Die juristische Presseschau vom 19. Dezember 2023: Cum-Ex-Geständnis von Ulf Johan­ne­mann / Asyl für Kopf­tuch­ver­wei­ge­rung / DSA-Ver­fahren gegen X

19.12.2023

Ex-Freshfields-Partner Johannemann gestand Beihilfe zu Cum-Ex-Manipulationen. Eine Kopftuchverweigerung im Iran kann ein Asylgrund sein. Die EU-Kommission eröffnete ein DSA-Verfahren gegen X/Twitter.

Thema des Tages

LG Frankfurt/M. – Cum-Ex/Ulf Johannemann: Nach dreimonatigem Schweigen hat der ehemalige Freshfields-Partner Ulf Johannemann vor dem Landgericht Frankfurt/M. ein Geständnis wegen Beihilfe zu schwerer Steuerhinterziehung im Zusammenhang mit Cum-Ex-Manipulationen abgelegt, die durch die bereits verurteilte ehemalige Führungsriege der Maple Bank begangen wurde. Er sagte, sein grundsätzlicher Ansatz, für Kunden alles möglich machen zu wollen, sei zu weit gegangen: "Ich habe als Anwalt völlig versagt". Vor zwei Wochen hatte das Gericht mitgeteilt, dass eine hohe Verurteilungswahrscheinlichkeit bestehe. Ein Urteil ist in wenigen Wochen zu erwarten; eine Verhandlung gegen einen weiteren früheren Freshfields-Partner steht noch aus. FAZ (Marcus Jung) und Hbl (Volker Votsmeier) berichten.

Rechtspolitik

Antisemitismus: Auf dem Verfassungsblog veröffentlichen vierzehn Jurist:innen (u.a. die Rechtsprofessor:innen  Kai Ambos, Nora Markard und Ralf Michaels) ihre kritische Stellungnahme zur IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus (International Holocaust Remembrance Alliance), die im Rahmen der Nationalen Strategie der Bundesregierung gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben (NASAS) und in einem  Entschließungsantrag der Ampelkoalition als Regulierungsinstrument vorgesehen ist. Die IHRA-Arbeitsdefinition sei jedoch viel zu unpräzise, ihre Verwendung zur Regulierung würde Verstöße gegen das Grundgesetz und die Europäische Menschenrechtskonvention nach sich ziehen oder zumindest wahrscheinlich machen.

Bundestagspolizei: Der Rechtsprofessor Philipp Austermann untersucht auf dem Verfassungsblog die gesetzlichen Grundlagen der Bundestagspolizei und kommt zu dem Ergebnis, dass es keine gibt und dass der Bundestag ein solches (derzeit geplantes) Gesetz auch überhaupt nicht erlassen darf, weil Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG die Polizeigewalt allein der Bundestagspräsidentin zuweise.

EU-Verträge: Der Assistenzprofessor Niels Kirst stellt auf LTO die Vorschläge des EU-Parlaments zur Änderung der EU-Verträge vor, die es bereits in einer 104-seitigen Entschließung angenommen hat. Das EU-Parlament wolle "gerne als Parlament agieren" und fordere dafür fehlende Rechte mit dem Ziel eines Zweikammersystems und einer EU-Exekutive ein. Konkret gehe es um eine Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip, um Vorschlagsrechte der Kommissionspräsident:in, um eine Vereinfachung der Klagebefugnis vor dem EuGH, um Initiativrechte für Gesetzesvorhaben und um eine Kompetenzstärkung in den Bereichen Gesundheit, Hochschulbildung und Forschung, Umwelt, Energie und Verteidigung. Sofern der Europäische Rat darüber abstimmen sollte, sei zumindest die Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip vor einer möglichen Erweiterung der EU denkbar.

