Interview mit Juristin mit Asperger-Syndrom

"Wir Asperger-Autisten hin­ter­fragen mehr"

von Dr. Franziska KringLesedauer: 7 Minuten

Sieglinde G. merkte früh, dass sie anders ist – und schaffte dennoch zwei Prädikatsexamina. Die Diagnose bekam sie erst vor kurzem mit 38 Jahren. Ihr Buch beschreibt ihr Leben als Asperger-Autistin sowie ihren Weg zur Juristin.

LTO: Frau G., was kann man sich unter dem Asperger-Syndrom vorstellen? 

Sieglinde G.*: Das Asperger-Syndrom ist eine autistische Entwicklungsstörung, die – anders als etwa eine körperliche Behinderung – von außen nicht erkennbar ist. Sie zeigt sich bei jedem Betroffenen anders, oft kommen aber Kommunikationsschwierigkeiten, fehlende Empathie, außergewöhnliche Interessen und Begabungen sowie das Festhalten an ritualisierten Handlungen und Abläufen vor. 

Bei mir liegen die Hauptschwierigkeiten in der sozialen Kommunikation und Interaktion. Der alltägliche Small Talk, sich stundenlang mit einer Freundin über Gott und die Welt unterhalten – das ist für mich sehr schwierig. Wenn man mir eine offene Frage stellt, zum Beispiel "Wie war Deine Woche?", dann muss ich lange nachdenken, wo ich anfange und was der andere wissen will. In meinem Kopf beginnt ein Denkprozess: Was genau meint mein Gegenüber mit "Woche", von wann bis wann reicht der Zeitraum? Für andere ist das oft schwer nachvollziehbar. 

Welche außergewöhnlichen Interessen und Begabungen haben Sie? 

Bei mir ist das der Umgang mit Sprache – also nicht gerade in der mündlichen Kommunikation (lacht), aber ich habe ein Faible für die deutsche Sprache. Zum Beispiel sammele ich schöne Wörter und Formulierungen, auf die ich zufällig stoße, und schreibe sie in ein kleines Büchlein. Das Büchlein hole ich dann bei Gelegenheit raus und wiederhole die Begriffe. 

Außerdem spiele ich einige Musikinstrumente, u.a. Klavier, Akkordeon, Saxophon, Kirchenorgel und Schlagzeug. Das Schlagzeugspielen habe ich erst im Alter von 35 Jahren gelernt und mittlerweile setze ich mich in der Regel jeden Tag nach dem Frühstück für 15-30 Minuten ans Schlagzeug, das sehe ich als eine Art Meditation.  

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"Die Kommunikation mit Mitschülern wurde immer schwieriger"

 

Wann haben Sie gemerkt, dass Sie "anders" sind? 

Das war in der Schulzeit, als ich von der Grundschule auf das Gymnasium wechselte. Ich bemerkte, dass die Kommunikation mit meinen Mitschülerinnen und Mitschülern immer schwieriger wurde. In der Grundschule haben wir uns zum Spielen verabredet, aber auf der weiterführenden Schule stand bei Treffen mit Freundinnen vermehrt Reden über Jungs, Sexualität und andere "Mädchenthemen" im Vordergrund. Das konnte ich nicht: Die Grenze meiner kommunikativen Fähigkeiten war erreicht, sobald wir zu anderen als schulischen Themen kamen.  

Deshalb habe ich mich immer mehr zurückgezogen und bin zur Außenseiterin geworden. Ich habe mich nicht mehr mit Freundinnen verabredet, sondern zum Beispiel gelesen, für die Schule gelernt oder im Verein Badminton gespielt. 

Nach dem Abitur haben Sie angefangen, zu studieren. Wieso haben Sie sich für Jura entschieden? 

Direkt nach der Schule habe ich mir nicht so viele Gedanken gemacht, was ich beruflich machen möchte. Da ich ja sehr zurückgezogen lebte und gewissermaßen "weltfremd" war, also außerhalb der Schule nicht viel kannte, habe ich angefangen, Geographie auf Lehramt zu studieren und mich parallel auf die Aufnahmeprüfung für das Fach Musik vorbereitet. 

