9.309 erfolglose Examensprüflinge in zehn Jahren

Wie viele end­gültig Durch­ge­fal­lene wollen wir uns noch leisten?

Gastbeitrag von Jörn GriebelLesedauer: 7 Minuten

Es fallen zu viele Prüflinge endgültig durch. Die Zahlen dazu sind bekannt, es will sich nur niemand mit ihnen befassen, weil sie in der Bewertung zwischen schrecklich und traurig liegen. Schuld hat natürlich nur der betroffene Kandidat.

Mal mehr, mal weniger transparent findet man Zahlen zur Juristenausbildung aufbereitet: Neben den Landesstatistiken der Landesjustizprüfungsämter (JPÄ) zum Beispiel in der Jahresstatistik des Bundesamts für Justiz (BfJ), zuletzt in dessen Zahlen zur Juristenausbildung für 2022. Diese Zahlen liefern interessantes Material für die Forschung an Ausbildungssystemen. Sie zeigen Tendenzen (Zunahme oder Rückgang der Absolventenzahlen), Verwerfungen (etwa besonders hohe Nichtbestehensquoten in bestimmten Bundesländern oder in einzelnen Jahren), Kuriositäten (hier als Euphemismus gebraucht für abweichende Bewertungen von Frauen und Männern) – und das immer mit Bezug zu individuellen Schicksalen, denn diese stehen hinter diesen Zahlen.

Allerdings werden die realen Zahlen in der Öffentlichkeit zu oft hinter Relationen bzw. Prozentanteilen versteckt. Vielleicht sind sie so leichter auszuhalten. Jedenfalls könnte das die Aussage einer JPA-Präsidentin erklären, die unter Verweis auf – wie wir sehen werden – unterhalb der Wahrheit liegende Prozentzahlen berichtet, es sei "also wirklich nicht so, dass die Studierenden am Ende des Studiums reihenweise durchs Examen" fielen (Recht reloaded; 01/2023, S. 6).

Dieser Behauptung sollten wir einmal nachgehen – und so kommen wir auf die Zahl 9309. Dabei handelt es sich um die Gesamtzahl der Kandidaten, die in den Jahren 2013 bis 2022, also in den letzten vom BfJ statistisch erfassten zehn Jahren, entweder in der Ersten juristischen Prüfung oder aber dem Zweiten Staatsexamen endgültig durchgefallen sind.

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Nicht alle, die letztlich scheitern, werden überhaupt erfasst

6.123 von diesen 9.309 Kandidaten haben ihren hoffnungsvollen Weg durch die universitäre Ausbildung bereits infolge eines endgültigen Scheiterns an der Ersten Prüfung beendet. Was die Statistik hier allerdings nicht erfasst, ist die Zahl derjenigen, die nach erfolglosem "regulärem" Erstversuch in der Ersten Prüfung (damit sind nicht die Freischusskandidaten gemeint) die einmalige Wiederholungsmöglichkeit nicht mehr wahrnehmen, weil sie zum Beispiel zu große Angst davor haben.

Nur einer einzelnen Landesstatistik (Bericht des Bayerischen LJPA für 2023) dürfen wir entnehmen, dass diese Zahl auf weitere drei bis fünf Prozent der Gesamtzahl der Prüflinge der Ersten Prüfung "geschätzt" wird (in den Vorjahren belief sich die Schätzung gerne auch mal auf vier bis sechs Prozent). Glaubt man Zahlen aus NRW für das Jahr 2022, dann könnte diese Zahl in einzelnen Jahren auch noch deutlich höher liegen. Eigentlich unglaublich, dass diese ausbildungsstatistisch bedeutende Zahl nicht transparent erhoben und nur ganz vereinzelt beiläufig erwähnt wird. Mutmaßlich sprechen wir auch hier von mehreren Hundert weiteren Prüflingen pro Jahr. Genau genommen müssten wir die 9.309 endgültig Durchgefallenen sogar noch um ein paar Tausend Kandidaten aufstocken.

Die Präsentation der Zahlen scheint geschönt

Überhaupt hat man bei Betrachtung der Zahlen den Eindruck, dass diese im Rahmen der Gesamtstatistik in einer zu optimistischen Aufbereitung präsentiert werden. Neben der belastbaren Zahl der im jeweiligen Jahr im staatlichen Teil der Ersten Prüfung bundesweit endgültig erfolglosen Individuen steht auch immer eine Prozentzahl. Für das Jahr 2022 lautet sie 3,9 % und bezieht sich auf 513 Betroffene. Allerdings wird der prozentuale Anteil anhand der 13.050 durchgeführten Prüfungen berechnet – und die umfassen übrigens auch alle Wiederholer, Notenverbesserer und erfolglose Freischusskandidaten.

