Die juristische Presseschau vom 18. August 2023: BAG zu Kün­di­gung im Insol­venz­fahren / Rich­ter­bund kri­ti­siert Lind­ner / BGH zu nicht ange­t­re­tenen Flu­g­reisen

18.08.2023

BAG weitet die Möglichkeit zur Kündigung im Insolvenzverfahren aus. DRB kritisiert Pläne zur Verrechtlichung der FIU-Geldwäsche-Meldepraxis. BGH wendet Werkvertragsrecht auch bei Billigfluglinien an.

Thema des Tages

BAG zu Kündigung im Insolvenzverfahren: Schließen Insolvenzverwalter:innen mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich über Entlassungen, so reicht allein die ernste Absicht zur Stilllegung der Produktion zu diesem Zeitpunkt für eine betriebsbedingte Kündigung aus, urteilte das Bundesarbeitsgericht. Das gelte auch dann, wenn es später doch noch zu einem Verkauf des Unternehmens komme. Zuvor hatte der betroffene Arbeitnehmer vor dem LAG Hamm erfolgreich geltend gemacht, dass die Kündigung nur vorübergehend ausgesprochen worden sei, für den Fall des Scheiterns der Verhandlungen mit möglichen Erwerber:innen. Später waren tatsächlich Teile des Unternehmens verkauft worden. Gegen diese Entscheidung legte der Insolvenzverwalter Revision beim BAG ein. spiegel.de berichtet.

Rechtspolitik

Geldwäsche: Der Deutsche Richterbund (DRB) übt Kritik am Plan von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP), den risikobasierten Ansatz der Zentralstelle zur Bekämpfung der Geldwäsche (Financial Intelligence Unit, FIU) auf eine Rechtsgrundlage zu stellen. Nach diesem Ansatz leitet die Behörde Verdachtsmeldungen nur dann an Polizei und Staatsanwaltschaft weiter, wenn bestimmte, behördeninterne Kriterien erfüllt sind. Das Vorgehen ist auf eine Überforderung der Behörde angesichts der hohen  Zahl an Verdachtsmeldungen zurückzuführen und ist laut DRB rechtsstaatlich und kriminalpolitisch fragwürdig. Der Ansatz solle stattdessen enger mit den Staatsanwaltschaften abgestimmt werden. Die Welt (Thorsten Jungholt) berichtet.

Antidiskriminierung: An diesem Freitag wird das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) 17 Jahre alt, was das Bündnis "AGG Reform - Jetzt!" zum Anlass nahm, Reformvorschläge vorzustellen. Auch die Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, Ferda Ataman, legte Mitte Juli einen Reformvorschlag mit 19 Maßnahmen vor. Beide fordern u.a. eine Erweiterung der Diskriminierungsmerkmale in § 1 AGG um das Merkmal des sozialen Status. Ataman möchte ferner den Wirkungsbereich auf staatliche Stellen wie Ämter oder die Polizei ausweiten, Eltern oder chronisch Kranke durch das Gesetz schützen, die zweimonatige Klagefrist verlängern und den Nachweis von Diskriminierungen erleichtern, indem Ungleichbehandlungen nur noch glaubhaft gemacht werden müssen. Die Antidiskriminierungsstelle geht von nur rund 700 Entscheidungen seit der Einführung aus, bei denen das AGG eine substanzielle Rolle gespielt hat; die 2006 befürchtete Klagewelle ist also ausgeblieben. Es berichten SZ (Simon Sales Prado) und taz (Jonas Grimm).

