Die juristische Presseschau vom 6. Mai 2022: BVerfG zu Wind­parks / EuGH-Gene­ral­an­wältin zu Luft­ver­sch­mut­zung / LG Mün­chen I zu Wire­card-Bilanzen

06.05.2022

Windparkbetreiber können verpflichtet werden, Anwohner und Kommunen finanziell zu beteiligen. Bürger können eventuell Schadensersatz wegen Luftverschmutzung einklagen. Wirecard-Beschlüsse zur Gewinnverwendung waren nichtig.

Thema des Tages

BVerfG zu Windparks: Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass Betreiber von Windparks in Mecklenburg-Vorpommern dazu verpflichtet werden dürfen, betroffene Anwohner und Kommunen finanziell am Ertrag zu beteiligen. Dies stelle zwar einen Eingriff in die Berufsfreiheit dar, doch sei der Eingriff durch die damit verfolgten Gemeinwohlziele wie Klimaschutz und Sicherung der Stromversorgung gerechtfertigt. Das Gericht wies damit die Verfassungsbeschwerde eines Windenergie-Unternehmens zurück, das sich durch das in Mecklenburg-Vorpommern seit 2016 geltende Beteiligungsgesetz in seinen Grundrechten verletzt sah. Nach diesem müssen Betreiber vor dem Bau eines Windparks eine Projektgesellschaft gründen. Zudem müssen sie Gemeinden und Bürgern im Umkreis von fünf Kilometern mindestens ein Fünftel der Anteile zum Kauf anbeiten oder alternativ den Kommunen eine jährliche Zwangsabgabe und den Bürgern ein verzinstes "Sparprodukt" offerieren. Mit dem Gesetz soll die Akzeptanz für neue Windenergieanlagen verbessert werden. Es schreiben FAZ (Katja Gelinsky), taz (Christian Rath), LTO, tagesschau.de (Klaus Hempel) und spiegel.de.

Ukraine-Krieg und Recht

Kriegseintritt und Völkerrecht: Auf LTO kommt nach einer ausführlichen Darstellung zum Status der "Konfliktpartei" nun auch der wissenschaftliche Mitarbeiter Philipp Dürr zum Ergebnis, dass Deutschland durch die Waffen-Ausbildung ukrainischen Militärpersonals in Deutschland nicht zur Konfliktpartei wird. Gleichzeitig warnt er vor der "faktischen Realität", denn "normative Kriterien" seien kein "Garant für Sicherheit". Es sei "töricht" zu meinen, Putin hätte ein "völkerrechtliches Handbuch" und würde bei der "kleinstmöglichen Überschreitung rechtlicher Regeln zu einer Eskalation des Konflikts gereizt".

Rechtspolitik

Einschüchterungsklagen: Auf dem Verfassungsblog befasst sich Rechtsanwalt Joschka Selinger, der für die Gessellschaft für Freiheitsrechte (GFF) arbeitet, mit dem Vorschlag der EU-Kommission für eine EU-Richtlinie gegen SLAPPs (Strategic Lawsuits Against Public Participation). SLAPPS sind Klagen, die einzig darauf zielen, die Betroffenen einzuschüchtern. Der Vorschlag der Kommission beschränkt sich auf Klagen in Zivilsachen mit grenzüberschreitendem Bezug. Die Kommission fordert die Mitgliedstaaten aber auf, die geplante Richtlinie überschießend umzusetzen und dabei auch innerstaatliche Sachverhalte und sämtliche Verfahrensarten  zu erfassen. Die Bundesregierung habe im Koalitionsvertrag angekündigt, europaweite Maßnahmen gegen SLAPPs zu unterstützen. Laut Selinger hinkt die deutsche Debatte aber noch hinterher. So würden SLAPPs bisher nicht systematisch erfasst und diskutiert.

Justiz

EuGH – Luftverschmutzung: Sind Gesundheitsschädigungen darauf zurückzuführen, dass ein Staat die EU-Grenzwerte für Luftqualität nicht eingehalten hat, so kann der Staat verpflichtet werden, dem Geschädigten Schadensersatz zu zahlen. Dies empfiehlt Generalanwältin Juliane Kokott in einem Verfahren aus Frankreich. Dabei forderte ein Einwohner aus Paris 21 Millionen Euro vom französischen Staat. Dieser habe nicht dafür gesorgt, dass die Grenzwerte für Stickstoffoxid eingehalten wurden, woraufhin seine Gesundheit geschädigt wurde. Kokott verweist auf die allgemeinen unionsrechtlichen Voraussetzungen der Staatshaftung. Danach müsse das EU-Recht den Einzelnen Rechte verleihen, was hier der Fall sei. Zweitens müsse eine qualifizierte Verletzung des EU-Rechts vorliegen. Und schließlich müsse vor den nationalen Gerichten die Kausalität zwischen Rechtsverletzung und Schaden nachgewiesen werden. LTO und spiegel.de berichten.

