Die juristische Presseschau vom 27. Oktober 2021: Pro­zess­auf­takt nach Tötung Behin­derter / Ende der epi­de­mi­schen Lage naht / Aus­tra­li­sche Kli­maklage

27.10.2021

Am LG Potsdam hat der Prozess gegen eine Ex-Pflegerin wegen der Tötung von vier behinderten Menschen begonnen. Die Ampel-Parteien wollen die epidemische Notlage beenden. In Australien strengt ein indigenes Volk eine Klimaklage an.

Thema des Tages

LG Potsdam – Tötung Behinderter: Vor dem Landgericht Potsdam hat das Verfahren gegen eine 52-jährige ehemalige Pflegerin begonnen, der unter anderem vorgeworfen wird, vier Bewohner:innen der diakonischen Behinderten-Einrichtung Oberlinhaus heimtückisch ermordet zu haben. Die Staatsanwaltschaft geht von verminderter Schuldfähigkeit aus. Die Angeklagte berichtete am ersten Prozesstag über ihren Werdegang, der durch Gewalt in der Kindheit, Suizidversuche, Depressionen und Medikamente geprägt sei. Über 31 Jahre habe sie glücklich im Oberlinhaus gearbeitet und Kinder, Jugendliche und Erwachsene betreut. Anschließend schilderten Polizeibeamte dem Gericht Details zu den Ermittlungen. So sei die Frau nach der Tat zu Hause festgenommen und in eine Psychiatrie eingewiesen worden. Es berichten SZ (Jan Heidtmann), taz (Linda Gerner), spiegel.de (Wiebke Ramm) und LTO

Rechtspolitik

Corona – Epidemische Lage: Die Ampel-Parteien haben sich geeinigt, die "epidemische Lage von nationaler Tragweite" nach dem 25. November nicht mehr zu erneuern. Maßnahmen wie die Maskenpflicht, die Kontaktnachverfolgung oder verpflichtende Hygienekonzepte sollen auf neuer rechtlicher Basis im Infektionsschutzgesetz geregelt werden. Dies berichtet bild.de (Filipp Piatov u.a.). Rechtsprofessorinnen wie Elisa Hoven warnen, dass Corona-Maßnahmen damit auf Dauer verstetigt werden könnten.

Whistleblower: Georg Mascolo (SZ) kritisiert im Leitartikel den unzureichenden Schutz von Whistleblower:innen in Deutschland. In der Kritik am gescheiterten "Hinweisgeberschutzgesetz" zeige sich ein in Deutschland mächtiges Bild vom Whistleblower als ungeliebtem Denunzianten. Mit einer schnellen Umsetzung der EU-Whistleblower-Richtlinie könne eine künftige Bundesregierung noch die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die EU-Kommission abwenden. Der bisherige Bremser CDU/CSU sei jetzt ja nicht mehr beteiligt.

Planung: Die FAZ (Helene Bubrowski) zeichnet Probleme auf dem Weg zu einer schnelleren Genehmigung von Großprojekten nach. So dürfte etwa eine Genehmigung per Gesetz gegen EU- und Völkerrecht verstoßen. Auch eine Beschränkung des Verbandsklagerechts oder eine Verkürzung des Instanzenzuges wären demnach nicht erfolgversprechend. Der Rechtsanwalt Wolfgang Ewer äußert in dem Beitrag, eine deutliche Beschleunigung könne durch eine Vereinfachung von EU-Recht gelingen. Maßgeblich für Verzögerungen sei aber auch ein hiesiges "kulturelles Vorverständnis". 

Pflegekräfte und Arbeitszeit: In einem Beitrag in der FAZ fordert Rechtsprofessor Gregor Thüsing einen neuen Rechtsrahmen für die häusliche 24-Stunden-Betreuung. Denkbar sei etwa eine Erweiterung des arbeitszeitrechtlichen Ausnahmetatbestands sowie ein modifiziertes Verständnis des Bereitschaftsdienstes im Mindestlohnrecht. Zugleich sollten Schutzvorschriften auch für Selbständige erlassen werden. 

Bestpreisklauseln: In einem Gastbeitrag für die FAZ fordert die emeritierte Rechtsprofessorin Gabriela von Wallenberg, Online-Vermittlungsplattformen wie "booking.com" nicht vom Verbot vertikaler wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen freizustellen. Insbesondere müsse die Verwendung von sogenannten Bestpreisklauseln verboten sein, also die Möglichkeit, Partnerhotels zu verbieten, Zimmer auf der eigenen Internetseite oder auf anderen Online-Vermittlungsplattformen zu besseren Konditionen anzubieten. Nur bei einem vollständigen Verbot hätten Konkurrenten eine realistische Chance, in den Markt einzutreten. 

