Lehrer erklärt Schülern etwas
Kritische Lehre im Jurastudium

Keine bloßen Para­gra­fen­au­to­maten aus­bilden

Gastbeitrag von Zora Machura2025 M07 14, Lesedauer: 6 Minuten

Bereits das Jurastudium sollte ein Verantwortungsbewusstsein für die Aufrechterhaltung des Rechtsstaats vermitteln. Dafür braucht es Lehrformate zur kritischen Reflexionsfähigkeit. Zora Machura macht drei Vorschläge.

Die Rolle der Jurist:innen während der Zeit des Nationalsozialismus hat eindrücklich gezeigt, welche Gefahren von einer unkritischen Anwendung des Rechts ausgehen können. Diese historische Erfahrung unterstreicht, dass juristische Praxis mehr sein muss als das bloße Befolgen von Normtexten: Sie erfordert ein Bewusstsein für die Werte, auf denen unser Rechtsstaat beruht. Weltweit gibt es Tendenzen, demokratische Strukturen zu unterminieren und rechtsstaatliche Garantien auszuhöhlen – etwa durch die formale Einhaltung von Verfahren bei gleichzeitiger Missachtung der Grund- und Menschenrechte. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie wir Jurist:innen ausbilden können, die ihrer besonderen Verantwortung für den Erhalt eines materiellen Rechtsstaats gerecht werden. Hierfür muss eine kritische Reflexionsfähigkeit bereits im Jurastudium verankert werden.

Wenn man sich an den Universitäten umschaut, ist das Ergebnis allerdings ernüchternd. "Leitbild der juristischen Ausbildung in Deutschland ist nach § 5 des Deutschen Richter(!)gesetzes die Befähigung zum Richteramt, also die Anwendung des geltenden – mit Ausnahme von Art. 100 GG – nicht zu problematisierenden Rechts. Diese Perspektive prägt", beschreiben etwa Jonathan Schramm und Cora Wegemund das Problem im Verfassungsblog. Das ist an vielen Stellen zu beobachten: Die Vermittlung kritischer Inhalte ist oft vom Engagement einzelner Lehrenden abhängig. Interdisziplinäre Perspektiven finden meist nur in Wahlmodulen statt, sodass ein erheblicher Teil der Studierenden das Staatsexamen absolviert, ohne jemals mit ihnen in Kontakt gekommen zu sein. Raum für alternative Lehrformate gibt es im Regelstudienverlauf selten. Und das, obwohl in § 5a Abs. 3 S. 1 Hs. 1 DRiG sehr wohl festgelegt ist, dass das Studium die Fähigkeit zur kritischen Reflexion fördern soll.

In welchen Formaten kritische Perspektiven in die juristische Ausbildung integriert werden können, ist Gegenstand vieler Diskussionen. Dieser Artikel stellt exemplarisch drei Ideen vor: Interdisziplinäre Lehrveranstaltungen; Law Clinics und Projekte wie Re:Law, in dem Studierende den eigenen Umgang mit dem Recht reflektieren, indem sie Urteile und Gesetze umschreiben.

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Kritische Inhalte vermitteln

Wenn man über die Fähigkeit zur kritischen Reflexion des Rechts nachdenkt, muss man sich auch mit den Inhalten beschäftigen. Wie können kritische Theorien im Studium verankert werden? Welche Rechtsgebiete werden als "wichtig" angesehen und in den Pflichtfachstoff aufgenommen – und welche nicht? Rechtskritik bedeutet dabei nicht die destruktive Ablehnung von Recht als Machtinstrument, sondern vielmehr die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Funktionen und Wirkungsweisen von Recht.

Daneben muss es aber auch um die Frage gehen, wie, also mit welchen Lehrformaten, Jura gelehrt werden soll. In einem Studiengang, der zu großen Teilen als Massenvorlesung stattfindet, müssen kritische Inhalte einerseits auch dort verankert werden. Andererseits braucht es darüber hinaus interaktive Module, in denen Studierende selbst aktiv werden, eigenständig hinterfragen, ihre eigene Wirkmächtigkeit erfahren und zugleich durch die gemeinsame Arbeit Teamfähigkeit entwickeln.

