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Ist das Urkundenfälschung?
In der Boulevardpresse war unlängst von einem Vorfall zu lesen, der sich vom TikTok-Trend zu einem handfesten juristischen Sachverhalt entwickelt hat. Das Kraftfahrzeug (Kfz) einer Halterin hatte die TÜV-Prüfung nach § 29 der Straßenverkehrs-Zulassungsordnung nicht bestanden, sodass ihre amtlichen (das heißt zuvor gestempelten) Kennzeichen von der Zulassungsstelle entstempelt wurden.
Zum Glück ist der Herbst gekommen, dachte sie sich offenbar. Denn wie mehrere Videos bei TikTok empfehlen, griff die Fahrerin zu einem Laubblatt als Mittel der Jahreszeit und zu einem Stück Klebeband. An der Stelle des Kfz-Kennzeichens, an der normalerweise die Zulassungsplakette – vgl. § 12 Abs. 3 Fahrzeug-Zulassungsverordnung (FZV) – prangt, befestigte sie das Laubblatt, sodass niemand den darunterliegenden Entstempelungsvermerk bzw. die entfernte Zulassungsplakette sehen konnte.
Allerdings erwischte die Polizei die Fahrerin bei einer Kontrolle und deckte die unter dem Laubblatt versteckte Entstempelung auf. Sie untersagte die Weiterfahrt und – jetzt wird es juristisch und auch klausurprognostisch relevant, zumal sich das Geschehen im Bezirk des staatsexamensstrategisch gefürchteten OLG Hamm abspielte und damit eventuell auch in seine Sachverhaltsbewertungsmaschinerie geraten könnte – leitete ein Strafverfahren mit dem Vorwurf des "Fahren[s] ohne Versicherungsschutz, ohne zulässige Kennzeichen und Urkundenfälschung" ein.
Durch Entstempelung geht der Urkundencharakter verloren
Da meine eigene Examensvorbereitung gerade erst wenige Monate zurückliegt, schrillten natürlich sofort die Alarmglocken. Hat sich die Fahrerin wirklich der Urkundenfälschung schuldig gemacht? Oder kommen womöglich andere Straftaten aus dem dreiundzwanzigsten Abschnitt des Strafgesetzbuches (StGB) in Betracht?
Gehen wir von den Polizeiangaben aus, wäre zunächst an eine Urkundenfälschung zu denken. Diese ist in § 267 Abs. 1 StGB (hier wohl relevant: erste oder dritte Variante) unter Strafe gestellt. Demnach ist das Herstellen einer unechten Urkunde oder das Gebrauchen einer verfälschten Urkunde verboten. Es müsste sich bei dem herbstlich dekorierten Kennzeichen also um eine Urkunde im Sinne der Norm handeln.
Gebetsmühlenartig kann jede*r Jurastudent*in mit guter Karteikartenroutine herunterbeten, dass eine Urkunde jede menschliche, verkörperte Gedankenerklärung ist, die zum Beweis im Rechtsverkehr geeignet und bestimmt ist und eine außerhalb ihrer selbst liegende Tatsache beweisen kann und einen Aussteller erkennen lässt. Gemeinhin bekannt ist außerdem, dass Kfz-Kennzeichen sogenannte zusammengesetzte Urkunden sind, die aus der Perpetuierung der Verbindung von der Hauptuntersuchungsprüfungsplakette und der Zulassungsplakette auf dem blechernen, alphanumerisch gestanzten Schild (Kennzeichen) entstehen und ebenjenem Kfz, das unter dem Kennzeichen in behördlichen Karteien gelistet ist, attestieren, die Hauptuntersuchung bestanden zu haben und zum Straßenverkehr zugelassen zu sein. So weit, so gut.
Anders liegt der Fall aber hier. Das Kennzeichen dokumentiert zwar den Willen einer Zulassungsbehörde, dass das Fahrzeug nicht mehr auf der Straße fahren soll. Darin liegt zwar eine verkörperte Gedankenerklärung. Wie aber das OLG Koblenz (Beschluss vom 19.05.2016 – 2 OLG 4Ss 158/15) ausgeführt hat, lässt die Entstempelung eines Kennzeichens den Aussteller der früher einmal zusammengesetzten Urkunde nicht (mehr) erkennen. Es fehlt also an der Urkundenqualität, sodass eine Urkundenfälschung ausscheidet.
