So könnte man die juristische Ausbildung einfach verbessern
Überlange Verfahrensdauern vor den Gerichten, unbearbeitete Akten in Justiz und Verwaltung, Frust bei den Mitarbeiterinnen und Rechtsschutzsuchenden: Wir erleben bereits heute einen eklatanten juristischen Fachkräftemangel, der sich noch verschärfen wird – bis 2030 werden rund 40 Prozent der Juristinnen und Juristen aus dem öffentlichen Dienst ausscheiden.
Die Gründe, warum viele der juristischen Ausbildung den Rücken kehren, sind bekannt, Studien wie die großangelegte von iur.reform oder auch Umfragen von RefKo und dem Bundesverband der rechtswissenschaftlicher Fachschaften haben sie hinreichend aufgezeigt. Die Jurastudierenden und Referendarinnen und Referendare leiden unter unfairen Prüfungsbedingungen sowie unter großem psychischem Druck und sehen sich unzureichend auf die Staatsexamina vorbereitet.
Ausgehend hiervon tun alle Stimmen dem Rechtsstaat einen Bärendienst, die die Reformbedarfe weglächeln, den Status quo verherrlichen oder das Hauptproblem bei den Studierenden verorten. Dies gilt gleichermaßen für die Justizministerkonferenz, die im Juni 2024 ohne repräsentative Datengrundlage erklärt hatte, dass bei der juristischen Vollausbildung "grundlegender Reformbedarf nicht besteht", wie für unqualifizierte und herablassende Beiträge, die den Jura-Bachelor als "Loser-Abschluss" verunglimpfen oder die die Leistungsbereitschaft der heutigen Studierenden verhöhnen.
Wo sollen die Menschen herkommen?
Wenn wir wieder mehr Menschen in juristische Berufe bringen wollen, müssen wir – neben den Arbeitsbedingungen – die Ausbildung verbessern. Zahlreiche kluge Reformvorschläge wurden in den vergangenen Jahren vorgebracht und vor allem durch iur.reform zusammengetragen, aber auch durch lokale Initiativen verstärkt.
Indes getan hat sich wenig. Mit der Ausnahme einiger reformfreudiger Unis hängt Fortschritt an den juristischen Fakultäten vom Elan einzelner "Champions" ab, die Veränderungen gegen den Widerstand von Kollegen oder der Universitätsverwaltung hart erkämpfen müssen. Die Justizministerien scheinen dem Thema keine Priorität beizumessen; teilweise haben sich die Ausbildungsbedingungen sogar verschlechtert, etwa in NRW, wo der Justizminister knapp ein Drittel der Referendariatsplätze dem Sparzwang opfert.
Hohes inhaltliches Niveau beibehalten
Um gleich vorweg einem oft vorgebrachten Scheinargument gegen Reformen der juristischen Ausbildung den Wind aus den Segeln zu nehmen: Sinnvolle Reformen zielen nicht darauf ab, die hohen inhaltlichen Anforderungen an angehende Juristinnen und Juristen zu reduzieren. Es bedarf jedoch systematischer Verbesserungen der Ausbildungsqualität, damit die angehenden Juristinnen und Juristen besser für die anspruchsvollen Staatsprüfungen gewappnet sind und die erforderlichen Fähigkeiten erwerben, um den Anforderungen in Justiz, Rechtsanwaltschaft und Wirtschaft gerecht zu werden.
Konkrete Reformvorschläge sollten ansetzen an den Ausbildungsbedingungen in Studium und Referendariat, an den Prüfungsbedingungen in den beiden juristischen Staatsexamina und im Bereich Digitalisierung.
Lehrprofessuren statt privates Rep
Die hinreichende Vorbereitung der Studierenden auf das erste Staatsexamen ist vielerorts ein Problem. Denn ca. 70-90 Prozent eines Studienjahrgangs an den meisten staatlichen juristischen Fakultäten besuchen zur Bewältigung des Staatsexamens ein privates Repetitorium. Dieser traurige Zustand ist aber nicht alternativlos.
Eine mögliche Lösung gibt die Universität Passau vor: Das dortige Examensvorbereitungsprogramm ist so gut und so beliebt, dass über 85 Prozent der Studierenden in Passau das erste Staatsexamen ohne Repetitor bewältigen. Ein Schlüssel zu diesem Erfolg ist die Einrichtung von Lehrprofessuren. Diese besetzen didaktisch herausragende Persönlichkeiten, denen als Dienstaufgabe eine überwiegende Tätigkeit in der Lehre übertragen wird (Art. 59 Abs.1 S. 6 BayHIG) – damit diese nicht zugunsten der Forschung vernachlässigt wird.
