Türkischer Staatsrechtler zu Präsidialsystem: "Der Aus­nah­me­zu­stand bleibt in Ge­setzes­form bestehen"

Interview von Marion Sendker

13.07.2018

Recep Tayyip Erdogan hat sich als Präsident vereidigen lassen, zugleich soll auch der Ausnahmezustand enden. Damit ändert sich alles und am Ende auch wieder nichts für die Türkei, erklärt Professor Osman Can.

LTO: Insgesamt 74 Verfassungsänderungen und etwa 5.000 Änderungen in einfachen Gesetzen sind nötig gewesen, um die Türkei auf das neue exekutive Präsidialsystem umzustellen. Trotzdem hat Recep Tayyip Erdogan einen Tag vor seiner Vereidigung am Montag noch einmal unter den Regeln des Ausnahmezustandes per Notstandsdekret mehr als 18.600 Staatsbedienstete entlassen. Herr Can, hat er das bewusst gemacht, weil es nach dem Ende des Ausnahmezustands fortan nicht mehr so einfach möglich sein wird?

Professor Osman Can: Das könnte sein. Aber was heißt schon, dass es nicht mehr möglich sein wird? Erdogan selbst hat ja nach der Wahl versprochen, dass man den Ausnahmezustand nicht noch einmal verlängern werde. Mit solchen Entlassungs-Maßnahmen wird trotzdem nicht Schluss sein. Denn auch durch Verwaltungsakte können Menschen aus ihren Ämtern entlassen werden - nur dann eben so, dass es rechtlich kontrollierbar ist. Die Dekrete, die im Rahmen des Ausnahmezustands erlassen wurden, können nämlich nicht vom Gericht kontrolliert werden. Deswegen liegt es nahe, dass die Regierung jetzt noch einmal ausgeholt hat und mit dem letzten Dekret so viel wie möglich geregelt - bzw. so viele Menschen wie möglich - entlassen hat.

Wird es in Zukunft noch möglich sein, solche Dekrete zu erlassen?

Das ist in der Praxis ein bisschen komplizierter geworden. Zum Überblick:

Während des parlamentarischen Regierungssystems – ohne den Ausnahmezustand - konnte die Regierung nur Verordnungen mit Gesetzeskraft erlassen, soweit das Parlament sie dazu ermächtigt hatte.

Bild: PrivatFür die Dekrete zur Zeit des Ausnahmezustandes benötigte die Regierung keine parlamentarische Gesetzesgrundlage mehr; ein Ermächtigungsgesetz war nicht mehr nötig.

Das Kabinett konnte deshalb unter dem Vorsitz des Staatspräsidenten im Ausnahmezustand Dekrete in Form von Rechtsverordnungen mit Gesetzeskraft erlassen, die vorläufig vollziehbar und in Kraft waren. Das Parlament hatte noch ein letztes Stück Bedeutung: Nach Erlass der Dekrete mussten diese dem Parlament nämlich vorgelegt und vom Parlament gebilligt werden. Die Dekrete waren aber grundsätzlich von der Kontrolle des Verfassungsgerichts ausgenommen.

Was ändert sich denn im neuen Präsidialsystem nach Aufhebung des Ausnahmezustandes?

Präsidialdekrete juristisch kaum angreifbar

Das neue System sieht keine solchen Rechtsverordnungen mit Gesetzeskraft mehr vor. Der Präsident kann dann aber sogenannte Präsidialdekrete erlassen. Für die braucht er keine parlamentarische Grundlage oder Ermächtigung mehr. Diese Präsidialdekrete sind nur unter gewissen Voraussetzungen angreifbar. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn sie gegen den Gesetzesvorbehalt verstoßen. Außerdem dürfen Präsidialverordnungen nicht im Widerspruch zu schon bestehenden einfachen Gesetzen stehen und der Präsident hat auch keine Kompetenzen, mit Dekreten Sachverhalte neu zu regeln, die schon von einem Gesetz geregelt sind. Auch da unterscheidet sich die Präsidialverordnung von der Rechtsverordnung mit Gesetzeskraft - letztere darf bestehende Gesetze nämlich noch ändern.

Diese Dekrete sind dann nur noch über den Weg zum Verfassungsgericht angreifbar?

Ja, und das geht laut neuer Verfassung nur, wenn eine der beiden größten Parteien im Parlament klagt oder ein anderes Gericht die entsprechende Präsidialverordnung dem Verfassungsgericht im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens vorlegt. Das ist alles möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich. So hat Erdogan nun die Möglichkeit, ganz alleine alle Bereiche der Exekutive zu kontrollieren. Man könnte auch sagen: Erdogan ist fortan die Exekutive.

Heißt das, also auch nach dem Ende des Ausnahmezustands ändert sich für die Bürger auf der Straße de facto nichts?

De facto gibt es keinen Unterschied. Es wird alles weiterlaufen, wie in den letzten zwei Jahren. Es wird nur gewisse Institutionen nicht mehr geben - wie etwa den Premierminister oder den Ministerrat.

Noch hinzukommt, dass die vielen Dekrete, die während des Ausnahmezustands erlassen wurden, fortan weitergelten. Das geht nur, weil das Parlament die Maßnahmen nachträglich gebilligt und für eine Grundlage gesorgt hat oder noch sorgen wird. Das ist ausgeklügelt und für das gesamte System problematisch, denn damit bleiben die Maßnahmen, die auf Dekreten aus der Zeit des Notstandes zurückgehen, legitim und in Kraft. Ich meine damit zum Beispiel die Massenentlassungen oder die personelle Umstrukturierung des Militärs. Die Folge: Auch wenn der Ausnahmezustand aufgehoben wird: Er bleibt in Form der Gesetze bestehen und wird somit in gewisser Weise normalisiert.

