Die juristische Presseschau vom 11. April 2012: Freigang für Mörder – Teilzeitanwälte immer beliebter – Breivik zurechnungsfähig

11.04.2012

Zwischen den Bundesländern gibt es Meinungsverschiedenheiten über Notwendigkeit und Zielsetzung einer Reform des Strafvollzugs. Anders Breivik, der in Norwegen mehr als 70 Menschen tötete, ist schuldfähig. Dazu in der Presseschau Kündigungsschutz, Wirtschaftsstrafrecht, Auslieferung an die USA und warum jemand, der Uhus schützen will, noch lange keine Meise hat.

Länder streiten über Strafvollzugsreform: Es gibt Meinungsverschiedenheiten über Notwendigkeit und Zielsetzung einer Reform des Strafvollzugs. Wie die SZ (Tanjev Schulz) berichtet, hätten zehn Bundesländer, darunter Brandenburg, einen gemeinsamen Musterentwurf für ein Strafvollzugsgesetz vorgelegt, der vorsehe, auch verurteilten Mördern bereits nach fünf Jahren Strafverbüßung Hafturlaub (Langzeitausgang) zu gewähren, sofern von ihnen keine Gefahr für die Allgemeinheit ausgehe. Der Justizminister in Mecklenburg-Vorpommern halte das Vorhaben für "nicht sachgerecht", auch Berlin habe bereits angekündigt, bei der alten bundesgesetzlichen Regelung zu bleiben, die bei Mord derartige Hafterleichterungen erst ab zehn Jahren vorsehe.

Heribert Prantl (SZ) setzt sich mit den psychischen Folgen jahrzehntelanger Haft auseinander und verweist auf europäische Länder wie Spanien und Kroatien, in denen die lebenslange Freiheitsstrafe bereits abgeschafft sei. Reinhard Müller (FAZ) hebt das Vollzugsziel Resozialisierung hervor, das in den populistischen Debatten häufig unterschlagen werde. Hugo Müller-Vogg (bild.de) meint: "Wem das Wohl von Mördern wichtiger ist als die Sicherheit unbescholtener Bürger, der macht sich mitschuldig an den Verbrechen urlaubender Krimineller." 

Weitere Themen – Rechtspolitik

Gesetzlichen Kündigungsschutz erneuern: Rechtsanwalt Jost-Hubertus Bauer (FAZ) fordert in einem Gastbeitrag eine Überarbeitung der gesetzlichen Regelungen für den Kündigungsschutz. Da der Bestandsschutz zur Ausnahme, die Abfindung zur Regel geworden sei, und niemand die Risiken eines Prozesses abschätzen könne, wäre es sinnvoller, auch bei einer unwirksamen Kündigung das Arbeitsverhältnis zu beenden, wenn sich der Arbeitgeber zur Zahlung einer für diesen Fall gesetzlich festgelegten Abfindung verpflichtet habe.

Strafgesetze für Wirtschaft: Der an der Universität Köln Strafrecht lehrende Martin Paul Waßmer (FAZ) setzt sich mit der Empfehlung der Justizministerkonferenz vom Herbst vergangenen Jahres auseinander, "die vorsätzliche Verletzung kaufmännischer Sorgfaltpflichten unter Strafe zu stellen." Anlass sei auch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Untreuetatbestand (§ 266 StGB), dessen Verwirklichung einen berechenbaren Schaden voraussetze. Die Schließung einer Regelungslücke sei sinnvoll, eine generelle Ausdehnung von Gefährdungsdelikten auf den wirtschaftlichen Bereich jedoch untunlich.

Kommerzielle Sterbehilfe verbieten: Der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, fordert ein striktes Verbot der organisierten Sterbehilfe, wie sie beispielsweise von dem früheren Hamburger Justizsenator Kusch und seinem Organisation "Sterbehilfe Deutschland" praktiziert wird. Wie die FR (Jörg-Schindler, Timo Szent-Ivanyi) berichtet, habe die Zahl der Fälle von Sterbehilfe im Jahr 2011 gegenüber 2010 zugenommen. Laut Montgomery werden vor allem psychisch labile und kaum todkranke Menschen getötet, die medizinischen Kriterien für eine Hilfe zum Suizid grenzten an Willkür.

