Die Frau im Sachsenspiegel: Bevormundet, enteignet und wirtschaftlich abhängig

Jochen Barte M.A.

24.02.2011

Prozesse unserer Tage wie im Fall Kachelmann zeigen, dass die Frage nach Schuld und Unschuld nach wie vor die Gemüter bewegt. Niemand aber käme noch auf die Idee, die Prozessfähigkeit beteiligter Frauen grundsätzlich für problematisch zu halten. Vor 800 Jahren war dies noch ganz anders.

Zur Entstehungszeit des Sachsenspiegels, dem bedeutendsten Rechtsbuch des Mittelalters in deutscher Sprache, wäre es nämlich undenkbar gewesen, dass eine Frau selbstständig vor Gericht auftritt und sich artikuliert. Ganz gleich in welchem prozessrechtlichen Verhältnis, sie hätte dazu eines Prozessvormunds, einer Munt, bedurft. Im ersten Buch des Landrechts des Sachsenspiegels war für solche Fälle unmissverständlich festgelegt: "Maget unde wif moten vormunde hebben an iewelker klage, (...) Mädchen und Frauen müssen also bei jeder Art von Klage einen Vormund haben, da man sie, so heißt es weiter, nicht anhand dessen überführen könne, was sie vor Gericht sprächen oder täten, SSP I, 46.

Damit scheint der Fall bereits schon klar, ohne dass er überhaupt noch eingehend untersucht werden müsste: Eindeutige Benachteiligung der Frau im Recht des Sachsenspiegels wegen genereller Unzurechnungsfähigkeit. Und wem kämen da nicht auch vergleichbare moraltheologische Variationen dieses Arguments in den Sinn?

So einfach liegen die Dinge allerdings keineswegs. Das mittelhochdeutsche Wort Munt bedeutet Hand oder Schutz, was der genannten Formulierung im Landrecht zumindest die zunächst unterstellte abwertende Eindeutigkeit nimmt. Moderne Vorstellungen, etwa über die Gleichberechtigung, bei der Beurteilung rechtlicher Verhältnisse unreflektiert auf die Vergangenheit zu übertragen, ist ein Fehler.

Sicher, Recht ist immer auch Herrschaft. Aber nicht nur und ausschließlich. Ein differenziertes Bild stellt sich erst dann ein, wenn die Frage nach der Rechtswirklichkeit - die nicht zwangsläufig mit der kodizifierten Rechtstheorie übereinstimmen muss - zu den entsprechenden Rechtsquellen in Beziehung gesetzt wird. Der Sachsenspiegel ist als Rechtsquelle im Rahmen dieses weitaus komplexeren Sachverhalts also nicht mehr als ein Indiz, wenngleich ein gewichtiges.

Spiegel der mündlichen Überlieferung

Verfasst in der Zeit zwischen 1220 und 1230 von dem sächsischen Ritter Eike von Repgow stellt der Sachsenspiegel den ältesten Versuch dar, germanisches Stammesrecht in seiner strukturellen Gewachsenheit aus dem Prozess der lediglich mündlichen Überlieferung herauszulösen und nunmehr schriftlich "widerzuspiegeln". Eine genuine Rechtsetzung hat Eike hingegen nicht intendiert und er hat auch keine differenzierte Systematik entwickelt. Sein Werk ist thematisch einzig in die Bereiche Landrecht und Lehenrecht unterteilt. Das Landrecht betraf Fragen der mittelalterlichen Lebensordnung wie Erbrecht, Eherecht oder Eigentumsrecht, während das Lehenrecht das Feudalverhältnis von Lehensherr und Lehensmann regelte. Das Recht der Dienstmannen, der unfreien Leute, war dagegen ausgeklammert. Oberster Gerichtsherr war der König.

In Bezug auf die rechtliche Stellung der Frau spielte der bereits erläuterte Begriff der Munt eine zentrale Rolle: Denn die Frau stand nicht nur bei prozessualen Fragen unter Vormundschaft, sondern auch sonst. Bis zur Ehe übte der Vater oder der nächste männliche Verwandte die Muntgewalt aus. Mit der Eheschließung gelangte die Frau unter die Vormundschaft ihres Mannes mit der Folge, dass sie wirtschaftlich völlig abhängig war: "Swen en man wif nimt, so nimt he in sine were al er gut to rechter vormuntscap." (Wenn ein Mann eine Frau zur Ehe nimmt, so nimmt er all ihr Gut in seinen Besitz zu rechter Vormundschaft), SSP I 31, 2.

Es erfolgte zwar keine Verschmelzung der beiderseitigen Vermögensmassen, der Ehemann erlangte aber die alleinige Verfügungsgewalt über die Güter der Frau und das gemeinsam Erwirtschaf-tete ging in das Eigentum des Mannes über. Außerdem konnte der Ehemann alle Geschäftsabschlüsse wieder rückgängig machen - kein partieller Gläubigerschutz wie bei § 1357 BGB möchte man anfügen. Auch wurde die Arbeitsleistung der Frau nicht gesondert vermögensrechtlich berücksichtigt.

Angenehm für den Ehemann war die Tatsache, dass er von der Ehefrau nicht verklagt werden konnte. Er war ja ihr Vormund. Umgekehrt war er aber seinerseits für die Frau haftungsrechtlich verantwortlich, da sie als Mündel seine Schutzbefohlene war. Bei Scheidung der Ehe oder bei Tod des Ehegatten fiel die Ehefrau dann wieder unter die Vormundschaft ihrer Familie bzw. sie erhielt einen Vormund aus der Familie ihres verstorbenen Mannes.

