Die juristische Presseschau vom 11. Dezember 2020: BVerfG sch­ließt Kor­res­pon­dent aus / Durch­bruch für EU-Rechts­staats­me­cha­nismus / Mail-Adresse ist kein Teil der Anschrift

11.12.2020

Laut BVerfG ist dessen eigene Praxis zur Presseinformation im Vorfeld von Urteilen rechtmäßig. Die EU-Staaten haben den Kompromiss zur Rechtsstaatlichkeit akzeptiert. Youtube muss keine Mail-Adressen von Raubkopierenden herausgeben.

Thema des Tages

BVerfG-Pressearbeit: Das Bundesverfassungsgericht hält seine eigene Praxis für sachlich gerechtfertigt, die in der Justizpressekonferenz (JPK) organisierten Journalistinnen und Journalisten vor der Verkündigung über Urteile zu informieren. Per Bescheid wurde ein Antrag des rechtspolitischen Korrespondenten des Berliner Tagesspiegels, Jost Müller-Neuhof, abgelehnt. Er hatte darum gebeten, dass auch ihm die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts schon am Vortag einer mündlichen Verkündung zugänglich gemacht wird. Zur Begründung hieß es, er sei weder Vollmitglied der JPK noch aus einem anderen Grund ausnahmsweise zum Vorab-Bezug berechtigt. Das Gericht geht davon aus, dass die JPK-Mitglieder die Sperrfrist einhalten, die mit der Vorab-Information verbunden ist. LTO (Pia Lorenz) und Tsp (Jost Müller-Neuhof) nehmen dies zum Anlass, die Pressearbeit des Bundesverfassungsgerichts und die Rolle der Justizpressekonferenz zu erläutern.

Rechtspolitik

EU-Rechtsstaatlichkeit: Wie FAZ (Hendrick Kafsack/Thomas Gutschker) und SZ (Karoline Meta Beisel/Matthias Kolb) berichten, haben die EU-Staats- und Regierungschefs den von der deutschen Ratspräsidentschaft mit Ungarn und Polen ausgehandelten Kompromiss zur Rechtsstaatlichkeit akzeptiert. Danach soll der Rechtsstaatsmechnismus erst angewandt werden, nachdem der Europäische Gerichtshof über dagegen gerichtete Klagen von Ungarn und Polen entschieden hat. Somit ist nun der Weg frei für die Auszahlung der EU-Corona-Hilfen aus dem 1,8 Billionen Euro umfassenden Corona-Paket. Ungarn und Polen hatten die Verabschiedung des Pakets blockiert, um sich gegen eine Verknüpfung der EU-Hilfen mit Rechtsstaatlichkeitsstandards zu wehren.

Stefan Kornelius (SZ) stellt fest, dass die EU-Kommission in dem Verhandlungspoker Entschlossenheit gezeigt und gelernt habe, dass in Zeiten schwankender Ordnungen eine neue Robustheit nötig sei.

Telekommunikation: Laut spiegel.de (Max Hoppenstedt/Marcel Rosenbach) hat das Bundeswirtschaftsministerium den 465 Seiten starken Entwurf des Telekommunikationsgesetzes an betroffene Verbände und Unternehmen verschickt, die jedoch nur 48 Stunden, bis zum heutigen Freitagabend, Zeit zur Stellungnahme haben. Unter anderem soll in dem Gesetz geregelt werden, dass Messengerdienste bestimmte Bestandsdaten speichern und auf Anfrage an Sicherheitsbehörden herausgeben sollen.

Personenkennziffer: Die SZ (Wolfgang Janisch) thematisiert die Debatte über die Datenschutzprobleme des Registermodernisierungsgesetzes. Mehr als 200 Verwaltungsregister sollen digitalisiert und standardisiert werden. Außerdem sollen die Basisdaten aller Bürgerinnen und Bürger für ein "registerübergreifendes Identitätsmanagement" mit einer zentralen Nummer verknüpft werden. Dieses Vorhaben laufe jedoch dem Datenschutz zuwider.

Internetkonzerne: In einem Gastbeitrag für FAZ-Einspruch plädiert Lucia Puttrich, hessische Ministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten dafür, eine Eingriffsgrundlage auf EU-Ebene zu schaffen, um "das bloße Akkumulieren von zu vielen Daten in einer Hand" zu unterbinden. Das europäische Datenschutz- und Wettbewerbsrecht allein könnte der Dominanz und den Missbrauchsmöglichkeiten großer Internetkonzerne nicht mehr gerecht werden.

Justiz

BGH zu Online-Urheberrechtsverletzungen: Wenn Raubkopien auf der Videoplattform Youtube hochgeladen werden, muss diese nur den Namen und Anschrift der Verantwortlichen herausgeben, nicht jedoch deren Mail- oder IP-Adresse, wie der Bundesgerichtshof entschied. Das Gericht hatte dem Europäischen Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob mit Anschrift auch Mail-Adressen und sogar Telefonnummern gemeint sein könnten, was dieser jedoch verneinte. Es berichten SZ (Wolfgang Janisch), FAZ (Corinna Budras), LTO und tagesschau.de (Christoph Kehlbach).