Justiz

OVG-SH zu Asyl wegen Kopftuchverweigerung: In zwei Urteilen hat das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht entschieden, dass für Frauen aus dem Iran eine Verweigerung des Kopftuchs grundsätzlich ein Asylgrund sein kann. Ein Anspruch auf Asyl bestehe aber nur dann, wenn sich westliche Werte und der Lebensstil zu einem "identitätsprägenden Bekenntnis" verfestigt hätten. Daher hatte eine Klägerin Erfolg, die andere nicht. Der erfolgreichen Klägerin hat das Gericht ein identitätsprägendes Bekenntnis attestiert und es für sie als nicht zumutbar befunden, sich "diesen Werten widersprechenden Vorschriften des iranischen Staats zu unterwerfen." Im Iran habe sie sich aktiv für Frauenrechte eingesetzt und sich in Deutschland "hervorgehoben exilpolitisch betätigt". Es berichten taz, beck-aktuell und spiegel.de.

BVerfG – Bundestagswahl in Berlin: Nun bringen auch FAZ (Marlene Grunert), taz (Stefan Alberti) und spiegel.de (Timo Lehmann) Vorberichte zu der an diesem Dienstag anstehenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über den Umfang der Wiederholung der Bundestagswahl in Berlin. Die Unionsfraktion im Bundestag hatte eine Wahlprüfungsbeschwerde eingereicht, um sich gegen den Beschluss des Bundestags zu wehren, die Wahl in nur knapp 20 Prozent aller Berliner Wahlbezirke (mit Erst- und Zweitstimme) zu wiederholen, obwohl der Bundeswahlleiter eine Wiederholung in sechs der zwölf Bundestagswahlkreise empfohlen hatte. Die Union ist der Auffassung, dass die Wahl entsprechend der Einschätzung des Bundeswahlleiters in sechs Wahlkreisen für ungültig hätte erklärt werden müssen, in diesen Wahlkreisen allerdings nur mit Blick auf die Zweitstimmen (bis auf Reinickendorf und Pankow, dort auch Erststimmen).

BVerfG – Nachrichtendienste und Polizei: Stephan Klenner (FAZ) kritisiert in einem Kommentar die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Weitergabe von Informationen durch die Nachrichtendienste an die Polizei, die nur erfolgen dürfe, wenn sich eine Gefahr so stark verdichtet hat, dass die Polizei selbst zur Datenerhebung befugt gewesen wäre. Mit einer so strikten Trennung bestehe die Gefahr, dass der Staat zwar insgesamt alle Informationen besitzt, um einen Anschlagsplan aufzuspüren, aber die Erkenntnis wegen fehlender Zusammenführung der Daten ausbleibt. Das BVerfG sei "gut beraten", flexibler zu werden und für einzelne Bereiche Ausnahmen zuzulassen.

BVerfG – IfSG-Triage: Fast genau ein Jahr nach In-Krafttreten der Triage-Regelung in § 5c Infektionsschutzgesetz haben vierzehn Ärzt:innen mit Unterstützung des Marburger Bunds Verfassungsbeschwerde beim BVerfG eingelegt. Sie kritisieren, die Regelung sei in sich widersprüchlich und unpraktikabel. Außerdem monieren sie das Verbot der Ex-Post-Triage. Die Kläger:innen berufen sich auf ihre Grundrechte der Gewissens- und Berufsfreiheit. beck-aktuell (Maximilian Amos) berichtet.

OVG NRW zu Bahar Aslan: Der Widerruf des Lehrauftrages der Dozentin Bahar Aslan an der Polizei-Hochschule NRW (HSPV) durch das Land war rechtswidrig, bestätigte das nordrhein-westfälische Oberverwaltungsgericht im Eilverfahren und wies damit eine Beschwerde des Landes gegen einen Beschluss des VG Gelsenkirchen zurück. Das Land habe nach einem polizeikritischen Twitter-Post zwar auf Mängel ihrer Eignung für die Wahrnehmung des Lehrauftrags schließen können, aber bei dem Widerruf des Lehrauftrags gemäß § 49 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG NRW) habe das Land sich in "fehlerhafter Weise auf weitere - sachfremde - Umstände gestützt". Grundrechte prüfte das Gericht nicht. Aslan, die im Verfahren von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) unterstützt wurde, hatte in dem Tweet von ihrer Angst vor dem "braunen Dreck innerhalb der Sicherheitsbehörden" geschrieben. Es berichten SZ, taz, beck-aktuell und LTO.