LG München I – Wirecard: Das Landgericht München I hat die Bilanzen des Unternehmens Wirecard für 2017 und 2018 und darauf basierende Beschlüsse der Hauptversammlungen zur Gewinnverwendung für nichtig erklärt. Geklagt hatte Insolvenzverwalter Michael Jaffé, der durch das Urteil die Dividenden für die beiden Jahre von den Aktionären zurückfordern könnte. Es geht um rund 47 Millionen Euro. Gleichzeitig könnte das Urteil Auswirkungen auf die mehr als tausend anhängige Klagen von Aktionär:innen gegen die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY haben. Dies berichten SZ (Jan Diesteldorf/Nils Wischmeyer), FAZ (Katja Gelinsky/Tillmann Neuscheler), Hbl (René Bender/Lars-Marten Nagel), LTO und spiegel.de.

Sven Astheimer (FAZ) nennt die Entscheidung eine "schallende Ohrfeige" für die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY.

EuGH – Verfall von Jahresurlaub: Der Generalanwalt Jean Richard empfiehlt in seinen Schlussanträgen, dass der Anspruch auf Resturlaub aus den Vorjahren nicht automatisch nach drei Jahren verjährt, wie es § 195 BGB vorsieht. Die Drei-Jahres-Frist dürfe vielmehr erst zu laufen beginnen, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über die Möglichkeit des Erlöschens des Anspruchs informiert hat. Dies berichten LTO und spiegel.de.

EuGH zu Information über Herstellergarantie: Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass Online-Händler:innen auf Online-Marktplätzen wie Amazon Verbraucher:innen nur dann über eine Herstellergarantie informieren müssen, wenn dies für eine Kaufentscheidung relevant sein könnte. Eine generelle Mitteilungspflicht sei unverhältnismäßig. Im konkreten Fall, den der Bundesgerichtshof vorgelegt hatte, war ein Taschenmesser-Verkäufer von einem Konkurrenten verklagt worden, weil er nicht auf die Garantie des Herstellers Victorinox hingewiesen hatte. Es berichtet LTO.

BVerwG zu Informationsfreiheit/BMF-Beirat: Das Bundesverwaltungsgsgericht hat das Bundesministerium der Finanzen (BMF) dazu verpflichtet, die Sitzungsprotokolle seines wissenschaftlichen Beirats auf Anfrage in anonymisierter Form herauszugeben. Dem Gericht zufolge komme es für die Herausgabe der Informationen nur auf die Regelungen des Informationsfreiheitsgesetzes (IFG) an, sodass eine interne Satzung nicht entgegenstehen könne. Ausnahmetatbestände und Begrenzungen zu bilden sei Sache des Gesetzgebers, sie könnten nicht durch die jeweilige Behörde geschaffen werden. Geklagt hatten die Organisation FragDenStaat und Politikwissenschaftler Moritz Neujeffski, unterstützt von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF). LTO (Annelie Kaufmann) berichtet.

OVG Berlin-BB zu Braunkohletagebau: Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hat entschieden, dass der brandenburgische Braunkohletagebau Jänschwalde vorerst weiter betrieben werden darf. Das Gericht gab damit der Beschwerde der Lausitzer Energie Bergbau AG (LEAG) gegen den zuvor ergangenen Beschluss des Verwaltungsgerichts Cottbus statt. In diesem war der LEAG der Weiterbetrieb des Tagebaus ab dem 15. Mai untersagt worden, da die Zulassung des Hauptbetriebsplans 2020 bis 2023 rechtswidrig sei und mehr Wasser für den Betrieb abgepumpt wurde, als die Erlaubnis vorsehe. Dem Oberverwaltungsgericht zufolge lasse sich die Rechtswidrigkeit des Hauptbetriebsplans jedoch nicht im Eilverfahren klären. Mit einer Einstellung des Tagebaubetriebs seien schwerwiegende Nachteile für die wirtschaftlichen Interessen der LEAG und für öffentliche Interessen zu erwarten. Verwiesen wurde u.a. auf die gefährdete Energieversorgung aufgrund des Ukraine-Kriegs. Es berichtet LTO.

VG Hamburg zu Protestcamp bei G20: Wie LTO berichtet, hat das Verwaltungsgericht Hamburg die polizeilichen Maßnahmen gegen das Protestcamp anlässlich des G20-Gipfels im Jahr 2017 für rechtswidrig erklärt. Dem Gericht zufolge hätte die Polizei weder ein Verbot des Protestcamps aussprechen noch den Zugang zum Gelände blockieren dürfen. Auch die spätere Untersagung von Schlafzelten, Duschen und Küchen sei rechtswidrig gewesen. Das angemeldete Zeltlager habe eine Versammlung im Sinne von Art. 8 Abs. 1 GG dargestellt.

VG Potsdam - Hohenzollern: Wie die SZ (Jörg Häntzschel) schreibt, sind die Verhandlungen zwischen dem Staat (Bund und Ländern) und der Familie der Hohenzollern um deren Rückgabeforderungen aus den Neunzigerjahren gescheitert, sodass nun der Prozess am Verwaltungsgericht Potsdam fortgeführt werden muss. Im Kern geht es um die Frage, ob Kronprinz Wilhelm von Preußen dem NS-System "erheblichen Vorschub" geleistet hat.

