Volksentscheide: Von der Staatsgewalt, die vom Volke ausgeht

Die Volksentscheide in Bayern und Hamburg bringen das Thema der direkten Demokratie wieder auf die Titelseiten. Das Volk erweist sich bisweilen als Politikerschreck, wenn es das Wort ergreift. Wie steht es mit der direkten Volksgesetzgebung und wie verhält sie sich zu den eingebürgerten Formen der repräsentativen Demokratie?

 

Formen direkter Demokratie sind seit Jahren, teilweise seit Jahrzehnten flächendeckend in den Ländern und Kommunen eingeführt. Das Verfahren der Volksgesetzgebung ist dabei auf Landesebene meist dreistufig gestaltet:

1.    Volksinitiative: Zunächst wird ein Gesetzesentwurf formuliert. Dieser Vorschlag muss von einem bestimmten, nicht allzu hohen Quorum an Wahlberechtigten oder Einwohnern des Landes durch Unterschriftsleistung unterstützt werden. Das Landesparlament befasst sich dann mit dem Gegenstand der Volksinitiative.

2.    Volksbegehren: Stimmt das Landesparlament der Volksinitiative nicht zu, kommt es erneut zu einer Unterschriftensammlung. Das Quorum ist dabei deutlich höher als bei der Volksinitiative, auch sind teilweise eng bemessene Fristen einzuhalten. Überwindet das Vorhaben auch diese Hürde, wird erneut der Landtag befasst. In Ländern ohne Volksinitiative stellt das Volksbegehren die erste Stufe des Verfahrens dar, so etwa in Bayern.

3.    Volksentscheid: Lehnt das Parlament das Volksbegehren ab, kommt es zum Volksentscheid. Meist ist außer der Mehrheit der Abstimmenden auch eine Zustimmung durch ein bestimmtes Quorum der Wahlberechtigten erforderlich.

Was in Bayern geht, klappt im Saarland noch lange nicht

Im einzelnen weisen die Verfahren der 16 Bundesländer große Unterschiede auf, insbesondere bei den Quoren und den Fristen.

Diese unterschiedlichen Gestaltungen führen zu sehr unterschiedlichen Erfolgsaussichten: So liegt das Quorum für einen Volksentscheid etwa im Saarland bei 50% Zustimmung der Wahlberechtigten, ein Quorum, das kaum eine Regierungskoalition auf Bundes- oder Landesebene bei Parlamentswahlen erreicht hat. Volksabstimmungen spielen dementsprechend im Saarland keine Rolle. In anderen Ländern, so etwa in Bayern, entfällt dagegen ein solches Quorum gänzlich.

Wesentlich beschränkt wird die Reichweite der Volksgesetzgebung auch durch den Ausschluss wichtiger Materien: Durchgängig sind die Landeshaushalte als Gegenstände von Volksabstimmungen ausgenommen, meist auch die Abgaben- und Besoldungsregelungen sowie teilweise Änderungen der Verfassung.

Direkte Demokratie im Bund: Nur nach einer Verfassungsänderung

Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes bestimmt, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, welches sie – außer durch Wahlen – auch durch Abstimmungen ausübt. Damit sind Verfahren zur Sachentscheidung gemeint, wie sie allerorten auf Länderebene bestehen.

Allerdings enthält das Grundgesetz kein Verfahren zu Volksabstimmungen auf Bundesebene. Das Verfahren zur Neugliederung des Bundesgebietes nach Art. 29 GG kennt zwar Volksabstimmungen.

Diese beziehen sich aber nur auf die Bürger der betroffenen Länder, nicht auf das Bundesvolk. Es bedürfte also einer entsprechenden Verfassungsänderung, um von der durch Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG eingeräumten Möglichkeit zu Volksabstimmungen auf Bundesebene Gebrauch zu machen.

Volksabstimmungen: Befürchtungen und Chancen

Bei der Schaffung des Grundgesetzes herrschte auf Bundesebene Skepsis gegenüber Verfahren direkter Demokratie. Auch als nach der deutschen Wiedervereinigung eine Kommission zur Reform des Grundgesetzes eingesetzt wurde, konnten sich die Befürworter der Volksabstimmung nicht durchsetzen.

Damals wie heute werden als Grund vorgeblich schlechte Erfahrungen aus der Weimarer Republik, die "Lehren aus Weimar" angeführt. Deren Quintessenz lautet, die damals auch auf Reichsebene zulässigen Volksabstimmungen hätten zum Aufstieg radikaler Kräfte, insbesondere der NSDAP beigetragen. Dies muss nach neueren Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft jedoch bezweifelt werden.

Allerdings bieten Verfahren der Volksgesetzgebung gerade auch Interessen eine Plattform, die im repräsentativ-parlamentarischen System nicht auf eine Vertretung durch eine Fraktion hoffen können. Dies zeigt sich deutlich am Hamburger Beispiel: Das Anliegen der Reformgegner fand in der gesamten Hamburger Bürgerschaft keinen Fürsprecher. Es wäre also in einem rein repräsentativen System gar nicht zum Gegenstand von Verfahren der politischen Entscheidungsfindung geworden.