Gibt es ein Land, das ein vergleichbares System hat, wie es die Türkei ab jetzt haben wird?

Das ist schwer zu sagen. Sehr vorsichtig würde ich das in Teilen bejahen. Eine vergleichbare Situation ist vielleicht in Peru zu beobachten. Dort finden auch Präsidenten- und Parlamentswahlen gemeinsam statt. Was aber die Grundrechte angeht, ist es in Peru besser bestellt. Da sind vielleicht die Systeme in Russland, Ungarn oder ein wenig in Polen vergleichbar.

Wissen Sie, bis vor ein paar Jahren war ich ja selbst in der AKP und habe an einer Verfassungsreform gearbeitet, aber in eine andere Richtung. Es ging schon wie in Amerika in die Richtung eines Präsidentialsystems, aber so, dass das Parlament eine entscheidende Rolle spielt und dass Maßnahmen des Präsidenten kontrollierbar sind. Das hat sich aber nicht durchgesetzt und damit ist das neue System in der Türkei in gewisser Weise weltweit einzigartig.

Welche Rolle spielt denn fortan das Parlament, das ja ab dieser Wahl um 50 Abgeordnete auf 600 Parlamentarier erweitert wurde?

Die Rolle der Legislative ist gering – und zwar egal wie viele Abgeordnete im Parlament sitzen. Nur wenn das Parlament eine neue und eine geschlossene Mehrheit bekommt, die sich dem Willen des Präsidenten widersetzt und andere Gesetze verabschieden würde, hätte es noch eine Bedeutung für die Türkei. Bei den gegenwärtigen Mehrheitsverhältnissen ist es aber praktisch bedeutungslos.

Zwar hat Erdogans Partei, die AKP, keine absolute Mehrheit mehr im Parlament, durch eine Koalition mit der rechtsnationalen MHP dürfte das aber nicht zu einem Problem für Erdogan werden, oder?

"Erdogan braucht kein Parlament, um zu regieren"

Selbst, wenn. Die AKP-Regierung hat während des Ausnahmezustandes ausreichend Gesetze nach ihrem Belieben geschaffen, sodass kaum noch neue Gesetze oder Reformen nötig sind. Erdogan braucht kein Parlament, um noch zu regieren. Selbst für das Haushaltsgesetz braucht die Regierung das Parlament nicht mehr. Denn auch wenn das Parlament noch die Budget-Hoheit hat, wird der Entwurf des Haushaltsgesetzes vom Präsidialamt vorbereitet und dem Parlament vorgelegt, das dann entscheidet. Würde das Parlament diesen Entwurf ablehnen, hätte das nicht zur Folge, dass die Regierung ihre Kompetenz verliert. Denn dann würde entweder ein vorläufiges Haushaltsgesetz in Kraft treten, oder - was viel praxisrelevanter ist - das alte Haushaltsgesetz entsprechend der Inflationsrate aktualisiert und weiter verwendet. Es spielt also eine kaum eine signifikante Rolle, wer im Parlament die Mehrheit hat.

Durch die Präsidialdekrete kann jetzt quasi am Parlament vorbei regiert werden. Befürworter des Systems nennen das "Gewaltenteilung", andere sprechen von "Autokratie". Manche nennen den gewählten Präsidenten der Türkei sogar einen Diktator. Geht das zu weit?

Ja, denn die Türkei ist keine Diktatur, sie ist tatsächlich eine Autokratie, in der die Institutionen übrigens kaum in der Lage sein werden, den Bedürfnissen der Menschen gerecht zu werden. Es bleiben zwar formal-demokratische Elemente wie Wahlen und das Parlament, in dem Vertreter aus mehreren Parteien sitzen, bestehen, aber das eben nur auf dem Papier. Die Türkei wird geführt von einer rein populistischen Regierung, Dieser Populismus hat sich in der Türkei durch die jüngsten Verfassungs- und Gesetzesänderungen etabliert, das ist das Problem.

Inwiefern wirkt sich das auf die internationalen Beziehungen des Landes aus?

Ich sehe die Gefahr, dass die Regierung die Vernunft verliert. Das ist typisch für Populisten. Wenn der Präsident aber nicht mehr rational denkt und handelt, dann wirkt sich das auch auf die Institutionen im Lande aus, die er ja kontrolliert, weil er ein Alleinherrscher ist – und dann kann man auch diplomatisch und international gesehen kein Vertrauen mehr in das Land haben. b. Denn die Regierung handelt nicht mehr rational. Bei der Türkei haben wir es nun mit einem System zu tun, in dem ein Mann quasi alleine das Sagen hat.

Es fehlt die bürokratische und institutionelle Autonomie der Türkei, der Staatsapparat kann ohne Erdogan keine Eigeninitiative mehr zeigen. Das bedeutet, wir haben jetzt einen Mann, der eine 80-Millionen-Menschen-Gesellschaft kontrolliert und alleine für alle Probleme und Herausforderungen zuständig ist, die die Türkei umgeben. Das kann einer alleine gar nicht schaffen und rational behandeln. Was bleibt? Irrationalität. Und die wird dem Land noch mehr Problemen bringen.

Was passiert, wenn dieses 1-Mann-System seinen einen Mann einmal verlieren sollte und Erdogan nicht mehr da ist?

Dann würde das System kollabieren. Man hat die Verfassungsänderungen auf Herrn Erdogan zugeschnitten. Wenn er nicht mehr da sein sollte, werden die staatlichen Institutionen nicht wissen, wie dann zu regieren ist, denn es gibt keinen kompetenten Ersatz.

Zitiervorschlag

Türkischer Staatsrechtler zu Präsidialsystem: "Der Ausnahmezustand bleibt in Gesetzesform bestehen" . In: Legal Tribune Online, 13.07.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/29729/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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