Bundesrat: Auf dem Verfassungsblog meint Politikprofessor Christian Stecker, die Möglichkeit eines Bundesratsvetos stelle ein parteipolitisches Minderheitsveto dar, das kaum zu rechtfertigen sei. Um das Blockadepotential zu entschärfen, müsse der Bundesrat reformiert werden. Wie im Bundestag sollte im Bundesrat anstelle der absoluten Mehrheit die einfache Mehrheit gelten. 

Freiheit und Datenschutz: netzpolitik.org hat ein Gespräch des baden-württembergischen Datenschutzbeauftragten Stefan Brink mit dem FDP-Politiker Gerhart Baum transkribiert. Sie sprechen über Baums Rolle in der Politik, Grundrechte in digitalen Zeiten und über die Geschichte des Datenschutzes. 

Corona-Einschränkungen: Reinhard Müller (FAZ) erkennt beim Thema Corona eine Tunnelwahrnehmung und eine verschärfte Polarisierung der Bevölkerung. Frei und demokratisch beschlossene und rechtsstaatlich kontrollierte Regeln müssten akzeptiert werden. Neben Gewaltfreiheit gehöre zum Diskurs auch, Tatsachen anzuerkennen und sich aus seiner Blase zu lösen. 

Inflation: Ex-Verfassungsrichter Paul Kirchhof kritisiert auf dem FAZ-Einspruch die "Inflationspolitik" der Europäischen Zentralbank. Die EU-Verträge forderten eine Geldpolitik, die Inflation und Deflation möglichst vermeidet. Die EZB-Politik sei eine hoheitliche Intervention in die "Eigentumsrechte der Sparer", "die im Wesentlichen im Anspruch auf Zins und Substanzerhalt liegen".


Justiz

BVerfG zum Klimaschutz: Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, hat laut FAZ (Corinna Budras) den im Mai veröffentlichen Beschluss verteidigt, mit dem das BVerfG das Klimaschutzgesetz für verfassungswidrig erklärt hatte. Der Beschluss enthalte zwar einen "fulminanten Perspektivwechsel" und sei mit dem Konzept eines intertemporalen Freiheitsschutzes innovativ. Letztlich ließen sich die Innovationen jedoch auf die in der Rechtsprechung erprobten Konzepte zurückführen. 

BAG zu Umkleidezeit: Einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zufolge handelt es sich bei den erforderlichen innerbetrieblichen Wegezeiten zwischen Spind, Umkleideraum und eigentlichem Arbeitsplatz sowie dem Umkleiden selbst um vergütungspflichtige Arbeitszeiten. Durch Arbeits- oder Tarifvertrag kann jedoch der Entgeltanspruch ausgeschlossen werden, so das Gericht laut community.beck.de (Christian Rolfs)

OLG Köln zum Filmen von Polizeieinsätzen: Wenn Polizist:innen bei Routine-Einsätzen gefilmt werden, dürfen einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Köln zufolge die Aufnahmen nur dann ins Internet gestellt werden, wenn die Gesichter der Polizist:innen verpixelt oder anderweitig unkenntlich gemacht sind. Routine-Einsätzen käme keine zeitgeschichtliche Bedeutung zu. Das Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit stehe in diesem Fall hinter dem Persönlichkeitsrecht zurück. Über die Entscheidung schreibt nun auch die SZ (Niklas Elsenbruch)

LTO (Markus Sehl) stellt indes die Frage, ob das Filmen von Polizeibeamten strafbar ist. Zuletzt hätten sich Polizei und Staatsanwaltschaften für eine Strafverfolgung regelmäßig auf § 201 Strafgesetzbuch (StGB) berufen. Zwar fehle bislang eine höchstgerichtliche Entscheidung zu der Frage. Jedoch scheine sich die Auffassung unter den Gerichten durchzusetzen, dass das Filmen im öffentlichen Raum regelmäßig nicht nach § 201 StGB strafbar sei. Es handele sich gerade nicht um eine abgeschirmte Gesprächssituation, deren Schutz § 201 StGB bezwecke. 