LG Berlin zu Missbrauch durch Babysitter: Wie spiegel.de (Wiebke Ramm) berichtet, hat das Landgericht Berlin den 28-jährigen Sönke G. unter anderem wegen besonders schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und Herstellung kinderpornografischer Schriften zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Er soll sich im Netz als Babysitter angeboten haben und in diesem Rahmen zwischen Januar 2015 und März 2020 insgesamt 95 Missbrauchstaten an Kindern begangen haben.

AG München zu Hausbesetzung durch Journalist: Das Amtsgericht München hat fünf Angeklagte, darunter einen Journalisten, wegen Hausfriedensbruchs verurteilt. Die Besetzung eines leerstehenden Hauses diente als Protest gegen die Münchner Automesse IAA. Mitverurteilt wurde der freie Journalist Michael Trammer, der angab, für die taz aus dem besetzten Gebäude berichtet zu haben. Dem Gericht zufolge hätte er sich für die Berichterstattung aber nicht stundenlang in dem Haus aufhalten müssen. Der Richter zeigte jedoch großes Verständnis für die klimapolitischen Motive der Besetzer und verhängte überwiegend Verwarnungen mit Strafvorbehalt. Es schreiben taz (Dominik Baur) und spiegel.de

Bernd Kastner (SZ) meint, dass über die Entscheidung eine "zweite Instanz noch einmal nachdenken" sollte, denn "ohne freie Presse" gebe es "keine Demokratie".

StA Stuttgart – Innenminister Strobl: Nun berichten auch SZ (Max Ferstl) und FAZ (Rüdiger Soldt) über die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Stuttgart gegen den baden-württembergischen Innenminister Thomas Strobl (CDU) wegen Anstiftung zu einer verbotenen Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen (§ 353d StGB).

Stephan Mayer gegen Burda-Verlag: Wolfgang Janisch (SZ) äußert sich im "aktuellen Lexikon" zur Ankündigung des zurückgetretenen CSU-Generalsekretärs Stephan Mayer, gegen den Burda-Verlag Klage erheben zu wollen, weil dieser über seinen verleugneten unehelichen Sohn berichtet hat. Es sei nicht gerechtfertigt, jede private Information in die Öffentlichkeit zu tragen. Auch Politiker behielten einen "Rest von Privatsphäre". Nur wer "Heim und Familie in Homestorys zu Markte trägt", verspiele diesen. Mayer gehöre jedoch nicht zu dieser "Spezies".

Recht in der Welt

USA – Rapper Kidd Creole: Laut FAZ (Christiane Heil) wurde der Rapper Kidd Creole wegen Totschlags zu sechzehn Jahren Haft verurteilt, weil er Anfang August 2017 einen Obdachlosen tödlich mit einem Messer erstach.

Israel – Feuerzone 918: Das Oberste Gericht in Tel Aviv hat in einem seit mehr als zwanzig Jahren andauernden Verfahren entschieden, dass die Bewohner von acht palästinensischen Dörfern im Westjordanland durch das Militär verwiesen werden dürfen. Das 3000 Hektar große militärische Trainingsgebiet ist unter dem Namen "Feuerzone 918" bekannt und wurde durch die israelische Armee im Jahr 1981 im Süden des Westjordanlands ausgewiesen. Menschenrechtsaktivisten äußerten sich kritisch und stufen das Urteil als Verbrechen gegen die Menschheit ein. Dies berichtet die FAZ (Christian Meier).

Juristische Ausbildung

Frauen in Prüfungskommissionen: Die Hamburger Regierungsfraktionen von SPD und Grünen wollen in der kommenden Sitzungswoche einen Antrag mit der Aufforderung einbringen, die Prüfungskommissionen im Ersten Staatsexamen mit mehr Frauen zu besetzen. LTO-Karriere (Pauline Dietrich) stellt dar, was sich innerhalb der einzelnen Bundesländer hinsichtlich der Frauenquote in Prüfungskommissionen verändert hat, seit eine Studie aus dem Jahr 2018 die mögliche Diskriminierung von Frauen im mündlichen Staatsexamen aufzeigte. Der Frauenanteil habe sich zwar erhöht, dennoch gebe es noch zu viele Prüfungskommissionen, in denen nur Männer sitzen. 

Sonstiges

Anwalt Ingo Lenßen: In einem Interview mit der SZ (Jan Diesteldorf) spricht Strafverteidiger Ingo Lenßen über seine Zeit als TV-Anwalt.

 

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Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

LTO/ok

(Hinweis für Journalist:innen

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 6. Mai 2022: BVerfG zu Windparks / EuGH-Generalanwältin zu Luftverschmutzung / LG München I zu Wirecard-Bilanzen . In: Legal Tribune Online, 06.05.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48359/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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