Nach drei Semestern habe ich das Lehramtsstudium dann aber abgebrochen und mit Jura angefangen. Mein Vater ist auch Jurist, aber meine Eltern haben mir bei der Auswahl meines Studienfaches freie Wahl gelassen. Durch meine Vorliebe für Sprache und logische Zusammenhänge passte Jura aber sehr gut.  

"Das Studium war rückblickend eine schwierige Zeit" 

In Ihrem Buch sagen Sie, dass das Studium rückblickend die "schwierigste Phase Ihres Lebens" war. Wieso war das so? 

Zum Studium bin ich aus meinem Elternhaus ausgezogen, habe es aber aufgrund meiner Defizite nicht geschafft, Kontakte zu knüpfen. Deshalb war ich auf mich allein gestellt und hatte außer meinen Eltern niemanden zum Reden. Es wurde mir wegen des hohen Lärmpegels und der vielen Menschen irgendwann auch zu anstrengend, die Vorlesungen zu besuchen, deshalb habe ich nur noch in meiner Wohnung gelernt. Das war rückblickend eine sehr schwierige Zeit. 

Dennoch haben Sie im ersten und zweiten Staatsexamen jeweils ein Prädikatsexamen erreicht – eine herausragende Leistung. Wie haben Sie das geschafft? 

Meinen Charakter zeichnet aus, dass ich nicht so schnell aufgebe. Ich brauche immer ein Ziel vor Augen – das waren in dem Fall zwei möglichst gute Examina. Im Referendariat lernte ich meinen Ehemann kennen. Das Zusammenleben mit ihm gab mir sehr viel Halt und Kraft und es war mithin einfacher zusammen den Weg durch das Referendariat zu gehen. 

Wie haben Sie die mündlichen Prüfungen erlebt? 

Direkt nach den Klausuren zum ersten Examen hatte ich eine schwierige Phase und war auch in psychotherapeutischer Behandlung. Im Nachhinein vermute ich, dass mir die anstehende mündliche Prüfung innerlich zu schaffen gemacht hat.  

Ich habe häufig Panikattacken bekommen und musste wieder zu meinen Eltern ziehen. Einige Tage vor der mündlichen Prüfung hat mir meine Ärztin auch Medikamente gegeben.  

Zwei Monate nach der Prüfung habe ich dann den Verbesserungsversuch geschrieben und die Klausuren liefen besser. Lernmäßig habe ich nichts anders gemacht, aber war im stabilen Umfeld bei meinen Eltern – ich glaube, das hat dann den Ausschlag gegeben. 

"Wir Asperger-Autisten hinterfragen mehr" 

Sie sind seit einigen Jahren als Juristin tätig. Inwiefern schränkt Sie das Asperger-Syndrom in Ihrem Berufsalltag ein? 

Da es in den juristischen Berufen viel schriftliche Kommunikation gibt, merke ich im Berufsalltag keinerlei Einschränkungen. Mit der mündlichen Kommunikation im fachlichen Bereich habe ich ebenfalls keine Probleme. 

Anders ist das vor allem bei geselligen Zusammenkünften: Sobald die Gespräche von der sachlichen auf die persönliche Ebene wechseln, werden sie sehr anstrengend für mich und ich fühle mich nicht mehr so wohl.   

Welche Vorteile bietet Ihre Eigenschaft als "Aspie", wie Sie sich selbst bezeichnen, für juristische Berufe? 

Dadurch, dass wir oft nicht intuitiv antworten können, argumentieren wir vermehrt mit logischen Zusammenhängen und hinterfragen mehr. Wir forschen mehr nach, wie bestimmte Fragen und Aussagen zu verstehen sind – und sind dadurch präziser.  

Auch bei der Auslegung nach den Auslegungskriterien hilft mir meine Denkweise oft. Ich denke dabei in verschiedene Richtungen und übersehe selten eine Auslegungsmöglichkeit. 

"Ich habe jahrelang mit einer falschen Diagnose gelebt" 

Wie kam es dazu, dass Sie im vergangenen Jahr im Alter von 38 Jahren die Diagnose Asperger-Syndrom erhielten? 

Während der Vorbereitungsphase auf das Erste Examen diagnostizierte eine Ärztin bei mir eine "soziale Phobie", also – vereinfacht gesagt – schwere Ängste im Umgang mit Menschen. Sie riet mir zu einem stationären Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik. Kurz nach den Klausuren im Verbesserungsversuch nahm ich das in Angriff. Allerdings brach ich den Aufenthalt nach einer Woche ab – ich fühlte mich missverstanden und fehl am Platz. 

