Die juristische Presseschau vom 27. Juli 2022: Pro­zess­be­ginn zum Corona-Auf­bau­fonds / Miet­kau­tion in Aktien / Kron­zeuge ohne Öff­ent­lich­keit?

27.07.2022

Das BVerfG begann mit der Verhandlung über den schuldenfinanzierten Aufbaufonds der EU. Eine Mieterin kann den vollen Wert einer gut angelegten Mietkaution herausverlangen. Das OLG Dresden entscheidet über den Ausschluss der Öffentlichkeit bei einer Kronzeugenvernehmung.

Thema des Tages

BVerfG – Corona-Aufbaufonds: Am Bundesverfassungsgericht hat die zweitägige Verhandlung um den schuldenfinanzierten Corona-Wiederaufbaufonds der EU begonnen. Die Kläger halten die gesetzliche Zustimmung des Bundestags für verfassungswidrig, weil sich aus den EU-Verträgen ein Verschuldungsverbot ergebe. Die EU handele hier offensichtlich "ultra vires". Außerdem habe der Bundestag mit der Zustimmung zu diesem Fonds seine haushaltspolitische Gesamtverantwortung verletzt, weil Deutschland bei einem Zusammenbruch der EU letztlich für die gesamte Schuldensumme von über 800 Mrd. Euro hafte. Die Verfassungsbeschwerden u.a. von AfD-Gründer Bernd Lucke gelten als wenig aussichtsreich, nachdem das Bundesverfassungsgericht 2021 einen Antrag auf einstweilige Anordnung ablehnte. Das Gericht könnte allerdings die Kontroll- und Informationsrechte des Bundestags verbessern. Es berichten taz (Christian Rath) und FR (Ursula Knapp). Vorberichte brachten LTO und tagesschau.de (Frank Bräutigam/Claudia Kornmeier). An diesem Mittwoch wird die Verhandlung fortgesetzt. Aussagen der Sachverständigen finden sich vorab in der FAZ (Katja Gelinsky). 

Verfassungsrichter Peter M. Huber: Berichterstatter in diesem Verfahren ist Bundesverfassungsrichter Peter  M. Huber, dessen Amtszeit bald endet. Die FAZ (Reinhard Müller) portraitiert Huber als "Wächter der Demokratie", von dem eine "scharfzügige Antwort" zu erwarten ist, wenn man ihm ein "antiquiertes Verständnis von Verfassungsprinzipien" vorwirft. 

Rechtspolitik

Virtuelle Hauptversammlung: Die FAZ (Christopher Danwerth) analysiert das jetzt in Kraft getretene Gesetz, nach dem Aktiengesellschaften ihre Hauptversammlung auch nach der Pandemie als reine Onlineveranstaltung durchführen können. Die Teilnahme und Teilhabe von Aktionär:innen könne so zwar verbessert werden, dennoch sei eine rechtssichere Durchführung fraglich und biete ein weites Feld für Fehlerquellen.

Abtreibungsgegner:innen: Auf Libra befasst sich Rechtsprofessorin Frauke Rostalski mit der Frage, ob es als "Gehsteigbelästigung" sanktioniert werden soll, wenn Abtreibungsgegner:innen abtreibungswillige Frauen vor spezialisierten Kliniken ansprechen. Sie kommt zu dem Schluss, dass ein Diskurs kurz vor dem Abbruch nicht verhindert werden kann. Ein bloßes Ansprechen von Schwangeren verbunden mit einem Beratungsangebot sei schließlich nicht mit "Zwang oder Druck" verbunden.

Greenwashing: Die EU-Kommission hat einen Vorschlag zur Eindämmung von Greenwashing unterbreitet, der eine "schwarze Liste" unlauterer Geschäftspraktiken beinhaltet. Danach wäre beispielsweise das Werben mit der hervorragenden Umweltleistung eines Produktes unzulässig, wenn diese nicht nachgewiesen werden kann. Der Vorschlag könnte zu deutlichen Einschränkungen für umweltbezogene Aussagen im deutschen Recht führen, so Rechtsanwalt Oliver Stegmann in der FAZ.

Justiz

AG Köln zu Mietkaution: Das Amtsgericht Köln hat entschieden, dass eine Mietkaution, die vom Vermieter in Aktien angelegt wurde und deshalb stark im Wert gestiegen ist, in dieser Form herausgegeben werden muss. Dem Gericht zufolge stehen dem Mieter Erträge unabhängig von der gewählten Anlageform zu. Hierzu zählen neben ausgezahlten Dividenden auch etwaige Kursgewinne aus Aktien. Geklagt hatte eine Mieterin, die im Jahr 1960 eine Mietkaution in Höhe von 400 Euro eingezahlt hatte und deren Wert in den darauffolgenden Jahren auf 100 000 Euro gestiegen war. Es berichten LTO und spiegel.de.