Einheitliche Unterlagen statt Abhängigkeit vom Ausbilder
Auch im Referendariat bestehen Spielräume für Verbesserung: So hängt die Qualität der Ausbildung zu sehr von den Fähigkeiten der Ausbilder und den von ihnen bereitgestellten Lernunterlagen ab.
Die Lösung: Das Justizministerium NRW entwickelt seit kurzem umfassende einheitliche Ausbildungsunterlagen für alle Stationen außer der Anwaltsstation. So wird zentral die Qualität der Lernunterlagen für alle Referendarinnen und Referendare gewährleistet, und die Ausbilderinnen und Ausbilder können sich auf die Vermittlung juristischer Fähigkeiten konzentrieren.
Der größte qualitative Verbesserungsbedarf für das Referendariat besteht nach Berichten aus den meisten Bundesländern in den Arbeitsgemeinschaften der Rechtsanwaltsstation. Die Vertreterinnen und Vertreter meiner Zunft, die die Arbeitsgemeinschaften leiten, sind – von nennenswerten Ausnahmen abgesehen – zu oft nicht gut genug geeignet, die Referendarinnen und Referendare anwaltlich auszubilden. Dies liegt in der Natur der Sache: Brillante Anwältinnen und Anwälte, die eine hervorragende anwaltliche Ausbildung leisten könnten, haben zu viel zu tun und zu wenig Anreize, ihre Mandatsarbeit gegen Ausbildungsarbeit im Auftrag der Ausbildungsgerichte einzutauschen.
Anwalt-AGs abschaffen, digitale Schulungen einführen
Auch die anwaltlichen Berufsorganisationen verlangen schon seit langem eine gezieltere Ausrichtung der Ausbildung auch auf den Anwaltsberuf. Um hier nennenswerte Verbesserungen zu schaffen, kommt eine radikal anmutende Veränderung in Betracht: Die rechtsanwaltlichen Arbeitsgemeinschaften sollten in der bestehenden Form abgeschafft und durch hochwertige interaktive Schulungseinheiten ersetzt werden, auf die alle Referendarinnen und Referendare jederzeit digital zugreifen können. Bei deren Erstellung sollten die Verantwortlichen mit der Bundesrechtsanwaltskammer und dem Deutschen Anwaltverein zusammenarbeiten, um eine Ausbildung zu gewährleisten, die sowohl die prüfungsrelevanten Inhalte als auch die beruflichen Anforderungen des Anwaltsberufs vermittelt.
Der einmalige Anschaffungs- und Entwicklungsaufwand rechtfertigt sich aus der Bedeutung einer exzellent ausgebildeten Anwaltschaft, beinhaltet aber auch ein erhebliches Einsparpotential: Denn die rechtsanwaltlichen Arbeitsgemeinschaften verursachen laufend hohe Kosten für den Steuerzahler, ohne den damit verfolgten Nutzen zu erbringen.
Verdeckte Zweitkorrektur, keine Kenntnis der Vornoten
Das Korrektursystem der juristischen Staatsexamina ist grob fehleranfällig und die Objektivität der Bewertungen unterliegt grundlegenden Zweifeln. Eine wissenschaftliche Untersuchung der Korrektur juristischer Anfängerklausuren hat 2024 aufgezeigt, dass bei der Bewertung derselben Klausur durch 15 verschiedene Korrektoren die durchschnittliche Abweichung zwischen niedrigster und höchster gegebener Note bei 6,47 Punkten liegt. Es liegt nahe, dass sich dies auch in der Bewertung von Examensklausuren fortsetzt.
Entsprechend sollte zunächst eine verdeckte Zweitkorrektur eingeführt werden, bei der – anders als gegenwärtig – der Zweitkorrektor die Note der Erstkorrektur nicht kennt. So könnte verhindert werden, dass sich der Zweitkorrektor aus Zeit- und Aufwandsgründen einfach der Benotung der Erstkorrektorin anschließt und damit eine unabhängige Zweitkorrektur beeinträchtigt. Die Endnote würde stattdessen durch den Durschnitt der Erst- und Zweitkorrekturnote gebildet und so die Objektivität der Examensleistung gesteigert.
Das Gleiche gilt für die Vornotenkenntnis in der mündlichen Prüfung: Prüfungskommissionen der mündlichen Prüfungen kennen die schriftlichen Vornoten der Kandidatinnen und Kandidaten und orientieren sich in ihrer Notengebung in der mündlichen Prüfung daran. Das führt häufig dazu, dass sie sich an den relevanten Notenschwellen orientieren oder auch eine hohe Note für eine eigentlich gute Leistung nicht vergeben, weil sie zu stark von den schriftlichen Vornoten abweicht. Würde das Wissen zu den Vornoten fehlen, würde auch dies die Objektivität der Begutachtung der Examensleistung steigern und gleichzeitig systematische Ungleichbehandlungen, die in mündlichen Prüfungen nachgewiesen sind, reduzieren.
