Karriere am LG Münster

Ein blinder Jurist als Vor­sit­zender Richter

Lesedauer: 4 Minuten

Ulrich Badde ist blind - und leitet als Vorsitzender Richter an einem Landgericht eine Kammer. Er spricht über seinen Arbeitsalltag, seinen Werdegang und was die Gesellschaft von Kindern lernen könnte.

Ulrich Badde macht als Vorsitzender Richter am Landgericht Münster Karriere.* Seine Kammer ist unter anderem zuständig für Betreuungssachen von psychisch Erkrankten und Insolvenzverfahren. 

Badde kann sich den Wortlaut vom Computer vorlesen lassen. Auch hat der Jurist eine Assistentin, die ihm beim Studium der Akte durch den Wust von Anwaltsschreiben und Urteilen aus der ersten Instanz hilft. Dafür braucht der Richter im Landgericht Münster seine Augen nicht.

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"Bei den psychisch Kranken habe ich oft das Gefühl, dass mein Blindsein nicht schädlich ist"

Für einen Patienten in einer Psychiatrie war dieser Gedanke allerdings unvorstellbar. Ein normaler Unterbringungsfall, psychotisch, selbstgefährdend, erzählt Badde im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Der Besuch vom Landgericht war dem Mann zuvor angekündigt worden. "Ich musste hin und fahre raus. Am Arm meine Assistentin. Bin noch nicht ganz im Zimmer, da schreit der Patient: Ihr müsst doch was im Kopp haben, der kann doch nicht mal alleine laufen! Wie liest Du denn eine Akte? Du?", erzählt Badde. "Bei den psychisch Kranken habe ich oft das Gefühl, dass mein Blindsein nicht schädlich ist. Ich bilde mir ein, dass das Vertrauen aufbaut. Es ist mir vertraut, etwas anders zu sein." 

"Meine Kammer ist zuständig für Beschwerden gegen Beschlüsse der Amtsgerichte, also in der zweiten Instanz. Was die Rechtsgebiete angeht, ist das ein totaler Gemischtwarenladen, der Alptraum für neue Kollegen", sagt Badde. Dabei geht es um Unterbringungen von psychisch Kranken, um Insolvenzverfahren oder die Entscheidung über Betreuervergütungen.

Beim Aktenstudium oder dem Schreiben von Entscheidungen bekommt der Vorsitzende Richter Hilfe. Zum Beispiel von Stephanie Connor. Die Justizbeschäftigte bildet mit ihrem Chef ein eingespieltes Team. Sie teilt sich die Assistenz mit zwei weiteren Kolleginnen. Und nicht nur dann, wenn Badde in eine Klinik fahren muss. "Ich habe damit jeden Tag jemanden zur Verfügung, der mich unterstützt", sagt Badde.

E-Akte bringt viele Vorteile

Die Umstellung an den Gerichten in NRW auf digitale Aktenführung spielt dem Juristen bei der täglichen Arbeit in die Karten, ist aber noch nicht ganz abgeschlossen. Das Landgericht in Münster hat im Oktober 2021 auf die E-Akte umgestellt. Die Amtsgerichte fangen zum Teil jetzt erstan.

Aus der Papierakte muss die Assistenz Badde klassisch vorlesen. "Ich mache mir dabei meine Notizen für das, was ich glaube zu brauchen. Ab und zu schaue ich später nochmals mit der Assistenz rein, wenn es neue Aspekte, neue Blickwinkel gibt."

Für Badde ist klar, dass er auch weiterhin Hilfe benötigt, auch wenn die E-Akte komplett eingeführt ist. Neu sei, dass die Assistenz dabei hilft, die Dokumente fertig zu machen, sie in die richtige Form zu bringen. Klassischer Fall Durchsuchungen: "Da bekommen sie locker zehn Akten. Das ist kein Jura am Hochreck. Da müssen sie schauen, das schnell zu erfassen. Da ist es mit Vorlesen nicht getan. Da hilft es extrem, wenn die Assistentin weiß, was brauche ich, wo finde ich was?"

Badde schreibt seine Texte selbst, arbeitet nicht mit einem Diktiergerät. Die Spracherkennung überzeugt ihn noch nicht. Wenn aus der Begutachtung eine Schlachtung wird, wie neulich einem Kollegen passiert, "dann tippe ich lieber selber".

"Ich war bei Weitem nicht der erste blinde Jurastudent"

Der Richter ist seit seinem zweiten Lebensjahr blind. Die Entscheidung für den Job des Juristen fiel kurz vor dem Abitur. Eigentlich wollte er Journalist werden. Auf der Suche nach einem für eine Journalistenschule vorgeschriebenen Praktikumsplatz gibt ihm ein Redaktionsleiter im Bewerbungsgespräch den wertvollen Rat: Eignen sie sich ein fundiertes Fachwissen über ein Studium an. "Suchen Sie sich was aus, woran Sie Spaß haben", habe der Redaktionsleiter gesagt, so Badde. "Da war ich erst einmal frustriert. Da musste ich alles neu überlegen. Da bin ich auf Jura gekommen." Das Thema Blindheit war in dem Gespräch zum Praktikum nur am Rande ein Thema.

Die Uni Münster sei gut vorbereitet gewesen. "Ich war bei Weitem nicht der erste blinde Jurastudent. Es gab vom Fachbereich eine Stelle mit einer Hilfskraft zur Unterstützung von Blinden. Später wurde das ausgebaut für Schwerbehinderte. Ich habe im Wohnheim mit einer Rollstuhlfahrerin gewohnt."

Drei blinde Richter in NRW

Anwalt zu werden konnte er sich nicht vorstellen. Als Blinder Mandanten für sich zu gewinnen, das Risiko wollte er nicht eingehen. Badde zog es in den Staatsdienst oder in ein Unternehmen. In Mainz machte er einen Zusatzstudiengang Medienrecht. Über eine Bewerbung beim Oberlandesgericht in Hamm landete Badde dann in Münster. 

Von Anfang an hatte er eine Assistentin. "Ein blinder Kollege hatte aufgehört, als ich kam. Er war auch Richter im Strafvollstreckungsbereich". Vollständig blinde Kollegen gibt es nach seinen Informationen drei in NRW. "Und einen sehbehinderten Kollegen. Der blinde Richter ist nicht die absolute Ausnahme", sagt der Jurist.

Der 45-Jährige will die Gesellschaft ermuntern, die Unsicherheit ihm gegenüber abzulegen und zum Beispiel Fragen zu stellen, so wie Kinder es tun. "Kinder sind im positiven Sinne schmerzbefreit", sagt der Jurist. Er freut sich, wenn die Menschen die Scheu gegenüber Blinden verlieren und Unsicherheiten zugeben. 

dpa/cp/LTO-Redaktion

* Ursprünglich hieß es "Ulrich Badde ist der erste Vorsitzende Richter an einem Landgericht in Nordrhein-Westfalen, der als Blinder diesen Karriereschritt an die Spitze einer Kammer geschafft hat." Korrigiert am 09.03.2023, 16:00 (Red.).

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