BVerfG – Triage und Corona: Die Jurastudentin Ann-Kristin Knoll und der Medizinstudent Christian Rausch erörtern auf dem Verfassungsblog eine Verfassungsbeschwerde, die darauf dringt, dass ein Gesetz zu einer möglichweise durch die Corona-Pandemie ausgelösten sogenannten Triage-Situation erlassen werde. Sie halten jedoch die Leitlinien der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensivmedizin (DIVI) für ausreichend.

BGH zu Schadensersatz nach Besitzverlust: Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass Mieterinnen und Mieter einen Anspruch auf Schadensersatz haben können, wenn sie wegen einer Pflichtverletzung ihrer Vermieterin oder ihres Vermieters ausziehen müssen, wie LTO berichtet. Sie können jedoch die Maklerprovision für den Kauf einer eigenen Immobilie nicht erstattet bekommen. Geklagt hatten eine Person aus Berlin und eine Person aus Stuttgart, die wegen unterschiedlichen Pflichtverletzungen der jeweils vermietenden Vertragspartei ihre Mietwohnungen verließen und mit Hilfe einer Maklerin oder eines Maklers eigene Wohnimmobilien erwarben.  

BGH – PayPal-Gebühren: Wie LTO und tagesschau.de (Claudia Kornmeier) schreiben, hat der Bundesgerichtshof darüber verhandelt, ob Unternehmen von Kunden und Kundinnen beim Einkaufen oder Buchen im Internet wegen der gewählten Zahlungsart Gebühren verlangen können. Das Gericht wird voraussichtlich nächstes Jahr ein Urteil zu der Frage fällen. Der Senatsvorsitzende Thomas Koch erklärte, dass es darauf ankomme, ob die Gebühr für die reine Überweisung oder Lastschrift verlangt werde – das wäre verboten – oder für eine zusätzliche Dienstleistung.

BAG zu Nachtarbeit: Laut LTO hat das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass Angestellte, die schichtweise in der Nacht arbeiten, nicht weniger Zuschläge bekommen dürfen als ihre unregelmäßig nachts arbeitenden Kolleginnen und Kollegen. Insbesondere könnten Regelungen rechtswidrig sein, wonach sich ein Nachtzuschlag halbiert, wenn innerhalb eines Schichtsystems gearbeitet wird. Nachtarbeitnehmerinnen und Nachtschichtarbeitnehmer seien vielmehr vergleichbar, eine Ungleichbehandlung sei grundsätzlich nicht gerechtfertigt.

OVG Thü zu Maskenpflicht in Schulen: Das Thüringer Oberverwaltungsgericht hat Eilanträge mehrerer Schülerinnen und Schüler abgewiesen, die erreichen wollten, dass die in der Thüringer Corona-Landesverordnung geregelte Maskenpflicht in Schulen außer Vollzug gesetzt werde, wie LTO berichtet. Die angeordnete Maskenpflicht auf Gängen und Fluren der Thüringer Schulen sei "durchaus als verhältnismäßig" zu beurteilen.

OVG Berlin-BB zu Tesla-Fabrik: Laut FAZ (Corinna Budras) und taz hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg nun einen vorläufigen Rodungsstopp auf der Baustelle des US-amerikanischen Elektroautobauers Tesla in Grünheide bei Berlin verhängt, nachdem das Verwaltungsgericht Frankfurt/O. wenige Stunden zuvor noch grünes Licht für die Rodung gegeben hatte.

OLG Frankfurt/M. – Mord an Walter Lübcke: Wie FAZ (Marlene Grunert) und taz (Christoph Schmidt-Lunau) schreiben, hat der Sohn von Walter Lübcke ausgesagt, dem wegen Beihilfe angeklagten Markus H. zusammen mit dem Hauptangeklagten Stephan E. schon ein Jahr vor dem Mord an seinem Vater vor seinem Haus begegnet zu sein. Dies könnte die Aussage von E. stützen, dass H. auch in der Tatnacht anwesend war. H. wurde Anfang Oktober mangels dringenden Tatverdachts aus der Untersuchungshaft entlassen.

VG Köln zu Selbsttötung: Das Verwaltungsgericht Köln wies die Klagen mehrerer Schwerkranker ab, die vor Gericht eine Erwerbserlaubnis für Natriumpentobarbital zur schmerzlosen Selbsttötung erzwingen wollten, wie auf LTO zu lesen ist. Nachdem das Bundesverfassungsgericht das Verbot der Hilfe zur Selbsttötung in § 217 Strafgesetzbuch (StGB) beanstandet hat, könnten die Kranken ihren Sterbewunsch mit Hilfe von Suizidhilfe-Organisationen realisieren. Die Inanspruchnahme solcher Organisationen sei auch ohne gesetzliches Schutzkonzept für eine Übergangszeit zumutbar, weil der Gesetzgeber bereits an einem Schutzkonzept arbeite.