Bundeswehr/Beschaffung: Der Rechtsanwalt Jan Byok moniert auf beck-aktuell die zunehmende Deregulierung der Beschaffung bei der Bundeswehr. Diese habe mit dem befristeten Gesetz zur Beschleunigung von Beschaffungen für die Bundeswehr begonnen, das im Juli 2022 in Verbindung mit dem Bundeswehr-Sondervermögen von 100 Milliarden Euro in Kraft getreten ist, und soll nun auf Vorschlag von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) ausgeweitet werden. Geplant seien die Abschaffung der Parlamentsbeteiligung für Vorhaben mit einem Volumen über 25 Mio. Euro, eine drastische Beschneidung des Bieterrechtsschutzes und Experimentierklauseln zugunsten des Beschaffungsamts. "Die Kardinalpflichten des öffentlichen Einkaufs wie Wettbewerb, ­Transparenz und Wirtschaftlichkeit kommen so unter die Räder", warnt der Autor.

Justiz

BGH zu Werkvertragsrecht bei Flugreisen: Nach einer Leitentscheidung des Bundesgerichtshofs können Flug-Kund:innen, die den Flug gar nicht antreten, auch bei Billig-Flugreisen gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) jene Kosten zurückverlangen, die die Airline durch die Nichtbeförderung spart. Konkret ging es um einen Ticketpreis in Höhe von 27,30 Euro, wovon nun wegen gesparter Steuern, Gebühren und Entgelte 18,41 Euro zurückgezahlt werden müssen. Das Urteil basiert auf § 648 BGB, wonach ein Werkvertrag jederzeit gekündigt werden kann, der Auftragnehmer dann aber die vereinbarte Gegenleistung erhält - abzüglich der gesparten Kosten. Dass ein Billigflieger seinen kalklulierten Gewinn auch mit dem Verkauf von Speisen und Getränken sowie der Vermittlung von Mietwagen und Unterkünften macht, spiele hierbei keine Rolle, so der BGH, weil es sich um keine vereinbarten Geschäfte handele. LTO berichtet.

BGH zu Widerspruch bei Lebensversicherung: Trotz des "ewigen Widerspruchsrecht" bei Versicherungsverträgen im Fall von fehlenden oder unrichtigen Belehrungen, das auf einem Fehler des Vertragsversicherungsgesetz (VVG) beruht, lehnte der Bundesgerichtshof den Widerspruch einer Frau für eine im Jahr 1999 abgeschlossene Lebensversicherung und damit eine Rückzahlung von 114.000 Euro ab, weil sie treuwidrig gehandelt habe. Sie habe ihre Ansprüche gegen die Versicherung in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang zur Tilgung eines Baufinanzierungsdarlehens an eine Bank abgetreten und dabei ausdrücklich auch die Leistung im Todesfall festgehalten, was bei dem Versicherer ein schutzwürdiges Vertrauen in den unbedingten Bestand des Vertrages begründete. LTO berichtet.

RDG Leipzig – rechtsextremer Richter Jens Maier: Über die Disziplinarklage der sächsischen Justizministerin Katja Meier (Grüne) gegen den früheren AfD-Bundestagsabgeordneten und Richter Jens Maier vor dem Dienstgericht für Richter:innen in Leipzig berichten nun auch SZ (Iris Mayer) und taz. Die Klage soll Meyers Status als Richter beenden und würde im Erfolgsfall auch einen Verlust seiner aktuellen Ruhestandsbezüge bewirken, LTO (Leonie Ott) erläutert zudem das noch nicht rechtskräftig abgeschlossene parallele dienstgerichtliche Verfahren zur Versetzung Maiers in den vorzeitigen Ruhestand. Über jenen eher präventiv orientierten, innovativen Ansatz will das Dienstgericht des Bundes im Oktober verhandeln.

LG Hamburg zu Till Lindemann/Shelby Lynn: Das Landgericht Hamburg hat einen Antrag von Till Lindemann auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen Shelby Lynn zurückgewiesen, die sich in sozialen Medien als erste Frau öffentlich äußerte und angab, im Umfeld eines Konzerts in Vilnius womöglich betäubt, vergewaltigt und verletzt worden zu sein. Die Anwälte von Lindemann griffen drei Aussagen der Nordirin an. Zwei Äußerungen wertete das LG jedoch nicht als Verdachtsäußerungen, sondern als wertende Schlussfolgerung aus ihren Erlebnissen. Die dritte Aussage gehe überhaupt nicht auf Lynn zurück. spiegel.de berichtet.