Piraten für neues Urheberrecht: spiegel.de (Ole Reißmann) stellt eine Initiative von 102 Mitgliedern der Piratenpartei vor, die in kurzen, individuellen Stellungnahmen für ein neues Urheberrecht plädierten. Damit reagiere die Partei auf eine Initiative von 101 Angehörigen der Kreativwirtschaft, die sich unter dem Titel "Mein Kopf gehört mir" gegen kostenlose künstlerische Angebote im Internet gewendet hatten.

Weitere Themen – Justiz

Leiharbeiter in Großkanzleien: Die FAZ (Caroline Freisfeld) untersucht die zunehmende Beliebtheit von Zeitarbeitsanwälten oder Projektanwälten in Großkanzleien und meint, die flexibleren Modelle könnten die strenge Unterscheidung in Top-Jurist in der law firm und allein vor sich hinkämpfenden Einzelanwalt überwinden helfen und als berufliches Sprungbrett dienen.

Haftungsrisiko Facebook: Rechtsanwalt Thomas Stadler (internet-law.de) berichtet über den wohl ersten Fall, bei dem der Betreiber einer Facebook-Seite abgemahnt worden ist, weil ein anderes Facebook-Mitglied ein Foto auf der Seite eingestellt habe, das das Urheberrecht eines Fotografen verletzt haben soll. Stadler plädiert dafür, auf eine Störerhaftung des Facebook-Mitglieds völlig zu verzichten, da fremde Postings nur durch eine generelle Sperre zu verhindern seien und dadurch das Prinzip des sozialen Netzwerks zerstört werde.

OLG Frankfurt/M. zum Schuldverschreibungsgesetz: Mit einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt/M. zu § 24 Schuldverschreibungsgesetz (SchVG) und der darin geregelten Möglichkeit nachträglicher "Collective Action Clauses" durch Mehrheitsbeschluss der Anleihegläubiger beschäftigt sich Rechtsanwalt Sacha Lürken (blog.handelsblatt.com). Im Falle eines niederländischen Emittenten habe das Gericht festgestellt, dass das SchVG nur Anwendung findet, wenn alle Anleihebedingungen deutschem Recht unterliegen.

EU-Kommission verklagt Deutschland: Die FTD (Mareeke Butter) berichtet über die Klage der EU-Kommission gegen Deutschland. Die Voraussetzung des doppelten Inlandsbezugs für den Status der Organschaft im deutschen Körperschaftssteuergesetz diskriminierten ausländische Unternehmen. Im Falle einer Organschaft zahlten Mutter- und Tochtergesellschaft nur einmal Körperschaftssteuer, habe die Tochter ihren Sitz im Ausland, falle die Steuer zweimal an. Diese Regelung solle Deutschland aufgeben.

Freispruch kostet 13.000 Euro: Eine nach einem Wiederaufnahmeverfahren vom Vorwurf des Mordes freigesprochene Frau muss Gutacherkosten in Höhe von 13.000 Euro selbst bezahlen. Wie die SZ (Heribert Prantl) berichtet, habe das Kammergericht in Berlin bei seinem Urteil vom 20. Februar 2012 festgestellt, dass die von der Frau aus der Haft heraus beauftragten Brandgutachter, die die schlampige Arbeit des Landeskriminalamts im ersten Verfahren nachgewiesen hätten, ungewöhnlich teuer gewesen seien. Ein Teil der Kosten sei daher für den Freispruch "nicht erforderlich" gewesen und müsse von der Frau, die 888 Tage unschuldig in Haft gesessen habe, selbst getragen werden.

Mordfall Lena und die Medien: Mit dem schwierigen Verhältnis von Medien und Ermittlern setzen sich die beiden Rechtsanwälte Sven Dierkes und Carsten Brennecke (lto.de) anhand des Mordfalls Lena in Emden auseinander. Um dem immensen Erwartungsdruck der Öffentlichkeit zu entgehen, komme es immer wieder vor, dass Ermittler vorschnelle ungesicherte Informationen an Pressevertreter weitergeben. Das Risiko einer Vorverurteilung erhöhe sich dadurch immens, die Folgen für zu Unrecht Verdächtigte seien oft irreversibel.