OLG Dresden – militante Antifa/Lina E.: An diesem Mittwoch wird das Oberlandesgericht Dresden entscheiden, ob im Prozess gegen die linke Aktivistin Lina E. die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden muss, wenn am morgigen Donnerstag der Kronzeuge Johannes D. aussagt. Der Anwalt von D. verweist auf eine Gefahr für seine Sicherheit gemäß § 172 GVG. Notwendig wäre eine konkrete Gefahr, die einen besonderen Schutz erfordert. Es ist allerdings fraglich, ob Identität und persönliche Umstände nach dem umfassenden Outing im Netz überhaupt noch geschützt werden können. LTO (Markus Sehl) und taz (Konrad Litschko) berichten.

BVerfG - "Judensau"-Relief: Michael Dietrich Düllmann, der Kläger im Prozess um das "Judensau"-Relief an der Stadtkirche Wittenberg, hat vor dem Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde gegen das BGH-Urteil vom Juni eingereicht. Der BGH hatte entschieden, dass das antisemitische Relief nicht entfernt werden muss, weil es durch die evangelische Kirchengemeinde Wittenberg mit einer Bodenplatte und einem Aufsteller mit erläuterndem Text von einem "Schandmal" in ein "Mahnmal" umgewandelt wurde. Düllman argumentierte, das Relief verletze seine Grundrechte und stelle für ihn als Juden eine schwere Persönlichkeitsrechtsverletzung dar. Unterdessen empfahl ein von der Kirchengemeinde einberufener Expertenrat, das Relief von der Wittenberger Stadtkirche zu entfernen und an anderer Stelle mit adäquater Kontextualisierung aufzustellen. Es berichten SZ (Iris Mayer) und spiegel.de (Peter Maxwill).

VerfGH RhPf zu Geschwindigkeitskontrollen: Der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz hat entschieden, dass die Nichtspeicherung von Rohmessdaten eines Radarmessgeräts keine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren darstellt. Es liege ein standardisiertes Messverfahren vor, das mittels Mess- und Eichrecht und der Überprüfung des einzelnen Geschwindigkeitsmesswertes im Zulassungsverfahren die Sicherheit der Messung gewährleiste. Weiteren Ungenauigkeiten werde durch den Abzug eines Toleranzwertes Rechnung getragen, so das Gericht. Damit wurde die Verfassungsbeschwerde eines Mannes zurückgewiesen, der wegen eines Geschwindigkeitsverstoßes verurteilt worden war. Dies berichtet LTO.

OLG Düsseldorf zu IS-Rückkehrerin Verena M.: Das Oberlandesgericht Düsseldorf hat die 33-jährige IS-Rückkehrerin Verena M. wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen Terror-Vereinigung und wegen Verletzung der Erziehungs- und Fürsorgepflicht zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Sie war mit ihrem fünfjährigen Sohn nach Syrien gereist und hatte sich im Juli 2015 dem IS angeschlossen. Zudem besaß sie zwei Sturmgewehre und habe damit auch gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz verstoßen. Ihr Geständnis und die Tatsache, dass sie mehr als zweieinhalb Jahre in kurdischen Internierungslagern unter desolaten Bedingungen festgehalten wurde, wirkten sich strafmildernd aus. Dies berichtet spiegel.de.

LG Verden - Mord an Frederike von Möhlmann: Wie LTO berichtet, wird der erneute Prozess gegen den 1983 freigesprochenen Tatverdächtigen Ismet H. frühestens im Jahr 2023 stattfinden. Damit wird der ursprünglich für August angesetzte Prozessbeginn verschoben. Das Landgericht Verden will zunächst abwarten, was die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des neuen Gesetzes zur Wiederaufnahme (§ 362 Nr. 5 StPO) durch das Bundesverfassungsgericht ergibt. Das BVerfG hatte jüngst die Freilassung H.s aus der U-Haft verfügt.

LG Würzburg zu Messerstecher von Würzburg: Das Landgericht Würzburg hat entschieden, dass ein somalischer Flüchtling zeitlich unbefristet in der Psychiatrie untergebracht werden muss. Er hatte am 25. Juni 2021 in der Würzburger Innenstadt wahllos Menschen mit einem Messer angegriffen und dabei drei Frauen getötet. Er leide laut zweier Gutachten unter einer paranoiden Schizophrenie und hörte Stimmen, die ihn zur Tat aufgefordert hätten. Dies berichtet spiegel.de.

Annette Ramelsberger (SZ) begrüßt die Entscheidung und hält die Tat für ein "schreckliches Unglück" und für keinen Mord, da der Mann auf der Anklagebank offensichtlich "schwer krank" sei.