Dort kamen auch die ersten Zweifel an der Diagnose auf. Bestätigt wurden meine Zweifel im vergangenen Jahr. Ich hatte vor drei Jahren eine Kehlkopfentzündung und keine Stimme mehr. Danach war ich in logopädischer Behandlung. Meine Logopädin ist auch Sprecherzieherin und zeigte mir einige Übungen, um mir meine vermeintliche Angst im Umgang mit Menschen zu nehmen. Dabei habe ich gemerkt, dass ich einige Übungen einfach nicht konnte – und das nicht aus Angst. Auch Zuhause in einer entspannten Situation funktionierte das nicht.  

Ich habe dann recherchiert und bin auf das Asperger-Syndrom gestoßen. Schließlich habe ich meinen Verdacht und meine Anhaltspunkte dafür schriftlich meiner ehemaligen Ärztin mitgeteilt und so kam es zur Diagnose. Ich habe also jahrelang mit einer falschen Diagnose gelebt. 

Wie hat sich Ihr Leben seit der Diagnose verändert? 

Ich habe auf viele Fragen eine Antwort bekommen: Ich weiß jetzt, warum ich in gewissen Situationen nicht so viel rede, länger brauche mit meinen Antworten und gesellige Zusammenkünfte meide. Ich konnte meinen Arbeitskollegen sagen, was mit mir los ist. Das erleichtert mein Leben sehr: Mein soziales Umfeld versteht jetzt etwa, wieso ich manchmal lieber zuhöre als rede oder bei einem Treffen nur eine halbe Stunde bleibe und dann gehe. 

"Der Umgang mit Asperger-Autismus sollte offener werden" 

Wieso haben Sie sich dazu entschieden, ein Buch über Ihre Geschichte zu schreiben? 

Bevor ich mich selbst mit der Thematik beschäftigt habe, wusste ich nicht genau, was unter dem "Asperger-Autismus" zu verstehen ist – und so wird es vielen anderen auch gehen. Er ist einfach noch wenig bekannt. 

Ich möchte auch andere ermutigen, sich der Diagnostik zu stellen – und Ärzte konkret anzusprechen. Vielleicht denken Ärzte auch darüber nach, Patienten die Möglichkeit zur schriftlichen Kommunikation zu geben. Eine schriftliche Psychotherapie erscheint mir nicht möglich, aber eventuell könnte man im Anschluss an eine Therapiestunde noch Informationen per E-Mail ergänzen. 

Und ich möchte dazu beitragen, dass die Gesellschaft offener mit Erkrankungen umgeht, die kein Hals- oder Beinbruch sind. Ich habe das Gefühl, dass man sich mit psychischen Erkrankungen  oder Autismus teilweise noch verstecken muss und schief angeguckt wird. Der Umgang sollte offener und normaler werden. Gerade der Asperger-Autismus wird häufig in die Kategorie der psychischen Erkrankungen einsortiert – das stimmt aber nicht. Es ist eine Entwicklungsstörung; das soziale Gehirn ist sozusagen anders verdrahtet.  

Welche Tipps können Sie anderen Betroffenen geben – vielleicht auch solchen Menschen, die noch keine konkrete Diagnose haben? 

Ein Arzt kann nur eine Diagnose stellen, wenn der Betroffene ihm die Informationen gibt. Meinen Verdacht habe ich meiner ehemaligen Ärztin schriftlich mitgeteilt und auch einige Erfahrungen aus meiner Kindheit geschildert – und vieles wusste sie einfach noch nicht. 

Grundsätzlich würde ich Betroffenen raten, offen mit der Krankheit umzugehen, nur so kann es mehr Akzeptanz in der Gesellschaft geben.  

*Sieglinde G. ist ein Pseudonym. Ihren genauen, juristischen Beruf möchte sie zu ihrem eigenen Schutz nicht nennen. Er ist der Redaktion bekannt. 

"Unterwegs mit dem Asperger-Syndrom" von Sieglinde G. ist am 12. Juli 2022 im Manuela Kinzel Verlag erschienen (ISBN: 978-3-95544-167-8, Preis 16,00 Euro). 

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