Bessere Berechnungsbasis: Gemessen an der eher belastbar erscheinenden Zahl der erfolgreichen Absolventen der Ersten Prüfung im Jahr 2022 (es sind 8.765, aus denen allerdings auch noch – soweit bekannt – Notenverbesserer herausgerechnet werden müssen), liegt der prozentuale Anteil der endgültig Erfolglosen plötzlich bei rund 6,5 Prozent. Rechnet man diejenigen Kandidaten hinzu, die durchgefallen sind und ihren zweiten Versuch nicht wahrnehmen, scheitern insgesamt gut zehn Prozent aller ursprünglichen Prüflinge.

Kann man da nicht durchaus schon von "reihenweise" endgültig gescheiterten Kandidaten sprechen? Urteilen Sie selbst. Beachten Sie dabei aber bitte, dass diese zehn Prozent anders als circa 50 Prozent ihrer Kommilitonen im Jurastudium durchgehalten und den Weg zur Ersten Prüfung beschritten haben (die Gesamtzahl der Abbrecher und Zwangsexmatrikulierten während des Studiums lässt sich anhand der Zahl der jährlichen Prüfungen im Staatlichen Teil der Ersten Prüfung abschätzen. Bereinigt um herauszurechnende Notenverbesserer etc. liegt sie bei circa 10.000 von circa 20.000 Studienanfängern pro Jahr).

Hinter jedem Nichtbesteher steckt ein Schicksal

Bemerkenswert ist daneben aber auch die Zahl der im Zweiten Examen endgültig gescheiterten Kandidaten. Vordergründig handelt es sich um einen im Vergleich zu den final in der Ersten Prüfung Erfolglosen kleineren Wert: Es sind „nur“ 3.186 während der vergangenen zehn Jahre. Diesen Individuen wurde allerdings in der Ersten juristischen Prüfung eine ausreichende Kompetenz für die Zulassung zum Referendariat bescheinigt. Sodann haben sie dieses nach den jeweiligen Landesvorgaben und gefördert über die seitens der JPÄ verantworteten Ausbildung in Arbeitsgemeinschaften und Stagen absolviert, um sich letztlich als nicht hinreichend qualifiziert zu erweisen. Wer außer den Betroffenen könnte daran eine Schuld tragen?

Hermann Stephan, früherer Präsident des hessischen Justizprüfungsamts in den Jahren 1991 bis 2003, hat sich in einem deutlich zu wenig beachteten Beitrag aus der Innenperspektive der für das System Verantwortlichen mit dieser Gruppe befasst (NJW 2003, 2800). Er schreibt, dass es prozentual vielleicht nicht viele seien, die menschliche Dimension aber in den absoluten Zahlen sichtbar werde.

Ein Blick auf menschliche Dimensionen im juristischen Prüfungswesen? Gefühlsduselei? Stephan ist jedenfalls mit einer solchen Ausgangsperspektive nicht allein. Schon Bernhard Großfeld schrieb bereits 1986 zu den Klagen über Stofffülle, Unüberschaubarkeit und Schärfe der Prüfungsanforderungen sowie die Studiendauer: "Diese Klagen sind begründet. Sie drücken jeden, der als Professor und Prüfer ein offenes Ohr und ein warmes Herz für die Nöte vieler junger Menschen […] hat".

Aber warum sich mit mutmaßlich selbstverschuldeten Nöten befassen? Stephan liefert hierzu eine Antwort, indem er ein klassisches Nichtbestehensszenario beschreibt: "Dazu das Beispiel eines gescheiterten Kandidaten, das in der Struktur allen Fällen gleicht, die mir in meiner Praxis begegnet sind: Beim ersten Versuch erzielt der Kandidat in den acht Klausuren eine Durchschnittspunktzahl von 2,18 Punkten, beim zweiten Versuch eine solche von 2,87 Punkten. Im Vorbereitungsdienst erhielt der Kandidat deutlich bessere Noten: In der Einzelausbildung wurde er mit durchschnittlich 11,6 Punkten bewertet, in den Arbeitsgemeinschaften mit durchschnittlich 10 Punkten".

Wir dürfen annehmen, dass das auch heute noch so ist. Vielleicht haben wir es gar mit Menschen zu tun, die während des Studiums, in der Ersten Prüfung, im Referendariat oder in der Praxis entweder durchgehend oder jedenfalls punktuell weit überdurchschnittliche Leistungen gezeigt haben. Gibt es vielleicht gar bereits Promovierte, die hier letztlich scheitern?