OLG Braunschweig zu Trunkenheit und E-Scooter: Wer im Zustand der absoluten Fahruntüchtigkeit mit einem E-Scooter fährt, verliert nach der Regelvermutung des § 316 Strafgesetzbuch (Trunkenheit im Verkehr) "regelmäßig" seine Fahrerlaubnis, urteilte das Oberlandesgericht Braunschweig. Das Amtsgericht hatte in der Vorinstanz noch eine Ausnahme von der Regelvermutung angenommen und entschieden, dass ein E-Scooterfahrer, der bei einer Kontrolle mit 1,83 Promille aufgefallen war, seine Fahrerlaubnis behalten dürfe, weil er "nur" einen E-Scooter gefahren sei. Es berichten beck-aktuell und LTO.

LG Aachen zu Mord an getrennter Ehefrau: Das Landgericht Aachen hat einen 37-jährigen Mann wegen Mordes an seiner Ehefrau zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt und die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Die 28-jährige Frau hatte den aus dem Kosovo stammenden Mann mit ihren drei gemeinsamen Kindern verlassen, woraufhin der eifersüchtige Mann auf einem Baumarktparkplatz zwanzig Mal mit einem Fleischermesser auf die Frau einstach, wovon sechs Stiche tödlich waren. Danach fuhr er langsam an ihr vorbei und filmte die Sterbende mit dem Handy. Das Gericht sah die Mordmerkmale der Heimtücke und niedrigen Beweggründe erfüllt. Es berichtet spiegel.de.

LG Düsseldorf zu Steuerbetrug bei Tabak: Wegen groß angelegter Steuerhinterziehung beim Handel mit selbst hergestelltem Wasserpfeifentabak mit einem Volumen von 60 Tonnen hat das Landgericht Düsseldorf vier Männer im Alter zwischen 38 und 50 Jahren zu Freiheitsstrafen zwischen drei Jahren plus fünf Monate und viereinhalb Jahren verurteilt. Der Steuerschaden belief sich auf circa 1,38 Millionen Euro. spiegel.de berichtet.

Recht in der Welt

Chile – Verfassung: In Chile ist bei einer Volksabstimmung binnen 15 Monaten der zweite Entwurf für eine neue Verfassung gescheitert. Während der erste Entwurf von der linken Regierung stammte, wurde der aktuelle Entwurf von konservativen Kräften vorgelegt und stellte das Recht auf Privateigentum und strenge Regeln für Einwanderung und Abtreibung in den Mittelpunkt. Nun gilt die Verfassung aus der Zeit von Diktator Augusto Pinochet aus dem Jahr 1980 weiter. Es berichten FAZ (Tim Niendorf), taz (Sophia Boddenberg) und spiegel.de.

Hongkong – Jimmy Lai: In Hongkong hat der Prozess gegen den Verleger und Demokratieaktivisten Jimmy Lai wegen vermeintlicher Verstöße gegen das umstrittene Sicherheitsgesetz der chinesischen Sonderverwaltungsregion begonnen. Lai wurde bereits zu zwei Haftstrafen verurteilt und sitzt seit drei Jahren im Gefängnis. Sollte der er wie erwartet auch in dem nun beginnenden Prozess schuldig gesprochen werden, droht ihm eine lebenslange Haftstrafe. Es berichten FAZ (Jochen Stahnke), taz (Fabian Kretschmer), zeit.de und spiegel.de.

Russland – Alexej Nawalny: Der seit fast zwei Wochen verschwundene inhaftierte Kremlgegner Alexej Nawalny ist am Montag erneut nicht zu einer Gerichtsverhandlung erschienen, woraufhin der Richter das Verfahren bis zur Klärung seines Aufenthaltsortes aussetzte. Die Opposition kritisiert, dass sich das Gericht seiner Pflicht zur Rechtsprechung entledigt habe, anstatt sein Erscheinen sicherzustellen. Es berichten SZ, spiegel.de, zeit.de und LTO.

