Verzögerung durch Corona-Freisemester

Bewer­bungs­blase beim Rechts­re­fe­ren­da­riat?

von Thomas ReintkeLesedauer: 5 Minuten

Die Länder rechnen seit dem Sommersemester 2020 pandemiebedingt bis zu vier Semester nicht auf den Freiversuch an. Jetzt sinken mancherorts die Wartezeiten für das Referendariat. Bildet sich eine ungünstige Blase

Für die meisten Jurastudierenden dürfte es ein verlockendes Angebot sein: Sie dürfen sich wegen der seit Jahresbeginn 2020 andauernden Corona-Krise bis zu vier Semester länger auf das erste Staatsexamen vorbereiten, ohne dabei den Freiversuch ("Freischuss") zu verlieren.  

Der Freischuss soll Jurastudierende dazu motivieren, ihre schriftlichen Prüfungen nach acht bzw. – je nach Bundesland – neun Fachsemestern abzulegen, indem ihnen im Fall des Nichtbestehens weiterhin zwei Versuche für das Erste Examen erhalten bleiben.  

Mit den Corona-Freisemestern sind es also bis zu dreizehn Fachsemester bis zum Freischuss. Wer beispielsweise im Sommersemester 2018 mit dem Jurastudium angefangen hat und sich regulär zum Ende des Sommersemesters 2022 für den Freiversuch melden müsste, hat nun bis zum Ende des Sommersemesters 2024 Zeit dafür. Eine Vorbereitungszeit, von der Jurastudierende normalerweise nur träumen können — wären da nicht die pandemiebedingten Einschränkungen und Mehrbelastungen im Studium.

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Verzögerte Freischussanmeldungen, sinkende Wartezeiten fürs Referendariat

Die logische Konsequenz dieses Nachteilsausgleichs liegt auf der Hand: Verschieben sich die Examensprüfungen nach hinten, so verschieben sich auch die Bewerbungen dieser Kandidat:innen für das Referendariat nach hinten. Nutzt eine kritische Masse der Jurastudierenden ihre Corona-Freisemester, so müssten die Wartelisten fürs Referendariat vorrübergehend kürzer werden.  

Ob das der Fall ist, hat LTO bei ausgewählten Oberlandesgerichten (OLG) nachgefragt, denn die sind für die Ausbildung der Referendar:innen zuständig. Sofern die OLG konkrete Zahlen zu den Bewerbungen und Wartezeiten führen und LTO übermittelt haben, hat sich die Annahme bestätigt:

Lag die Wartezeit im OLG-Bezirk Köln vor der Pandemie (Anfang 2020) noch bei circa acht Monaten, sind es aktuell nur noch vier bis fünf Monate. Laut des dortigen Pressesprechers hält man es nicht für ausgeschlossen, "dass im Laufe des Jahres 2022 in einzelnen Monaten einzelne zur Verfügung stehende Plätze nicht besetzt werden können." In Celle gibt es eine ganz ähnliche Entwicklung: Lag die Wartezeit 2020 noch bei etwa drei Monaten, so gibt es aktuell keine Wartezeit mehr. Von den zuletzt 82 zur Verfügung stehenden Referendariatsplätzen konnten auch nur 73 besetzt werden. In Düsseldorf lag die Wartezeit Anfang 2020 noch bei sechs Monaten, heute ist sie auf vier bis fünf Monate abgesunken. Und auch die für ihre Länge berüchtigte Berliner Leistungsliste (ab zehn Punkten) ist geschrumpft: Betrug die Wartezeit im Mai 2020 noch 19 Monate, sind es aktuell nur noch neun bis zehn Monate.  

Thüringen gehört hingegen zu den Ausbildungsbezirken, in denen es seit längerem keine Wartezeiten mehr gibt. Auch dort gibt es eine auffällige Entwicklung: Während für den Einstellungstermin Mai 2020 noch 37 Bewerbungen eingegangen waren, waren es für den kommenden Mai 2022 nur 30 Bewerbungen - ein sattes Minus von 19 Prozent.

Gerichte schließen Zusammenhang nicht aus

Die Oberlandesgerichte äußern sich auf LTO-Anfrage nur zurückhaltend zu einer möglichen Kausalität zwischen den gewährten Corona-Freisemestern und den geringeren Wartezeiten bzw. Bewerbungen. Sie geben zu bedenken, dass die Bewerberzahlen regelmäßig schwanken. Ein Zusammenhang schließt aber keiner der angefragten OLG-Bezirke aus.  

Deutlich wird das Justizministerium Thüringen, das den Rückgang der Bewerbungen explizit auf die beim Freiversuch nicht anzurechnenden Freisemester zurückführt: "Anders ist der Rückgang der Bewerberzahlen für diesen Einstellungstermin nicht zu erklären."

