"Wenn jemand im Rollstuhl sitzt, sieht man das ja auch"
LTO: Frau Greiner, Sie haben vor knapp vier Jahren, im Alter von 38 Jahren, die Diagnose Asperger-Syndrom erhalten. Was kann man sich darunter vorstellen und wie macht sich die Erkrankung bei Ihnen bemerkbar?
Verena Greiner: Das Asperger-Syndrom ist eine Variante einer Autismus-Spektrum-Störung. Betroffene haben Schwierigkeiten mit der sozialen Interaktion und Kommunikation. Das ist auch bei mir so, der gewöhnliche "Smalltalk" fällt mir schwer. Ich kommuniziere lieber auf der Sachebene.
Typisch ist auch, dass man geregelte Abläufe mag und skeptisch bei neuen Dingen ist. Ein einfaches Beispiel aus meinem Leben: Seit Jahren gibt es bei uns jeden Samstag das gleiche Essen, nämlich Gulasch mit Spaghetti und Salat. Unter der Woche lässt es sich berufsbedingt nicht vermeiden, dass unvorhergesehene Dinge passieren, aber am Wochenende habe ich dann eine gewisse Konstante im Leben.
Seit 2015 sind Sie Richterin am Amtsgericht (AG) Straubing in Niederbayern. In welchem Bereich sind Sie tätig?
Am AG Straubing gibt es eine auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg, da bin ich tätig. Fast zehn Jahre lang habe ich mit drei Vierteln meiner Arbeitszeit dort gearbeitet und mit einem Viertel Insolvenzsachen gemacht. Zwischenzeitlich habe ich zusätzlich Ordnungswidrigkeiten bearbeitet. Seit Kurzem bin ich aber ausschließlich in der Strafvollstreckungskammer tätig. Ich habe also keine Spruchrichtertätigkeit mehr, sondern leite nur noch Anhörungen.
"Auf viele Fragen in den Anhörungen kann ich mich vorbereiten"
Das kommt Ihnen wahrscheinlich sehr gelegen.
Auf jeden Fall, auch wenn meine Schwierigkeiten in der Kommunikation sich ja eher auf den privaten Bereich beziehen und die Verhandlungen in den Bußgeldverfahren sehr strukturiert waren. Aber die Arbeit in der Strafvollstreckungskammer macht mir Spaß, ich habe viel Büroarbeit, lese Gutachten und kann mich in die Akten vertiefen. Viele Fragen in den Anhörungen sind planbar, darauf kann ich mich vorbereiten. Aber auf der sachlichen Ebene ist es für mich auch kein Problem, spontan zu reagieren.
Arbeiten Sie in Vollzeit?
Ja. Als Richterin kann ich mir die Zeit relativ gut selbst einteilen und bekomme die Möglichkeit, viel im Homeoffice zu arbeiten. Wenn die E-Akte kommt, wird das noch einmal einfacher. In der Strafvollstreckungskammer gibt es die bislang ja noch nicht.
"Asperger-Autisten fällt es leichter, auf den Punkt zu kommen"
Asperger-Autisten haben zwar in gewissen Bereichen Defizite, aber auch außergewöhnliche Begabungen. Bei Ihnen ist das der Umgang mit Sprache, also in der schriftlichen Kommunikation. Welche Vorteile haben Sie dadurch in Ihrem Richterberuf?
Gerade im juristischen Bereich hat man natürlich viel mit Sprache zu tun. Asperger-Autisten können gut auf der sachlichen Ebene kommunizieren. Es fällt ihnen leichter, auf den Punkt zu kommen, und nicht in fünf Sätzen das auszudrücken, was man auch in einem Satz sagen könnte.
Und wir arbeiten mit einer "chirurgischen Präzision", wie ich es nenne. Wenn wir bestimmte Dinge in den Akten lesen, hinterfragen wir in alle Richtungen, was gemeint sein könnte. Wir arbeiten detailgenau und lesen zwischen den Zeilen. Wir sehen also auch Sachen, die andere Menschen vielleicht gar nicht sehen würden.