Weitere Themen – Recht in der Welt

Breivik ist zurechnungsfähig: Anders Breivik, der in Norwegen im Juli 2011 mehr als 70 Menschen tötete, ist zurechnungsfähig. Die FTD (Niklas Wirminghaus, ähnlich online) stellt das Gutachten der beiden Psychiater Terje Törrissen und Agnar Aspaas vor, wonach Breivik zum Zeitpunkt der Tat nicht an einer Psychose gelitten habe. Breiviks Verteidigung begrüße das neue Gutachten.

Die FAZ (Sebastian Balzter) bietet einen Vorbericht auf den am 16. April beginnenden Prozess, in dem sie auch auf das justizpolitische Klima Norwegens und die Bemühungen des Gerichts um größtmögliche Transparenz eingeht.

Reinhard Wolff (taz) sieht den norwegischen Rechtsstaat auf die Probe gestellt, da kurz vor Prozeßbeginn noch ein Gesetz verabschiedet werden soll, um nach der Höchststrafe von 21 Jahren für Mord eine bisher nicht vorgesehene Sicherungsverwahrung anschließen zu können. Hannes Gamillscheg (FR) meint, die Zurechnungsfähigkeit Breiviks sei ein Erfolg für die Opfer. Vor Gericht stehe das norwegische Gutachterwesen auf dem Prüfstand.

EGMR gestattet Auslieferung an USA: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gestattet die Auslieferung von fünf in England in Untersuchungshaft befindlichen mutmaßlichen islamischen Terroristen. Wie FAZ (Johannes Leithäuser) berichtet, fanden die Verdächtigen mit ihrem Argument, die Haftbedingungen im Hochsicherheitsgefängnis im Bundesstaat Colorado verstießen gegen die Menschenrechte, kein Gehör. spiegel.de (Carsten Volkery) bezeichnet den Verdächtigen Ali Hamza als "Hassprediger" und verweist auf die schriftliche Zusage der USA, dass keinem der Verdächtigen die Todesstrafe droht.

Sonstiges

Deutungshoheit über Karl Larenz: Jürgen Kaube (FAZ) setzt sich im Feuilleton mit dem Streit zwischen den Hochschullehrern Bernd Rüthers und Claus-Wilhelm Canaris über die Rolle des Zivilrechtsprofessors Karl Larenz in der NS-Zeit auseinander. Canaris hatte in einer Würdigung seines Lehrers Larenz eine verengte Sichtweise auf Canaris und seine Arbeit zur Rechtsstellung von Juden moniert, Rüthers ihm daher "Umdeutung der Geschichte" vorgeworfen. Kaube hält Canaris’ Vorgehensweise für apologetisch und bringt Beispiele für Larenzens tätige Mithilfe bei dem Vorhaben, Juden rechtlos zu stellen. 

Das Letzte zum Schluss

Uhuschutz ohne Radarfalle: Nicht nur die Kanzlei Blaufelder aus Ludwigsburg hat Interesse an einem Urteil des Verwaltungsgerichts Aachen vom 27.März 2012 gefunden. Demnach war es rechtswidrig, zum Schutz von Uhus im Bereich Heimbach-Blens nahe Euskirchen eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 50 km/h zu verhängen und diese durch eine Geschwindigkeitsmessanlage prüfen zu lassen. Eine derartige Maßnahme sei nicht generell unzulässig, der Kreis habe in diesem Fall jedoch eine Abwägung aller Interessen unterlassen, weil er sich aufgrund einer Zusage an die Naturschutzverbände gebunden gefühlt habe.

Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

(Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen epaper des jeweiligen Titels.)

lto/ro

(Hinweis für Journalisten)

Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.

Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 11. April 2012: Freigang für Mörder – Teilzeitanwälte immer beliebter – Breivik zurechnungsfähig . In: Legal Tribune Online, 11.04.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5973/ (abgerufen am: 04.05.2024 )

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