Zu beachten ist, dass alle Gerichte nur ihren eigenen Ausbildungsbezirk im Blick haben. In der Gesamtbetrachtung zeichnet sich jedoch bei den angefragten Gerichten bezirksübergreifend eine Tendenz ab, die recht eindeutig für eine Blase spricht.  

Die Blase zeigt sich erst jetzt

Im Vergleich zwischen 2020 und 2022 zeigen sich die geringeren Wartezeiten bzw. sinkenden Bewerbungszahlen deutlich. Bemerkenswert ist, dass die Blase sich nicht sukzessive entwickelt hat, sondern erst Ende 2021 in den Zahlen sichtbar wurde.  

Davor gab es eine eher kontraintuitive Entwicklung zu beobachten: Nimmt man an, dass sich Examensprüfungen und Bewerbungen wegen der Freisemester verschieben, hätte sich die Blase eigentlich von Anfang an, sprich seit Mitte des Jahres 2020 zeigen müssen. Tatsächlich stieg die Anzahl der Bewerbungen seit der zweiten Jahreshälfte 2020 bis zur Jahresmitte 2021 aber erst einmal signifikant an und sank erst danach rapide ab. Wie ist das zu erklären?

Zum einen gab es zu Beginn der Pandemie noch erhebliche Unsicherheiten bei der Realisierbarkeit etwaiger Projekte in der Zeit zwischen Examen und Referendariat (LL.M., Praktika, Jobs in Kanzleien, Promotion, Reisen etc.). Viele werden sich daher zumindest sicherheitshalber auch für das Referendariat beworben haben. Zum anderen dürften die damaligen "akuten" Examenskandidat:innen wenig Interesse daran gehabt haben, ihren ohnehin schon akribisch erstellten Lernplan kurzfristig zu strecken.  

Überhaupt sind bzw. waren die Corona-Freisemester eher für diejenigen Kanditat:innen interessant, die ihren Lernplan noch entsprechend anpassen konnten bzw. das noch können. Damit liegt der Schluss nahe, dass die Bewerbungen und Wartezeiten erst weniger geworden sind, nachdem die "akuten" Examenskandidat:innen geprüft worden waren und nachdem sich die pandemiebedingten Unsicherheiten für Zwischenprojekte gelegt haben. Entsprechend dürfte sich der Beginn der Blase von Mitte / Ende 2020 auf Ende 2021 verschoben haben. Das heißt, sie macht sich erst jetzt deutlich bemerkbar.

Bewerbungsschwemme fürs Referendariat Ende 2026?

Niemand kann zuverlässig voraussehen, wie sich die Blase entwickeln und wie lange sie anhalten wird. Das hängt maßgeblich davon ab, wie viele Freisemester Studierende durchschnittlich in Anspruch nehmen und wie sich die Ausbildungskapazitäten entwickeln. Es gibt jedoch zumindest ein rechnerisches Bewerbungsmaximum für den Fall, dass alle Jurastudierenden die Maximalanzahl der ihnen zustehenden Freisemester in Anspruch nehmen:

Wenn ein Bundesland etwa insgesamt vier Freisemester gewährt und der Freiversuch regulär nach acht Semestern wahrgenommen werden muss, dann würde die Blase theoretisch im Sommersemester 2026 platzen und in einer Bewerbungsschwemme enden. Denn hier laufen rechnerisch alle maximalen Freisemester zusammen:

Sowohl diejenigen, die im Sommersemester 2020 (das erste gewährte Freisemester) begonnen haben und vier mögliche Freisemester zur Verfügung haben, als auch diejenigen, die im Wintersemester 2021/22 (das vorerst letzte gewährte Freisemester) gestartet sind und ein mögliches Freisemester haben, müssten ihren Freiversuch mit dem Ende des Sommersemesters 2026 wahrnehmen. Das gleiche gilt für die Studienanfänger:innen aus dem Wintersemester 2020 (drei Freisemester) und dem Sommersemester 2021 (zwei Freisemester). Mit dem Ende des Sommersemesters 2026 würden also insgesamt vier Kohorten die schriftlichen Prüfungen für ihren Freiversuch ablegen, entsprechend käme es Ende 2026 bzw. Anfang 2027 zu erheblich mehr Bewerbungen um einen Referendariatsplatz.

In dieser zugespitzten Form wird die Blase wohl nicht platzen. Es spricht aber vieles dafür, dass die aktuell geringeren Wartezeiten für das Referendariat (bzw. die geringere Anzahl an belegten Plätzen) noch eine Weile andauern werden.

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