"Unser Gehirn nimmt alles ungefiltert auf"
Inwiefern schränkt Ihre Erkrankung Sie in Ihrem Berufsleben ein?
Mittlerweile kann ich ganz gut damit umgehen, aber Asperger-Autisten merken schnell eine Reizüberflutung. Unser Gehirn nimmt alles ziemlich ungefiltert auf. Abends schwirren viele Eindrücke und Erlebnisse in meinem Kopf, die ich verarbeiten muss. Wenn man das Gehirn mit einer Festplatte vergleicht, ist sie abends schnell voll, man kann aber nicht wie beim Computer auf "Löschen" drücken. Ich kann die Informationen auch nicht auf einer "externen Festplatte" speichern. Alles bleibt da und erdrückt die Festplatte. Man ist also sehr schnell mental überfordert und körperlich erschöpft. Bedingt auch durch diese krankheitsbedingten Schwierigkeiten habe ich einen Behinderungsgrad von 40 Prozent und nehme schon seit Jahren das Medikament Paroxetin.
Wie gehen Sie im Alltag damit um?
Ich habe ein erhöhtes Schlafbedürfnis. Am Wochenende muss ich oft Schlaf nachholen und verbringe dann einen halben Tag nur mit Schlafen. Ich könnte auch nicht bis Mitternacht aufbleiben, auch an Silvester nicht. Dass nach 22 Uhr noch Licht an ist, kommt selten vor. Wenn der Kopf so voll ist, schläft man auch oft unruhiger und ist deshalb schneller erschöpft.
"Es gibt keinen Grund, meine Erkrankung zu verheimlichen"
Sie haben schon vor drei Jahren ein Buch über Ihr Leben mit dem Asperger-Syndrom geschrieben, damals noch unter dem Pseudonym Sieglinde G. Mittlerweile treten Sie unter Ihrem richtigen Namen auf. Wieso haben Sie sich dazu entschieden?
Das Buch habe ich ja schon ein Jahr nach meiner Diagnose geschrieben. Damals war ich noch vorsichtig und musste erst lernen, damit umzugehen. Mein direktes Umfeld, also auch meine Chefin und meine Kolleginnen und Kollegen, wussten schon früh Bescheid. Nur an weitere juristische Kreise, zum Beispiel Anwältinnen und Anwälten, habe ich meine Diagnose damals nicht kommuniziert. Aber mittlerweile stehe ich dazu. Mir hat auch der Kontakt mit anderen Betroffenen geholfen, die offen mit der Erkrankung umgehen.
Es gibt auch keinen Grund, etwas zu verheimlichen. Mir kam es teilweise wie ein Versteckspiel vor, als müsste ich nach außen eine andere Person spielen, die ich eigentlich gar nicht bin. Das wollte ich nicht mehr. Wenn jemand im Rollstuhl sitzt, sieht man das ja auch.
"Der Stigmatisierung bestimmter Erkrankungen entgegenwirken"
Welche Reaktionen haben Sie auf Ihr "Outing" erhalten?
Die Reaktionen waren durchweg positiv. Ich habe einige Juristen, mit denen ich beruflich viel zu tun habe, direkt angeschrieben und meine Diagnose mitgeteilt. In meinem Wohnort Straubing habe ich meine Erkrankung in einem Leserbrief in der örtlichen Zeitung bekannt gegeben. Alle Menschen haben verständnisvoll reagiert und meinen offenen Umgang mit der Erkrankung gelobt. So kann man auch einer Stigmatisierung bestimmter Erkrankungen entgegenwirken. Nun weiß jeder Bescheid und ich werde nicht in eine falsche Schublade gesteckt.
Viele trauen sich nicht, offen über solche Erkrankungen zu sprechen. Was möchten Sie diesen Menschen mitgeben?
Unabhängig davon, um welche Erkrankung es geht, sollte man sich nicht verstecken, sondern mutig nach vorne blicken. Wenn man offen mit einer Erkrankung umgeht, ist es auch einfacher, Hilfe zu bekommen. Wenn andere nicht wissen, wo es hakt, kann man auch nur schwer reagieren.