Faktisch war sie damit zeit ihres Lebens von öffentlichem Handeln fast ausgeschlossen. Dass die Frau nun aufgrund geschlechtsspezifischer Schwäche grundsätzlich dem umfassenden System der Vormundschaft überantwortet wurde, kann aber dennoch nicht prinzipiell angenommen werden. Vielmehr war im Vormundschaftsrecht des Sachsenspiegels auch der Schutzgedanke präsent, wonach es als zweckmäßig angesehen werden konnte, Frauen, die ja keine Waffen tragen durften, nicht ohne Beistand dem als Kampf ausgestalteten mittelalterlichen Prozess auszusetzen, vgl. SSP I 48, 3.

Eheschließung per Konsens oder Koitus

Für den Akt der Eheschließung selbst galt das sogenannte Konsensprinzip: Die Braut traute sich mit der Einwilligung ihres Muntherrn über einen von ihr gewählten Trauungsvormund, üblicherweise ein Geistlicher, dem Manne an. Daneben sah das Recht des Sachsenspiegels die copula carnalis, die körperliche Vereinigung, als eheschließenden Akt an, SSP III 45-3, mit rechtlicher Wirkung im sozialen und gesellschaftlichen Bereich. 
Eine Scheidung als Pendant zur Eheschließung, vergleichbar dem heutigen Recht, kannte der Sachsenspiegel dagegen nicht. Er regelte nur den spezifischen Fall, "dass einer ein Weib zur Ehe nimmt, das er nicht haben darf 8...)", SSP III, 27, also ein Nichtwissen um einen Standesunterschied vorlag, welches die Ehe von Anfang an nichtig machte.

Im Erbrecht war die Frau dem engeren Verwandtenkreis des Mannes nachgestellt. Sie erbte erst dann, wenn kein Sohn, Vater oder Bruder des verstorbenen Ehemanns noch lebte. Allerdings durfte sie die ihr bestellten Nutzungsrechte an Grundstücken und Zubehör weiter ausüben. Auch durfte sie die Morgengabe, vgl. SSP I 20, 1, das Geschenk des Ehemannes an die Ehefrau als Dank für deren körperliche Hingabe, behalten.

In strafrechtlicher Hinsicht schützte der Sachsenspiegel die Frau besonders gegen Sexualdelikte. Auf Notzucht stand die Todesstrafe, egal welchen Standes die Frau war. Dies ist erklärbar mit den zu dieser Zeit einsetzenden Bestrebungen, die Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung stärker zu gewichten, um durch öffentliche Bestrafung das Recht der Selbsthilfe zurückzudrängen. Eine Bestrafung des Rechtsguts der weiblichen Geschlechtsehre kannte der Sachsenspiegel nicht. Bemerkenswert aus heutiger Sicht war die Rechtspraxis, dass bei Notzucht nicht nur eine Strafe gegen den Täter verhängt wurde, sondern auch gegen beteiligte Sachen und Tiere. So wurde ein Gebäude zerstört, wenn in ihm eine Notzucht stattgefunden hatte. Waren Tiere zugegen, wurden diese geköpft.
Hinsichtlich einer Bestrafung machte der Sachsenspiegel überwiegend keinen Unterschied zwischen Frauen und Männern.

Beim Ehebruch wurden beide Partner, sofern sie auf frischer Tat betroffen worden waren, mit dem Tode bestraft (SSP II 13, 5). Die Gundtendenz zur Anerkennung der Rechtspersönlichkeit der Frau war deutlich erkennbar. Das zeigt der Priviligierungstatbestand in SSP III 3, wonach schwangere Frauen bei festgestellter Delinquenz nur "an Haut und Haaren" bestraft werden durf-ten. Dies geschah durch Haareabschneiden oder "Stäupen". Beim Stäupen wurde die Frau an einer Staupsäule angebunden und mit einem "Staupbesen" körperlich gezüchtigt.

Das Recht des Sachsenspiegels spiegelte nicht pauschal eine willkürlich intendierte Schlechterstellung der Frau wider. Vielmehr war bereits zu Eikes Zeit im germanischen Recht ein differenziertes System des Rechtsgüterschutzes vorgebildet, das zwar naturgemäß die Vorstellungen seiner Zeit reflektierte, aber auch um Ausgewogenheit und Interessenausgleich bemüht war, mithin um Prinzipien, die bis heute das Recht ganz allgemein prägen und diesem Werk seine besondere rechtshistorische Stellung sichern.

 

Literatur:

Eike von Repgow: Der Sachsenspiegel. Hrsg. von Clausdieter Schott. Zürich: Manesse 2006.

Fricke, Friedrich-Wilhelm: Das Eherecht des Sachsenspiegels. Frankfurt a.M.: Haag und Herchen 1978.

Rummel, Mariella: Die rechtliche Stellung der Frau im Sachsenspiegel-Landrecht. Frankfurt a.M.: Peter Lang 1987.

Zitiervorschlag

Jochen Barte M.A., Die Frau im Sachsenspiegel: Bevormundet, enteignet und wirtschaftlich abhängig . In: Legal Tribune Online, 24.02.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2620/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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