Insbesondere Richter:innen dürfen das Recht natürlich nicht entsprechend ihrer Gesinnung umdeuten oder beugen. Das Recht bietet aber auch innerhalb des gesetzlichen Rahmens eine Vielzahl an Wertungsmöglichkeiten und damit unterschiedliche Ergebnisse. Mit ihren Entscheidungen prägen Jurist:innen das Recht täglich. Deshalb muss das Studium vermitteln, dass Entscheidungen bzw. die Ansichten eines Meinungsstreits im Studium nicht willkürlich sind. Sie sollten immer kritisch hinterfragt werden, ob sie den Wertungen des Grundgesetzes entsprechen und man für sie einstehen kann.

Interdisziplinäre Lehrveranstaltungen: Mehr als "nur" Jura

Rechtssoziologie, Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte sind als interdisziplinäre Grundlagenfächer bereits jetzt im Studienverlauf verankert. Durch Rechtsgeschichte lässt sich der historische und soziale Kontext von Normen reflektieren. Rechtssoziologie erlaubt, die Unterschiede zwischen juridischem Recht und den realen Auswirkungen von Recht zu erkennen. Durch Rechtsphilosophie kann die Frage nach der Gerechtigkeit im Recht gestellt werden. Doch die Grundlagenfächer bleiben häufig im Rahmen der klassischen Vorlesung stecken. Innerhalb dessen lässt sich das volle Potential der Interdisziplinarität, der kritischen Reflexion und vor allem der Studierenden sowie Lehrenden kaum ausschöpfen.

Deshalb braucht es über die Grundlagenfächer hinaus weitere Formate. Interdisziplinäre Lehrveranstaltungen können im Team mit Dozierenden aus mindestens zwei Disziplinen unterrichtet werden. So wird ermöglicht, das Thema von unterschiedlichen Seiten zu beleuchten und über den Tellerrand hinauszuschauen. Dafür kann es hilfreich sein, eine Veranstaltungsreihe oder ein Seminar einem einzelnen Thema zu widmen und dieses dann die Brille von unterschiedlichen Disziplinen zu betrachten. Mögliche Partnerdisziplinen sind etwa Staats- und Verwaltungswissenschaften, Psychologie, Kriminologie, Kultur- und Wirtschaftswissenschaften.

In Law Clinics selbst beraten 

In Law Clinics können Studierende selbst rechtsberatend tätig werden. Um die Qualität der Beratung zu gewährleisten, werden die Studierenden immer von Volljurist:innen unterstützt. Der Tätigkeitsbereich umfasst einerseits die traditionelle Rechtsberatung am Fall, wie sie zum Beispiel die Refugee Law Clinic anbietet. Andererseits kann auch, wie bei der Humboldt Law Clinic Grund- und Menschenrechte, die Kooperation mit NGOs und staatlichen Antidiskriminierungsstellen Teil der Arbeit sein. Dabei werden zum Beispiel Rechtsgutachten, Beratungsleitfäden und Policy Paper entwickelt.

Einerseits lernen Studierende so Praxisgebiete kennen, die ansonsten im Studium oft nicht abgedeckt werden. Zugleich haben sie die Möglichkeit, fachliche und praktische Kompetenzen interaktiv zu verknüpfen. Indem sie Menschen helfen, ihre Rechte zu mobilisieren, sehen Studierende, wie "law in the books" zu "law in action" umgewandelt wird. Dabei wird deutlich, dass der praktische Schutz des Individuums sowie marginalisierter Gruppen ein essenzieller Bestandteil des materiellen Rechtsstaats ist.

Recht produktiv kritisieren

Formate wie Re:Law, Normenwerkstätten und verfassungsrechtliche Planspiele ermöglichen eine produktive, kritische und interaktive Auseinandersetzung mit dem Recht.