Bei mir war in der Vergangenheit vieles nicht optimal, darüber habe ich ja in unserem ersten Interview gesprochen. Ich habe jahrelang mit einer falschen Diagnose gelebt. Aber es bringt nichts, so lange über die Vergangenheit zu grübeln. Man sollte das Beste aus der Gegenwart und der Zukunft machen.
"Meine Logopädin sagte mir: 'Ruhen Sie sich nicht auf der Diagnose aus'"
Sie machen tatsächlich einiges. Zum Beispiel haben Sie vor kurzem Ihr zweites Buch "Und noch ein Sketch" veröffentlicht. Mitautorin ist Ihre Logopädin. Wie kam es dazu?
Als ich damals meine Asperger-Diagnose bekommen habe, hat meine Logopädin zu mir gesagt: "Ruhen Sie sich nicht auf Ihrer Diagnose aus." Dieser Satz ist seitdem ein Ansporn für mich, zu schauen, welche Möglichkeiten ich trotz der Erkrankung habe. Die Mimik und Gestik bei Autisten sind oft recht starr und es fällt uns schwer, direkt über einen Witz zu lachen. Deshalb hat mir meine Logopädin, mit der ich mittlerweile auch gut befreundet bin, geraten, an meinem Humor zu arbeiten. Solche Aufforderungen nehme ich auch immer ernst. An einem Nachmittag habe ich in einem Begegnungscafé in Straubing gemeinsam mit ihrem neunjährigen Sohn Sketche aufgeführt. Dann kam ich auf die Idee, daraus ein Buch zu machen, und sie hat mich dabei unterstützt.
Worum geht es in dem Buch?
Die 54 Sketche nehmen die deutsche Sprache unter dem Aspekt "wörtlich nehmen" in humorvoller Weise unter die Lupe. Das ist auch typisch für viele Autisten. Ich zitiere aus einem Sketch: Zum Beispiel fragt die Mutter das Kind, ob es den Hefeteig für die Pizza zum Abendessen zubereiten könne. Der Teig müsse eine Stunde gehen. Das Kind nimmt daraufhin eine Schüssel, knetet den Teig, schaut auf die Uhr und läuft eine Stunde mit der Schüssel in der Küche umher. Oder jemand zieht einen Teebeutel in die Länge, wenn der Tee fünf Minuten "ziehen" soll. Es geht also darum, dass Sprache vieldeutig verstanden werden kann und es zu Missverständnissen kommen kann.
"Ich habe eine Orgel zu Hause"
Sie haben einen Vollzeitjob, schreiben parallel noch Bücher und brauchen mehr Schlaf als andere. Wie managen Sie das?
Es macht mir viel Spaß. Und ich nehme mir Zeit für die Dinge und plane Erholungsphasen ein. Zum Beispiel haben wir seit Jahren die gleichen Urlaubsziele. Im Sommer geht es in das kleine Bergdorf Oberjoch im Allgäu und im Winter nach Bodenmais im Bayerischen Wald. Es ist einfach stressfreier für mich, dass ich mir keine Gedanken über den Urlaubsort oder die Aktivitäten machen muss. Ich habe dann den Kopf frei und kann mich aufs Erholen konzentrieren.
Im Alltag gehe ich zweimal in der Woche joggen. Und ich mache gern Musik, wenn es die Zeit zulässt. Ich habe eine Orgel und ein Schlagzeug zu Hause. Zur Arbeit fahre ich mit dem Fahrrad, unser Auto benutze ich nur sehr selten. Das ist auch eine gute Gelegenheit, den Kopf freizubekommen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Verena Greiner ist Richterin am Amtsgericht Straubing. Mit 38 Jahren bekam sie die Diagnose "Asperger-Syndrom". In ihrem ersten Buch "Unterwegs mit dem Asperger-Syndrom", das sie noch unter dem Pseudonym "Sieglinde G." geschrieben hat, erzählt sie über ihr Leben mit der Erkrankung. Ihr zweites Buch "Und noch ein Sketch" (gemeinsam mit Cornelia Rohrmeier) erschien im März 2025.
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2025 M04 16
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