StA Memmingen – Reichsbürger in der Bundeswehr: Laut SZ (Florian Flade/Ronen Steinke) hat die Staatsanwaltschaft Memmingen Ermittlungen aufgenommen, nachdem sich ein Dienststellenleiter des Beschaffungsamts der Bundeswehr das Leben nahm, kurz nachdem er sowie sieben andere Mitarbeitende vom Militärischen Abschirmdienst wegen des Verdachts, eine Gruppe von "Reichsbürgern" gebildet zu haben, befragt worden waren. Die ermittelnden Beamtinnen und Beamten gingen möglicherweise unvorsichtig oder gar leichtsinnig gegen die mutmaßlichen "Reichsbürger" in den eigenen Reihen vor und hätten vielleicht sogar dabei zugesehen, wie sich der hauptverdächtige Dienststellenleiter das Leben nahm.

Recht in der Welt

USA – Facebook: Laut FAZ (Winand von Petersdorff), taz und Hbl (Larissa Holzki/Till Hoppe) wurde Facebook von Staatsanwälten aus 48 Bundesstaaten sowie dem Kartellgremium Federal Trade Commission wegen wettbewerbswidrigen Verhaltens verklagt. Entscheiden muss das Bezirksgericht Distict of Columbia. Es könnte Facebook unter anderem dazu zwingen, Whatsapp und Instagram wieder zu verkaufen.

Alexander Armbruster (FAZ) hält die Auswirkungen des anstehenden Verfahrens auch für Europa für bedeutsam, da die EU-Kommission in der kommenden Woche elementare neue Regulierungsrahmen für die Digitalwirtschaft vorstellen möchte. Adrian Kreye (SZ) geht davon aus, dass vom Ausgang der Klage in den USA die Rolle Facebooks im Rest der Welt abhänge. Das Machtmonopol US-amerikanischer Konzerne könne nur die USA selbst brechen.

USA – Legalisierung von Drogen: Die SZ (Alan Cassidy) berichtet über die Welle der Legalisierung von Cannabis sowie harter Drogen in verschiedenen US-Bundestaaten und das sich so vollziehende stille Ende des vor bald 50 Jahren ausgerufenen "war on drugs".

Juristische Ausbildung

Reform der juristischen Ausbildung: Am heutigen Freitag findet eine Sachverständigenanhörung im Bundestag statt, bei der es um Reformen im Jurastudium und Rechtsreferendariat gehen wird. Die Fraktionen der FDP und der Linken haben dazu Vorschläge erarbeitet, die sich mit Themen wie Digitalisierung, Legal Tech, aber auch Examensmodalitäten wie E-Examen, Abschichten und Hilfsmitteln in Klausuren beschäftigen. Das Bundesjustizministerium hat bereits einen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, wonach es den Ländern ermöglicht wird, das Examen am Laptop und ein Referendariat in Teilzeit einzuführen. Auf LTO Karriere (Markus Sehl) sind die Einschätzungen verschiedener Rechtsprofessorinnen und Rechtsprofessoren sowie des Deutschen Anwaltsvereins zu lesen.

Sonstiges

Alltag einer Anwältin: LTO Karriere (Anja Hall) interviewt eine Anwältin aus Süddeutschland zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Sie plädiert unter anderem dafür, dass auch Väter bei der Kinderbetreuung ihren Anteil leisten sollten und erklärt, wie sie reagiert, wenn ein Mandant sich wundert, dass "der Anwalt" eine Frau ist.

Israel-Boykott: Ronen Steinke (SZ) kommentiert die aktuelle Debatte um Meinungsfreiheit im Zusammenhang mit der "Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen" (BDS)-Kampagne gegen Israel. Er kritisiert, dass manche Vertreter der BDS-Kampagne sich zu Opfern eines angeblichen staatlichen Maulkorbs stilisierten, was er als "kontrafaktisch" bezeichnet.

Lobbyismus: Jost Müller-Neuhof (Tsp) liegen Dutzende Briefe an das Bundeswirtschaftsministerium vor, in welchen Politikerinnen und Politiker für Firmeninteressen eintreten. Die Dokumente seien jedoch geschwärzt, die zuständigen Behörden machten dicht und Abgeordnete hielten ihre Unterstützung für Betriebsgeheimnisse der Firmen. Der Autor weist darauf hin, dass es nicht verboten sei, dass aus Volksvertretern Firmenvertreter werden, dies müsse aber "in allen Zusammenhängen diskutiert werden können".


Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des Mediums.

Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/ls

(Hinweis für Journalisten) 

Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.  

Sie können die tägliche lto-Presseschau im Volltext auch kostenlos als Newsletter abonnieren.

 

Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 11. Dezember 2020: BVerfG schließt Korrespondent aus / Durchbruch für EU-Rechtsstaatsmechanismus / Mail-Adresse ist kein Teil der Anschrift . In: Legal Tribune Online, 11.12.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43710/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

Infos zum Zitiervorschlag
Jetzt Pushnachrichten aktivieren

Pushverwaltung

Sie haben die Pushnachrichten abonniert.
Durch zusätzliche Filter können Sie Ihr Pushabo einschränken.

Filter öffnen
Rubriken
oder
Rechtsgebiete
Abbestellen