Recht in der Welt

USA – Biontech gegen Curevac: Wie FAZ und spiegel.de berichten, hat Biontech in den USA Klage gegen das konkurrierende Biotechunternehmen Curevac eingereicht. Das Bundesbezirksgericht in Massachussets soll feststellen, dass drei der US-Patente von Curevac nicht durch den Covid-19-Impfstoff Comirnaty des Herstellers Biontech verletzt werden. Zuvor hatte Curevac beim Landgericht Düsseldorf gegen Biontech wegen Patentverletzungen geklagt.

Tunesien – neue Verfassung: Das tunesische Volk hat per Referendum den von Staatspräsident Kais Saied eingebrachten Entwurf einer neuen Verfassung angenommen. Sie ersetzt die klassische parlamentarische Demokratie durch eine Mischung aus präsidentieller Allmacht und Lokalräten. An der Wahl nahmen jedoch lediglich 27 Prozent der knapp neun Millionen Stimmberechtigten teil. Von ihnen stimmten 97 Prozent für die neue Verfassung. Philipp Bremer (Konrad-Adenauer-Stiftung) sieht hierin einen "gefährlichen Schritt zurück". Es müsse befürchtet werden, dass Tunesien immer autokratischer geführt werde. Dies werde das "Land zerreißen". Es berichten FAZ (Hans-Christian Rößler) und taz (Mirco Keilberth).

Mirco Keilberth (SZ) sieht jedoch auch einen "kleinen Funken Hoffnung", dass der Übergang zur Demokratie nach 75 Jahren Kolonialzeit und drei Jahrzehnten Diktatur eben "etwas mehr Zeit" benötige. Die Menschen beklagten zurecht, dass die im arabischen Frühling errungene Demokratie außer Redefreiheit "keinen grundlegenden Wandel" herbeigeführt habe. Von Friedensnobelpreisen könne man sich nichts kaufen. 

Frankreich – Abschaffung der Rundfunkgebühren: Die FAZ (Jürg Altwegg) berichtet vertieft über die in der Nationalversammlung beschlossene Abschaffung der Rundfunkgebühren und die entsprechenden Debatten der letzten Jahrzehnte. Das links-grüne Bündnis NUPES hat inzwischen den Verfassungsgerichtshof angerufen, da die Garantie der Finanzierung öffentlich-rechtlicher Sender in der Verfassung festgehalten ist. 

Sonstiges

Polizeiliche Kriminalstatistik: Der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) zufolge lagen die polizeilich erfassten Straftaten im Jahr 2021 auf dem niedrigsten Niveau seit der Jahrtausendwende. Gründe hierfür seien die Verschiebung der Kriminalität in den Cyberbereich und die Coronapandemie. LTO und FAZ-Einspruch berichten.

VW und Datenschutz: Volkswagen muss ein Bußgeld in Höhe von 1,1 Millionen Euro zahlen, da der Automobilkonzern bei Testfahrten in Österreich im Jahr 2019 Wagen mit Kameras ausgestattet hatte, die die Umgebung filmten, ohne darauf hinzuweisen. Die niedersächsische Landesbeauftragte für Datenschutz sah darin einen Verstoß gegen die EU-Datenschutzgrundverordnung, wenn auch mit niedrigem Schweregrad. spiegel.de berichtet.

Flugreisen und Gas: Der SWR-Radio-Report-Recht (Gigi Deppe/Max Bauer) befasst sich mit den Rechten von Flugreisenden und was Mieter bei steigenden Gaspreisen tun können.

Virtuelle Kanzlei: Wie die FAZ (Marcus Jung) berichtet, hat die deutsche Großkanzlei Gleiss Lutz im Metaverse einen virtuellen Standort eröffnet. Juristische Fragen können auf diese Weise beantwortet werden, ohne dass die Mandanten die Kanzlei besuchen müssen.

Leiharbeit: Die Anwältin Anja Branz befasst sich im Expertenforum Arbeitsrecht mit arbeits- und datenschutzrechtlichen Besonderheiten, die zu beachten sind, wenn Leiharbeit durch Online-Plattformen gesteuert wird.

Das Letzte zum Schluss

Freie Sicht: Im Landkreis Starnberg hat ein 52-Jähriger die Garage seines Nachbarn mit einer Kettensäge beschädigt, weil diese seinen Blick auf den Starnberger See gestört hatte. Zwar hatte er zuvor das Kabel der Überwachungskamera durchschnitten, wusste aber nicht, dass diese auch über eine Batterie verfügte. Dies berichtet spiegel.de.

 

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LTO/ok

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 27. Juli 2022: Prozessbeginn zum Corona-Aufbaufonds / Mietkaution in Aktien / Kronzeuge ohne Öffentlichkeit? . In: Legal Tribune Online, 27.07.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49158/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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