In der Erweiterung des Themenspektrums politischer Entscheidungen liegt denn wohl der wichtigs-te Vorzug der Volksabstimmung: Der politische Diskurs wird angereichert, die Gefahr seiner Kartellisierung durch die etablierten Parteien gemindert. Die Möglichkeit eines Ausspielens der direktdemokratischen Karte durch radikale Kräfte, die im Parlament nicht vertreten oder isoliert und wirkungslos sind, besteht allerdings. Darin liegt wohl auch der wahre Kern der "Lehren aus Weimar".

Friktionen zwischen politischer Planung und Entscheidung durch das Volk

Ein zweites wichtiges Argument gegen Volksabstimmungen besteht in der Langfristigkeit politischer Planung: Viele Vorhaben, man denke etwa an die Schulpolitik, bedürfen erheblicher Zeiträume für ihre Umsetzung und sind auf sehr langfristige Wirkungen angelegt.

Eine Volksabstimmung greift dagegen punktuell ein und liegt so quer zu den Planungsvorgängen des politischen Apparats. Entweder werden dann diese Planungen zu Makulatur oder aber die Entscheidung des Volkes wird überspielt, wie dies etwa beim Volksentscheid zur Beibehaltung der alten Rechtschreibung in Schleswig-Holstein aus dem Jahr 1998 geschah.

Andererseits: Hätte es in den achtziger Jahren Volksabstimmungen auf Bundesebene gegeben, wäre wohl die damalige Atompolitik vom Volk abgelehnt worden. Dies hätte milliardenschwere Fehlinvestitionen wie den Schnellen Brüter in Kalkar verhindern beziehungsweise früher beenden können, der mittlerweile artfremd als wohl teuerster Vergnügungspark der Welt genutzt wird.

Anders gesagt: Verfahren direkter Demokratie können frühzeitig auf die fehlende Akzeptanz von Planungen hinweisen und so die Folgen ihres Scheiterns mindern.

Das Verhältnis von Volks- und Parlamentsgesetzgebung: Kooperation statt Konfrontation

Schon allein wegen des großen Aufwandes für die Initiatoren von Volksabstimmungen, aber auch wegen der meist verlangten Quoren wird die Volksgesetzgebung die Ausnahme bleiben. Durch den Ausschluss von Haushaltsfragen aus der Volksgesetzgebung darf, was vom Volk beschlossen wird, nichts (oder jedenfalls nicht viel) kosten. So bleibt das Volk tendenziell auf die Abwehr politischer Vorhaben beschränkt.

Auch hat ein erfolgreicher Volksentscheid zwar rechtliche Bindungswirkung. Das jeweilige Parlament ist aber nicht gehindert, im Extremfall in einem neuen Gesetzgebungsverfahren seinen politischen Willen gegenüber dem Volksgesetzgeber durchzusetzen.

Allerdings setzen die Verfahren der Volksgesetzgebung in den Ländern nicht auf Konfrontation, sondern auf Kooperation zwischen Volk und Parlament: Auf der Ebene der Volksinitiative, spätes-tens des Volksbegehrens wird das Parlament mit dem Anliegen der Bürger befasst und kann ihm ganz oder teilweise entsprechen. Wie eine Reihe von Beispielen zeigt, geschieht dies auch. Verfahren der Volksgesetzgebung geben dem Volk also zuerst und vor allem Initiativrechte.

Professioneller Umgang mit direkter Demokratie statt Risikoverlagerung auf das Volk

Ein anderer, weniger erfreulicher Effekt von Volksabstimmungen deutet sich vielleicht mit dem Verfahren zum Nichtraucherschutz in Bayern an: Der Ruf nach gleichgerichteten Volksabstimmungen in allen Bundesländern leitet eventuell eine Tendenz ein, riskante Entscheidungen von den Parlamenten weg auf das Volk zu verlagern und so politische Schäden zu vermeiden. Immerhin sind ähnliche Verlagerungstendenzen bereits für das Verhältnis von Bundestag und Bundesverfassungsgericht behauptet worden.

Die Wirkung von Verfahren hängt vor allem von dem Umgang mit ihnen ab. Insofern ist ein professioneller Umgang mit den Verfahren direkter Demokratie zu wünschen. Dazu gehört vor allem ihre sachliche und nüchterne Nutzung durch die etablierten politischen Parteien.

Sie sollten zu den jeweiligen Vorhaben klar positiv oder negativ Stellung beziehen und die Bürger von ihrer Ansicht zu überzeugen versuchen, um den politischen Prozess mit mehr Leben zu füllen und breiter zu verankern. Die CSU hat hier in der Nichtraucherschutzfrage ein schlechtes Beispiel gegeben und daran Schaden genommen. Volksabstimmungen müssen ernst genommen werden.

Der Autor Sebastian Roßner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsches und europäisches Parteienrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Zitiervorschlag

Sebastian Roßner, Volksentscheide: Von der Staatsgewalt, die vom Volke ausgeht . In: Legal Tribune Online, 20.07.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1015/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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