Re:Law knüpft an die Praxis des sogenannten Re:Writings an, welche 2004 durch den "Women‘s Court of Canada" angestoßen wurde. Ziel ist es, Gerichtsurteile umzuschreiben, indem man andere mögliche Normen zur Anwendung bringt oder bestimmte Rechtsgüter anders gewichtet. Dadurch entwickelt man ein Ergebnis, das als gerechter empfunden wird. Daneben können diese Formate aber auch andere juristische Quellen wie Gesetze, völkerrechtliche Verträge, Policy Papers und Stellungnahmen der Bundesregierung umfassen.

Normenwerkstätten und verfassungsrechtliche Planspiele verfolgen die gleichen Ziele. Dabei imitieren Studierende gemeinsam (ggf. in unterschiedliche Interessengruppen eingeteilt) den Rechtssetzungsprozess. Gemeinsam entwickeln sie Gesetzestexte zur Lösung eines aktuellen Konflikts.

"Als methodisch angeleiteter und zielgerichteter Prozess eröffnet Re:Law die Chance, sich auf die Eigenlogik des Rechts einzulassen und ihr weder pauschal befürwortend oder ablehnend, sondern angemessen kritisch zu begegnen: Wer umschreiben will, muss verstehen, unter welchen Bedingungen und wie Recht funktioniert, und Folgen und Effekte kritisch reflektieren", erklären Prof. Dr. Petra Sußner, Ida Westphal, Ali Mehrens und Prof. Dr. Susanne Baer in einem Sammelwerk der dfg-geförderten Forschungsgruppe Recht – Geschlecht – Kollektivität.

Ziel der Lehre ist es, den eigenen Umgang mit dem Recht zu reflektieren, da anhand einer konkreten Entscheidung sichtbar werden kann, "dass insbesondere Diskriminierung das Ergebnis der Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten – oder des Fehlens solcher Möglichkeiten – ist", führen sie weiter aus. So können sich Studierende ihrer Wirkungsmacht bewusst werden und erarbeiten gleichzeitig gemeinsam nah an der Praxis juristische Argumentationslogiken, also das "Handwerkszeug", um später aktiv für einen materiellen Rechtsstaat einzustehen.

Pensionierungswelle als Herausforderung, aber auch Chance

Neben diesen Lehrformaten gibt es natürlich noch weitere Möglichkeiten, um kritische Inhalte effektiv in der juristischen Ausbildung zu verankern. Die Formate können so vielseitig sein, wie Lehrende und Studierende sie gestalten.

Bereits jetzt gibt es Projekte an unterschiedlichen Universitäten. Jetzt wäre es aber wichtig, kritische Inhalte und Lehrformate an zentraler Stelle im Studienverlauf zu implementieren. Ziel muss sein, dass alle Studierenden mindestens eine Veranstaltung besuchen, die explizit darauf abzielt, eine kritische Reflexion des Rechts lernen. Zudem sollte die kritische Reflexionsfähigkeit als positives Bewertungskriterium in bestehende Prüfungsformate einfließen und ggf. durch weitere Formate ergänzt werden.

Bis 2030 scheiden laut einer Studie des Deutschen Richterbundes 40 Prozent der Jurist:innen aus dem Dienst aus – in Ostdeutschland sind es sogar Zweidrittel. Dies stellt uns kurzfristig vor einen erheblichen Jurist:innenmangel. Aber dies ist auch der entscheidende Moment, kritische Jurist:innen auszubilden, die den Rechtsstaat über Jahrzehnte hinweg prägen und schützen werden. Wir sollten dies als Chance begreifen und unseren Rechtsstaat resilienter machen. Dafür müssen wir sicherstellen, dass wir Jurist:innen ausbilden, die sich ihrer Verantwortung für das Grundgesetz bewusst sind.

Zora Machura

Zora Machura ist Studentin an der Humboldt-Universität zu Berlin und Vorständin für inhaltliche Koordination beim Bundesverband rechtswissenschaftlicher Fachschaften e.V. im Amtsjahr 2024/25.

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