KI als persönlicher Tutor
Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Aber Digitalisierung eröffnet große Potenziale zur Steigerung der Lernleistungen. Die Lernwissenschaft weiß schon seit über zehn Jahren, dass digitalisierte Lernmittel im Vergleich zu herkömmlichen Lernmitteln zu deutlich besseren Lernergebnissen führen. Das gilt insbesondere für das sog. blended learning, bei dem Lernende ihre Lehrveranstaltungen mit digitalen Anwendungen im Selbststudium vor- und nachbereiten und der Schwerpunkt der Lehrveranstaltung dann nicht auf der Wissensvermittlung liegt, sondern auf der Anwendung.
Digitale Lernmittel auf Basis generativer künstlicher Intelligenz werden diese Lernleistung in Zukunft auf eine neue Ebene heben können, indem sie eine individuelle Betreuung ermöglichen – gleich einem persönlichen Tutor. Bislang ist der Zugang zu juristischem Einzelunterricht ein Kostenproblem und nur ganz wenigen Menschen vorbehalten. Das Bloom’sche 2-Sigma-Problem zeigt aber, dass Lernende, die individuell betreut werden, durchschnittlich besser abschneiden als 98 Prozent derjenigen Lernenden, die nicht individuell betreut werden. Digitalisierung eröffnet damit auch neue Wege, um den Zugang zu individualisierter juristischer Ausbildung zu demokratisieren.
Eine erster Lösungsansatz liegt darin, an den juristischen Fakultäten und den Ausbildungsgerichten Kompetenzträger zu benennen – nennen wir sie Chief Digital Officers – , die sich hierzu fortbilden und digitale Elemente in die juristische Ausbildung integrieren. So wie unsere Universitäts- und Gerichtsbibliotheken juristische Lehrbücher, Kommentare und Datenbanken zur Verfügung stellen, so sollten sie den Studierenden und Referendarinnen und Referendaren auch das Lernen mit digitalisierten Lernmitteln und eine kritische Auseinandersetzung mit den Ergebnissen generativer künstlicher Intelligenz ermöglichen, um den individuellen Lernerfolg und die kritische Reflexion des juristischen Nachwuchses zu fördern.
Reformanstrengungen stärken Rechtsstaat und Wirtschaftsstandort
Nicht selten wird von Verantwortlichen an juristischen Fakultäten und in Ausbildungsbehörden in Zweifel gezogen, dass der Zustand der Ausbildung wirklich so schlecht und die Reformbedarfe so groß seien. Soweit hierbei tatsächliche Unklarheiten bestehen, liegt es in der Verantwortung aller Beteiligten, unzureichende Datenlagen aufzuhellen. Es bedarf qualitativer Bestandsaufnahmen zum Zustand der juristischen Ausbildung. Die Zeiten, in denen anekdotische Evidenz und "das haben wir schon immer so gemacht" über die Güte der juristischen Ausbildung in Deutschland entschieden haben, müssen der Vergangenheit angehören.
Auf dem Spiel steht die Trag- und Leistungsfähigkeit unseres Rechtsstaats und damit nicht zuletzt auch die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Wenn Gerichts- und Genehmigungsverfahren sich wegen fehlender Richter und Verwaltungsjuristinnen unendlich in die Länge ziehen und zielorientierte juristische Lösungen für praktische Probleme auf sich warten lassen, werden Wirtschaft und Wertschöpfung dem Land der Dichter und Denker aus Not den Rücken kehren. Investitionen in die Reform der juristischen Vollausbildung stärken Rechtsstaat und Wirtschaftsstandort zugleich. Bundesländer, juristische Fakultäten und Ausbildungsbehörden, die hier mit Mut vorangehen, werden auch ihre jeweiligen Chancen im Wettbewerb um die besten juristischen Köpfe verbessern. Ein Hoffnungsschimmer: Mehrere Veranstaltungen auf dem Deutschen Anwaltstag Anfang Juni 2025 in Berlin widmen sich dezidiert dem Zusammenhang zwischen der Stärkung des Rechtsstaats und der Verbesserung der juristischen Ausbildung.
Dr. Carl-Wendelin Neubert ist Mit-Gründer und Chefredakteur der juristischen Lernplattform Jurafuchs, Rechtsanwalt sowie Lehrbeauftragter an der BSP Business & Law School.
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