LG Itzehoe – KZ-Sekretärin Stutthof: Vor dem Landgericht Itzehoe ist der Prozess gegen eine ehemalige KZ-Sekretärin fortgesetzt worden. Dabei lehnte das Gericht die Eröffnungserklärung eines Nebenklageanwalts ab. Daraufhin warf der Rechtsanwalt dem Gericht vor, dieses wolle die (nicht anwesenden) Überlebenden des KZ Stutthof zu Statisten degradieren. Es berichten spiegel.de (Julia Jüttner) und LTO

LG Erfurt zu rassistischem Angriff in der Tram: Das Landgericht Erfurt hat einen Mann, der einen Syrer in einer Straßenbahn beleidigt und brutal angegriffen hatte, wegen gefährlicher Körperverletzung, Nötigung und Sachbeschädigung zu vier Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Dabei kam das Gericht zu dem Schluss, die Tat sei eindeutig als rassistisch einzuordnen. Der Mann habe das 18-jährige Opfer menschenverachtend beleidigt. Es berichten taz und zeit.de

MFK gegen Sparkassen – Bankgebühren: Nun berichtet auch die SZ (Harald Freiberger) über die geplanten Musterfeststellungsklagen des Verbraucherzentrale Bundesverbands gegen zwei Sparkassen. Im Kern geht es um die Frage, ob die Banken die laut einem Urteil des Bundesgerichtshofs von April dieses Jahres zu Unrecht erhobenen Kontogebühren nur für die letzten drei Jahre oder generell zurückzahlen müssen.

Unterdessen verlangt auch die Finanzaufsicht Bafin, dass Geldhäuser die zu Unrecht erhobene Kontogebühren zeitnah und vollständig zurückerstatten. Noch immer behaupteten Banken, sie befänden sich noch "in der Prüfung" des Urteils, so die FAZ (Christian Siedenbiedel)

Schiedsgerichte und Umweltschutz: Im Hbl kritisiert Rechtsanwalt Juan Carlos Boué anlässlich des Erfolges eines kanadischen Unternehmens über Kolumbien in einem Schiedsverfahren die Priorisierung von Investitionsschutzverpflichtungen gegenüber Umweltmaßnahmen. Die Investitionsschiedsgerichtsbarkeit stelle ein Problem für den Schutz der Umwelt dar.

Recht in der Welt

Australien – Klimaklage: Eine Gruppe australischer Ureinwohner:innen verklagt die australische Regierung wegen des drohenden Verlusts ihrer Lebensräume durch den Klimawandel. Die auf mehreren Inseln zwischen Australien und Papua-Neuguinea lebenden Insulaner:innen kritisieren die nicht ausreichenden Klimaschutzmaßnahmen. Die Regierung hatte angekündigt, Klimaneutralität allein durch innovative Technologien erreichen zu wollen. Es berichtet die FAZ (Till Fähnders)

Großbritannien – Julian Assange: Die SZ (Alexander Mühlauer) porträtiert anlässlich des Beginns des Berufungsverfahrens um die Auslieferung Julian Assanges in die USA dessen Verlobte, die Rechtsanwältin Stella Moris.

IAGMR/Kolumbien – Sexuelle Gewalt: Im Fall einer im Jahr 2000 entführten, gefolterten und vergewaltigten Journalistin aus Kolumbien hat nun der Inter-Amerikanische Menschenrechtsgerichtshof entschieden, dass in dem Fall sexuelle Gewalt gezielt eingesetzt wurde, um die Journalistin mundtot zu machen. Das Gericht verurteilte den kolumbianischen Staat unter anderem dazu, ein Zentrum der Erinnerung für die Opfer sexueller Gewalt zu errichten und zu finanzieren, wie die taz (Knut Henkel) berichtet. 

Sonstiges

Bundesregierung: Auf spiegel.de findet sich eine Darstellung der Kompetenzen der jetzt nur noch geschäftsführenden Bundesregierung. 

Juristen im Bundestag: Unter den 735 Abgeordneten des neuen Bundestages befinden sich laut FAZ (Corinna Budras) mehr als hundert Rechtsanwält:innen, während Erzieher, Theologen oder Naturwissenschaftler:innen kaum vertreten sind. Auf LTO-Karriere (Franziska Kring) schildern drei junge Jurist:innen ihre ersten Eindrücke als neue Abgeordnete. 


Das Letzte zum Schluss

Öffentliche Ordnung: Ob Andy Grote (SPD) mit dem Streisand-Effekt vertraut ist, ist nicht übermittelt. Jedenfalls die Hamburger Polizei scheint es zu sein: Sie gibt das Übermalen von Plakaten mit der Aufschrift "Andy, Du bist so 1 Pimmel" auf, wie spiegel.de berichtet. 

 

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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/jng

(Hinweis für Journalistinnen und Journalisten)  

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 27. Oktober 2021: Prozessauftakt nach Tötung Behinderter / Ende der epidemischen Lage naht / Australische Klimaklage . In: Legal Tribune Online, 27.10.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46465/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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