Die ebenfalls anzudenkende Urkundenunterdrückung nach § 274 StGB (hier wohl Abs. 1 Nr. 1 Var. 3 in der Urkundenmodalität), wonach das Unterdrücken einer (echten) Urkunde verboten ist, setzt gleichermaßen eine Urkunde im oben genannten Sinne voraus. Da das Kennzeichen durch die Entstempelung aus dem Kreis der Urkunden ausgeschieden ist, kann man mit diesem Kennzeichen auch keinen unterdrückenden Schabernack mehr treiben, sprich: Urkundendelikte sind schlicht nicht einschlägig.
Obwohl uns unser in Sachen Urkundendelikte geschärftes Judiz (Kennzeichen plus Kleben gleich Urkundendelikte) etwas anderes sagt, wäre es hier vorschnell, eine Strafbarkeit nach dem StGB anzunehmen.
Auch kein Fahren ohne Versicherungsschutz
Allerdings könnte sich die Fahrerin des Fahrens ohne Versicherungsschutz schuldig gemacht haben, was nach § 30 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 6 Abs. 1 des Pflichtversicherungsgesetzes strafbar ist. Das alleinige Nichtbestehen der Hauptuntersuchung führt allerdings nicht kraft Gesetzes zum Erlöschen der Haftpflichtversicherung.
Wir suchen also weiter, nun im Straßenverkehrsgesetz (StVG). Dort wird man in § 22 womöglich fündig. Nach § 22 Abs. 1 Nr. 3 Var. 4 StVG ist es nämlich strafbar, das an einem Kraftfahrzeug angebrachte amtliche Kennzeichen sonst wie in seiner Erkennbarkeit zu beeinträchtigen (eine Gesamtverdeckung nach Var. 3 kommt nämlich bei dem einzelnen Laubblatt nicht infrage). Unabhängig davon, ob das Kennzeichen durch die Entstempelung noch ein amtliches Kennzeichen bleibt, wurde jedenfalls die Prüfplakette, nicht jedoch das Kennzeichen als solches in seiner Erkennbarkeit beeinträchtigt. Dass das StVG Kennzeichen und (Zulassungs-)Plaketten begrifflich voneinander trennt, zeigt § 6 Abs. 3 Nr. 2 StVG, sodass der Tatbestand nicht erfüllt ist. Auch hier also Strafbarkeit (-).
Strafbarkeit wegen Anscheins einer amtlichen Kennzeichnung
Allerdings könnte § 22 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 StVG in der Kraftfahrzeugmodalität einschlägig sein. Demnach ist es strafbar, in rechtswidriger Absicht ein Kraftfahrzeug, für das ein amtliches Kennzeichen nicht zugelassen worden ist, mit einem Zeichen zu versehen, das geeignet ist, den Anschein amtlicher Kennzeichnung hervorzurufen.
Das OLG Koblenz hat in dem bereits zitierten Fall angenommen, dass das Weiterbenutzen der entstempelten Kennzeichenbleche diesen Tatbestand erfüllt, wenn damit der Eindruck erweckt werden soll, Halterin eines nach wie vor zugelassenen Fahrzeugs zu sein (Rn. 17). In einem Beschluss aus 2020 (v. 30.07.2020, Az. 4 OLG 6 Ss 78/20) schärft dasselbe Gericht noch einmal nach und unterstreicht, dass für die konkrete Eignung, den Anschein amtlicher Kennzeichnung hervorzurufen, ein gewisses Maß an Ähnlichkeit ausreichend ist.
Nun der juristische Knackpunkt: Bei entstempelten Kennzeichen sei diese Ähnlichkeit unzweifelhaft gegeben (Rn. 24), sodass wir bei einem Laubblatt, das die Entstempelung verschleiern soll, erst recht von einem ausreichenden Maß an Ähnlichkeit ausgehen müssen.
In diesem Fall hat die Fahrerin laut Polizei ausgesagt, sie habe es "darauf ankommen" lassen wollen und von der fehlenden Zulassung gewusst, da mit der "rechtswidrigen Absicht" im Tatbestand von § 22 Abs. 1 StVG die Täuschung gemeint ist, um unbeanstandet fahren zu können. Jetzt stimmt auch wieder unser Rechtsgefühl.
Übrigens: Ein Ordnungswidrigkeitsverfahren droht der Fahrerin nach § 77 Nr. 1 in Verbindung mit § 12 Abs. 13 Satz 1 Nr. 2 in Verbindung mit § 12 Abs. 3 Fahrzeugzulassungsverordnung in jedem Fall.
Der Autor Jonathan Nörz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut in Hamburg.
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Urkundenfälschung
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