LG Hamburg zu Till Lindemann/NDR und SZ: Über die Beschlüsse des Landgerichts Hamburg, mit denen es NDR und SZ verschiedene Aussagen über Rammstein-Sänger Till Lindemann und Bandmitglied Christoph Schneider untersagt und entsprechende Unterlassungsverfügungen erlassen hat, berichtet nun auch die FAZ.

LG Hamburg zu Till Lindemann/Spiegel: LTO (Max Kolter) gibt einen Überblick über die Rechtsstreitigkeiten zwischen Till Lindemann und dem Spiegel. Zuletzt hatte der Spiegel vor dem LG Hamburg versucht, eine einstweilige Verfügung gegen die Anwaltskanzlei Lindemanns, Schertz Bergmann, wegen einer Pressemitteilung zu erwirken, in der von "falschen Tatsachenbehauptungen" die Rede war. Das LG gestand zu, die Kanzlei hätte präziser von einer "unzulässigen Verdachtsberichterstattung" schreiben müssen, lehnte den Antrag des Spiegels jedoch in Ermangelung einer Wiederholungsgefahr ab. Der Spiegel hat angekündigt, Beschwerde gegen die Entscheidung einzulegen.

LG Bonn – Cum-Ex/Duet Group: Am Donnerstag hat vor dem Landgericht Bonn ein weiterer Cum-Ex-Prozess gegen den britischen Finanzdienstleister Duet Group begonnen, in dem sich der Mitgründer Henry Gabay sowie der ehemalige CEO Osman Semerci wegen Steuerhinterziehung verantworten müssen. Die Angeklagten sollen die Aktienkreisgeschäfte rund um den Dividendenstichtag von London aus organisiert haben, wodurch dem Fiskus ein Schaden von 92 Millionen Euro entstanden sein soll. In einem vorgezogenen Prozess vor dem LG Bonn hatte im Juni bereits ein ehemaliger Backoffice-Mitarbeiter von Duet seine Beteiligung an den illegalen Aktiengeschäften gestanden und war wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt worden. FAZ (Marcus Jung) und Hbl (Sönke Iwersen/Volker Votsmeier) berichten.

AG Waldkirch – TikToker Maurii Pastore: swr.de (Alena Lagmöller) berichtet über den vorerst ausgesetzten Prozess vor dem Amtsgericht Waldkirch gegen den TikToker Maurii Pastore, der wegen übler Nachrede gegen den Freiburger Polizeipräsidenten und dessen Assistentin angeklagt ist. Es geht um ein von ihm produziertes Tiktok-Video mit nachgestellten Personen. Darin wundern sich drei Polizisten, warum sie nicht befördert werden und kurz darauf wird der Polizeipräsident eingeblendet und angedeutet, dass seine frisch beförderte Referentin ihn gerade oral befriedigt.

AG Hamburg – Reiserecht/Niveau der Gäste: Rechtsprofessor Arnd Diringer berichtet im Expertenforum-Arbeitsrecht über einen kuriosen Fall des Amtsgerichts Hamburg aus dem Jahr 1995 in Sachen Reiserecht. Ein Tunesien-Urlauber forderte eine Minderung in Höhe von 40 Prozent, weil Gäste aus einem niedrigklassigeren Hotel in sein Hotel umgebucht wurden, deren "niedriges Niveau" sich unter anderem in Körpergeruch und Rülpsen manifestiert habe und ihn störte. Das Gericht konnte jedoch keinen Mangel erkennen.  