USA – Rudy Giuliani: Bereits am Freitag hat eine Geschworenenjury in Washington den früheren New Yorker Bürgermeister und Trump-Verbündeten Rudy Giuliani wegen der Verleumdung von zwei ehemaligen Wahlhelferinnen zu einer Schadensersatzzahlung von 148 Millionen US-Dollar (137 Millionen Euro) verurteilt. Giuliani hatte fälschlicherweise behauptet, dass Wahlhelfer:innen Wahlzettel für Trump weggeworfen- und stattdessen gefälschte Zettel für den Demokraten Joe Biden gezählt hätten. Daraufhin war ein Video von den beiden schwarzen Klägerinnen in Umlauf gebracht worden, das zu Todesdrohungen führte. beck-aktuell berichtet.

USA – Schauspieler Jonathan Majors: Der US-Schauspieler Jonathan Majors ("Creed III – Rocky’s Legacy") ist in einem Prozess in New York wegen Körperverletzung und häuslicher Gewalt gegen seine damaligen Freundin Grace Jabbari teilweise schuldig gesprochen worden. Das Strafmaß soll im Februar verkündet werden, ihm drohe bis zu einem Jahr Haft. spiegel.de berichtet.

Ungarn – Souveränitätsgesetz: Die taz (Florian Bayer) berichtet über das in der vergangenen Woche in Ungarn beschlossene Gesetz "zum Schutz der nationalen Souveränität". Es diene wohl auch dazu, kritische Journalist:innen und NGOs zu bekämpfen.

Sonstiges

DSA/X: Die EU-Kommission hat gegen den Kurznachrichtendienst X/Twitter ein Verfahren nach dem Digital Services Act (DSA) eröffnet, wobei unter anderem geprüft wird, ob X hinreichend gegen Falschinformationen und Hassrede vorgeht bzw. gegen Regeln zum Risikomanagement und zur Moderation von Inhalten, zur Werbetransparenz und zum Datenzugriff für Forscher verstößt. Es ist das erste Verfahren dieser Art nach dem DSA, an dessen Ende eine hohe Geldstrafe stehen könnte. Es berichten FAZ (Hendrik Kafsack), taz, Hbl (Carsten Volkery), Welt (Benedikt Fuest), spiegel.de und LTO.

Max Muth (SZ) kommentiert, dass Elon Musk mit dem Verfahren bekomme, was er verdiene. Habe er doch aus Twitter einen "defizitären Höllenschlund aus Verschwörungstheorien und dubiosen Bitcoin-Influencern" gemacht.

Betriebsratsvergütung: Rechtsanwalt Philipp Wiesenecker skizziert im Expertenforum Arbeitsrecht die aktuellen Entwicklungen zur Betriebsratsvergütung rund um den Konflikt zwischen BGH und BAG, wobei der Gesetzgeber die BAG-Rechtsprechung gestärkt und ergänzt habe. Er nennt eine ganze Reihe ungelöster Herausforderungen, wie etwa die Frage, ob Unternehmen proaktiv die Vergütung freigestellter Betriebsräte neu regeln müssen.

Formerfordernisse im Arbeitsrecht: Die Anwält:innen Tobias Brors und Franziska Berger geben auf LTO-Karriere einen Überblick über den Stand der Digitalisierung im Arbeitsrecht mit Blick auf die verschiedenen Formvorschriften und konstatieren eine Komplexität, die das Haupthindernis für umfassende digitale Dokumentenlösungen in der Unternehmenspraxis sei. Hilfreich seien unternehmensinterne Richtlinienkonzepte zu Formvorschriften.


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LTO/tr/chr

(Hinweis für Journalist:innen

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 19. Dezember 2023: Cum-Ex-Geständnis von Ulf Johannemann / Asyl für Kopftuchverweigerung / DSA-Verfahren gegen X . In: Legal Tribune Online, 19.12.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53449/ (abgerufen am: 29.04.2024 )

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