Das Examen berücksichtigt keine persönlichen Umstände

In den Examina schaut niemand nochmals auf das betroffene Individuum, seine jenseits der Aufsichtsarbeiten gezeigten Leistungen und die möglichen Gründe des Scheiterns. Es gibt keine Härteklauseln. Sie werden alle kurzum als nicht geeignet abgestempelt. Auch Elternschaft, Pflege von Angehörigen, gesundheitliche Beeinträchtigungen: Nichts davon spielt eine Rolle. Angeblich verbietet dies das Gebot zur Gleichbehandlung der Kandidaten. Interessant, dass sich die Gleichheit hier über den freiheitsrechtlichen Anspruch auf eine angemessene Betrachtung der individuellen Leistungsfähigkeit für Rechtspflegeberufe stellt und – vielleicht auf Basis von Härteentscheidungen – selbst die Möglichkeit zu weiteren Versuchen, mit denen der Beweis doch noch erbracht werden könnte, überstreng limitiert, denn mehr als einmal darf niemand wiederholen.  

Wenn man die Schicksale der einzelnen Betroffenen unter die Lupe nähme, dann würde sich die Zahl derjenigen, die man selbst bei wohlwollender Betrachtung als ungeeignet für jegliche juristische Tätigkeit und speziell die Rechtspflegeberufe betrachten müsste, möglicherweise massiv reduzieren. Wahrscheinlich würde man sogar entdecken, dass man vielen Tausend Betroffenen mit diesem Bewertungs- und Prüfungssystem in der Vergangenheit Unrecht getan hat.

Viele Mängel, kaum Aufarbeitung

Ein System, das solche Selektionseffekte zeitigt, muss ein hohes Maß an prüfungswissenschaftlicher Zuverlässigkeit aufweisen. Unter Bezugnahme auf Ernst-Wolfgang Böckenförde kritisiert selbst Stephan aus seiner Innenperspektive als JPA-Präsident die Aussagekraft von Aufsichtsarbeiten für die Bewertung der beruflichen Eignung (NJW 2003, 2801). Dies ist nur die Spitze des Eisbergs, wenn es darum geht, die beiden juristischen Prüfungen nach den Kriterien Validität, Reliabilität, Objektivität und Trennschärfe zu beurteilen. Je fehleranfälliger die Prüfung, desto problematischer ist die Entscheidung über Nichteignung. Das Problem sind aber wahrscheinlich nicht die Aufsichtsarbeiten als Prüfungsform, sondern der selbst für die Besten in der Vorbereitung nicht zu bewältigende Stoffkanon (wie sich an den besten Notendurchschnitten in Prüfungen zeigt).

Daneben fragt man sich aber vor allem, wer in der Gesellschaft vor den betroffenen 9.309 Individuen geschützt werden muss. Die Gerichte, die Staatsanwaltschaften, die Unternehmen? Hier wird niemand ohne weitere Auswahlverfahren eingestellt. Zudem ist eine rechtsanwaltliche Tätigkeit ohne Haftpflichtversicherung gar nicht möglich, den Rest regeln der (Arbeits-)Markt und inzwischen Bewertungsportale. Wahrscheinlich geht die Härte des heutigen Ausbildungssystems auf einen tiefen Minderwertigkeitskomplex der Rechtswissenschaft gegenüber den empirischen Wissenschaften im 19. Jahrhundert zurück, über den die Rechtswissenschaft mit Blick auf ihre heutige Bedeutung gelassen lächeln sollte.

Fazit: In der Juristenausbildung schaut man zu, wie all dies Monat für Monat passiert, in 9309 + x Fällen ("x" steht für die unbekannte Zahl der nicht nochmals Antretenden) in den vergangenen zehn Jahren. Wahrlich kein Ruhmesblatt. Welche anderen Abschlussprüfungen innerhalb und außerhalb der deutschen Grenzen haben vergleichbare Selektionseffekte auf Grundlage vergleichbar unzuverlässiger Testverfahren? Hoffentlich können der Bundesjustizminister und die Landesjustizministerinnen und -minister gut dabei schlafen. Denn wenn man sich den Output an Volljuristen in einzelnen Bundesländern oder bestimmte Durchfallquoten anschaut, dann könnte man die Juristenausbildung dort teilweise auch gleich beerdigen.  

Wenn man sich dazu noch beispielsweise die beachtlichen und bis heute sachlich nicht begründeten Benotungsunterschiede zwischen Frauen und Männern in der Ersten Prüfung in den Blick nimmt, darf man sich fragen, was sich die deutliche Mehrheit der Justizministerinnen in Landesjustizministerien eigentlich in Gleichstellungsfragen auf die Fahnen geschrieben hat. Aber dies sind andere Geschichten, die vielleicht mal von anderen erzählt werden sollten. Die Zahlen dafür sind jedenfalls umfänglich vorhanden und noch nicht einmal in Ansätzen erschöpfend behandelt.

Der Autor Prof. Dr. Jörn Griebel ist Professor für Wirtschaftsrecht an der Universität Siegen und beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit Verbesserungsvorschlägen für die Juristenausbildung.

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