Einheitliches Patentgericht: Im Interview mit beck-community erklären die Richterin am Einheitlichen Patentgericht Ulrike Voß und der BGH-Richter Hermann Deichfuß den neuen einheitlichen Patentschutz und das ebenfalls neu eingerichtete Einheitliche Patentgericht, dessen oberste Instanz in Luxemburg sitzt. Im Unterschied zum bisherigen europäischen Patent, bei dem man ein Bündel an Patenten nach nationalen Regeln erhielt und den Schutz im Streitfall in mehreren Staaten durchsetzen musste, vereinfacht das Einheitspatent den Rechtsschutz und es wird auch möglich, ein Patent insgesamt anzugreifen.

Recht in der Welt

USA – Drohbrief an Donald Trump: Nachdem eine 56-Jährige Kanadierin im September 2020 einen Drohbrief mit dem Gift Rizin an Donald Trump versendet hat und ihn darin aufforderte, die Bewerbung für die Präsidentschaftswahl zurückzuziehen, ist sie nun von einem Gericht in Washington zu 22 Jahren Haft verurteilt worden. Der Brief wurde damals von der Postsortierstelle abgefangen. spiegel.de berichtet.

Juristische Ausbildung

Tax Law Clinics: Über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Legalisierung von Tax Law Clinics an Universitäten berichten nun auch der Richter Thomas Keß und der Student Lennart Sindermann auf beck-aktuell. Beide engagieren sich in Hannover für die Schaffung der ersten Tax Law Clinic Deutschlands. 

Sonstiges

Parteiverbot AfD-Thüringen: Der wissenschaftliche Mitarbeiter Lorenz Wielenga kommt auf dem Verfassungsblog zu dem Ergebnis, dass ein Parteiverbot der Thüringen-AfD rechtlich machbar ist. Dem rechtlichen Verfahren müsse aber eine politische Debatte vorausgehen, die erhebliche Sprengkraft habe und Gefahren bürge. Würde sich die wehrhafte Demokratie aus Angst vor dem Selbstwiderspruch im Hinblick auf die gewährte Freiheit für Andersdenkende allerdings lähmen, werde das Damoklesschwert Parteiverbot zur Legitimationsquelle für Antidemokrat:innen. Ein Verbot müsse Teil einer größer angelegten Strategie gegen politischen Extremismus sein.

Pro Bono-Arbeit in Großkanzlei: Im Interview mit LTO-Karriere (Franziska Kring) berichtet die Anwältin Marion Fischer über ihren internen Wechsel aus dem IP-/IT-Bereich bei Hogan Lovells in den Responsible-Business-Bereich der Großkanzlei, wo sie zunächst zu 40 Prozent und nun in Vollzeit Pro-Bono-Fälle bearbeitet. Sie arbeite jetzt weniger und auch mit weniger Zeitdruck und nehme zudem auch Öffentlichkeitsarbeit war. Es sei schön, der Gesellschaft etwas zurückgeben zu können, wie etwa in einem Projekt zur Beratung von afghanischen Geflüchteten.

Homogenität der Rechtswissenschaft: Im Interview mit dem JuWiss-Blog (Lamia Amhaouach-Lares/Felix Würkert) spricht Rechtsprofessor Felix Hanschmann über Habitus und Fremdheitsgefühle in der Rechtswissenschaft. Im Vergleich zu anderen Studienfächern gebe es (abgesehen vom Geschlecht, wo die Benachteiligung erst in späteren Stadien eintrete), sehr wenig Diversität. Das konterkariere Forderungen nach Chancengleichheit, lasse Humankapital ungenutzt und erschwere eine Perspektivenerweiterung. Als Spitze der Homogenität und Distinktion bezeichnet er die Staatsrechtslehrertagungen.

 

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LTO/tr/chr

(Hinweis für Journalist:innen

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 18. August 2023: BAG zu Kündigung im Insolvenzfahren / Richterbund kritisiert Lindner / BGH zu nicht angetretenen Flugreisen . In: Legal Tribune Online, 18.08.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52510/ (abgerufen am: 27.04.2024 )

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