Twitter. Dadurch würden nicht nur Länder und Kommunen entlastet. "Durch diese Maßnahme wird auch die Anziehungskraft des deutschen Sozialstaats reduziert", so der FDP-Chef.

FDP-Fraktionschef Christian Dürr bezeichnete es auf X als "Meilenstein" in der deutschen Migrationspolitik, dass ein Teil der Leistungen für Asylbewerber künftig als Guthaben auf einer Bezahlkarte gewährt werden sollen. Bundesjustizminister Marco Buschmann sagte der dpa: "Es kommen zu viele Menschen nach Deutschland, die hier auf unseren Sozialstaat angewiesen sind. Es ist ein wichtiges Zeichen, dass Bund und Länder gemeinsam verabredet haben, Fehlanreize bei der Migration senken zu wollen." Es gebe Spielräume bei der Höhe und der Dauer des Bezugs nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Mit dem Beschluss von Bund und Ländern sei klar, dass es Konsens sei, diese zu nutzen. "Wir dürfen jetzt keine Zeit verlieren, sondern müssen zügig daran arbeiten, durch weniger Pull-Faktoren zu einer Migrationswende zu kommen", mahnte Buschmann.

Rehlinger sieht "vernünftigen Kompromiss"

Als "vernünftigen Kompromiss" bewertete die saarländische Ministerpräsidentin Anke Rehlinger (SPD) die Ergebnisse der Bund-Länder-Verhandlungen. "Wichtig ist, dass wir endlich ein atmendes System haben", teilte Rehlinger am Dienstag in Saarbrücken mit. Dies werde "Ländern und Kommunen auch helfen können".

Insgesamt seien nach "schweren Verhandlungen" der Regierungschefs der Bundesländer und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), die bis in den Dienstagmorgen dauerten, "wesentliche Verbesserungen" erzielt worden. Den größten Teil der Beratungen hatte das Thema Migration eingenommen. "Es ist der Wille aller erkennbar, dass wir ein neues Kapitel von Humanität und Ordnung in der Migrationspolitik aufschlagen", sagte Rehlinger.

Positiv reagierte auch die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD): "Wir haben heute wichtige Beschlüsse gefasst, um mit Humanität und Ordnung die Flüchtlingsbewegung in Deutschland zu regulieren", ergänzte Dreyer am Dienstagmorgen in Mainz. "Es ist ein wichtiges Signal an die Menschen in unserem Land, dass alle staatlichen Ebenen auch über Parteigrenzen hinweg zu spürbaren Lösungen gekommen sind." Allerdings, so Dreyer, müsse man mehr Kraft in die Integration der Geflüchteten stecken. "Wir Länder haben den Bund aufgefordert, mehr in Integrations- und Sprachkurse zu investieren, statt sie zu reduzieren, wie bislang beabsichtigt war."

Scharfe Kritik von Linken und Grüner Jugend

Scharf kritisiert wurden die Bund-Länder-Beschlüsse zur Migrationspolitik von der Grünen Jugend: "Die vorgesehenen Asylrechtsverschärfungen sind eine Katastrophe und reihen sich in den migrationspolitischen Rechtsruck ein", sagte die Co-Chefin der Grünen Nachwuchsorganisatin, Katharina Stolla, am Dienstag der dpa in Berlin.

Es sei fahrlässig, dass Kommunen weiterhin unterfinanziert blieben, so Stolla. "Insbesondere die Leistungskürzungen und die Auslagerung von Asylverfahren sind unmenschlich, unnötig und möglicherweise rechtswidrig." Dass auch von Grünen mitregierte Bundesländer diese Vorschläge mittrügen, sei "falsch und entlarvend": Der Rechtsruck sei in der Mitte der Parteienlandschaft angekommen. "Dass die versammelte Mannschaft - in Bund und den meisten Ländern - mit so einer Politik rechts überholen will, stärkt am Ende nur Rechte und gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Diese Politik gefährdet Menschenleben und unsere Demokratie."

Die Linke im Bundestag kritisierte die Beschlüsse als "desaströs". Sie atmeten den Geist der Abschottung, erklärte die fluchtpolitische Sprecherin der Fraktion Clara Bünger. "Erneutes Bekenntnis zur Abriegelung der Festung Europa und zu härteren Abschiebegesetzen; Absenkung von Sozialleistungen für Geflüchtete; Prüfung, ob Asylverfahren auch außerhalb der EU durchgeführt werden können; kein Rechtsanspruch auf Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte - dass Scholz diesen Horrorkatalog als Ergebnis einer historisch guten Zusammenarbeit ansieht, ist bezeichnend", so Bünger. "Menschen fliehen, weil Kriege, repressive Regime und existenzbedrohende Armut sie dazu zwingen, nicht, weil sie sich besonders hohe Sozialleistungen erhoffen. Die Kommunen müssten in die Lage zu versetzen, um Geflüchtete menschenwürdig unterzubringen und zu versorgen. "Angriffe auf die Menschenwürde, ob per Leistungskürzung oder Entrechtung, sind keine Alternative", so die Juristin.

dpa/mw/LTO-Redaktion
 

Zitiervorschlag

Reaktionen zur Einigung bei der Migration: "Horrorkatalog" oder "vernünftiger Kompromiss"? . In: Legal Tribune Online, 07.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53094/ (abgerufen am: 27.04.2024 )

Infos zum Zitiervorschlag
Jetzt Pushnachrichten aktivieren

Pushverwaltung

Sie haben die Pushnachrichten abonniert.
Durch zusätzliche Filter können Sie Ihr Pushabo einschränken.

Filter öffnen
Rubriken
oder
Rechtsgebiete
Abbestellen