Vier junge Menschen arbeiten an Laptops rund um einen Tisch
Debatte über "Juristisches Prüfen 2030"

Ein Chatbot für die Exa­mens­vor­be­rei­tung?

Gastbeitrag von Ole Neitzel2025 M10 10, Lesedauer: 7 Minuten

Die Diskussion um Jura-Prüfungen und KI ist angelaufen. Referendar Ole Neitzel meint, dass sich die klassischen Prüfungsformate aber nur bedingt in eine Gegenwart pressen lassen, für die sie nicht gemacht sind. Er hat andere Ideen.

Im Juni begann ich mein Referendariat in Schleswig-Holstein. Der Einführungstag fand in Schleswig statt. Vor uns andächtig im Roten Elefanten versammelten Neu-Referendar:innen referierten verschiedene Honoratioren der örtlichen Jurist:innenszene und sangen Loblieder auf die Vorzüge ihrer jeweiligen Biotope. Diverse Gerichtsbarkeiten und Behörden wurden unter anderem als "modern" und "gut ausgestattet" angepriesen. Im Laufe des Tages verkündete jemand: "Schon bald werden wir die E-Akte einführen!" In seiner Stimme schwang ein schwer zu deutender Subtext mit. Es könnten Stolz und Vorfreude gewesen sein. Nüchtern betrachtet käme aber auch ein hinter Ironie verborgener Fatalismus in Betracht.

Das ist jetzt einige Monate her. In dieser Zeit habe ich im Rahmen meiner Strafstation mehr Papier bewegt als in all den Jahren davor. "Und das ausgerechnet im Dezernat für Cybercrime," dachte ich, während ich diverse Haupt- und Sonderbände eines besonders voluminösen Gürteltiers nach einer gut versteckten Information durchsuchte. Wie viel Zeit kostet eigenhändiges Strg + F und woher nimmt ein:e Staatsanwält:in diese Zeit? Auch der kompetenteste Ausbilder (und der engagierteste Bürohund, GoldenStA’in Abby) konnte nicht über die Erkenntnis hinweghelfen, dass hier eine Behörde bei den Arbeitsmethoden des vorigen Jahrtausends stehen geblieben zu sein schien.

Fairerweise muss berichtet werden, dass besagte Staatsanwaltschaft in diesen Tagen die Umstellung auf die E-Akte durchläuft. 2025. Doch anderswo ist man noch nicht so weit. Darum drängt sich die Frage auf, ob es nicht noch zu früh ist, die Jurist:innenausbildung zu modernisieren. Neue Prüfungsformen schon 2030? Wer derart waghalsige Ideen in die Welt setzt, mag als visionär gelten, muss aber womöglich verantworten, (hoffentlich erfolgreich) modernisierte Nachwuchsjurist:innen in eine (höchst erfolgreich) nichtmodernisierte Berufspraxis zu schicken.

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Zeitgemäße juristische Arbeitsmethoden nicht einmal an Uni angekommen

Allerdings besteht die berufliche Praxis glücklicherweise aus weit mehr als nur dem öffentlichen Dienst. Und tatsächlich sind Teile der Anwält:innenschaft und der Unternehmensjurist:innen in der Evolution ihrer Arbeitsmethoden schon etwas weiter vorangeschritten. Zwar nicht unbedingt mit dem Weitblick Richard Susskinds, der bereits vor mehr als dreißig (!) Jahren über "Law and Artificial Intelligence" promovierte, aber doch immerhin so entschlossen, dass es auf LinkedIn verwertbar ist. Und womöglich sogar im Arbeitsalltag.

Insofern mag es vielleicht an der Zeit sein, die juristische Lehre und ihre Prüfungsformate aus dieser Perspektive kühn zu hinterfragen. Auch hier ergibt die Kombination aus öffentlichem Dienst und Juristentum nicht automatisch eine veränderungs- oder gar fortschrittsfreundliche Atmosphäre. Folgerichtig gehen bisherige Neuerungen, die im Kontext der Lehre und des Lernens nicht nur Vorschläge geblieben, sondern zur Umsetzung gelangt sind, vor allem auf studentische Initiativen zurück. Wer während des Jurastudiums etwas über zeitgemäße juristische Arbeitsmethoden und -werkzeuge erfahren möchte, ist an vielen Fakultäten bis heute darauf angewiesen, außeruniversitäre Angebote zu finden. Oder sie eben selber auf die Beine zu stellen, wie es an mehreren Studienorten durch Student:innen (in erfreulich großer Zahl und mit beeindruckendem Engagement) geschehen ist. 

Die Taktik: Didaktik

Diese Nachwuchsjurist:innen, die teilweise umfangreich ausgearbeitete Informationsangebote für ihre Mitstudent:innen erstellt haben, sollten in den Innovationsdiskurs einbezogen werden. Zudem könnte auch gänzlich fachfremder Input dabei helfen, zielführende Konzepte auf belastbarer Grundlage zu erstellen. So sind viele Lehrende mit Jurahintergrund nicht gerade für ihre didaktischen Kompetenzen berühmt – es gibt aber Menschen, deren Fachgebiet die Pädagogik ist. Bei der Frage, wann und wie potenzielle Game Changer wie Künstliche Intelligenz (KI) in die Ausbildung einbezogen werden sollten, könnte Expertise aus Informatik, Arbeitspsychologie, Kulturwissenschaften und Sozialanthropologie nützlich sein. Und natürlich Richard Susskind.

Leider bin ich nichts von alledem, sondern nur ein Referendar ohne Lehrerfahrung. Aber ich habe nach dem Ersten Juristischen Staatsexamen einige Jahre in den Bereichen Legal Tech und Legal Innovation gearbeitet. Vor diesem Hintergrund wage ich die These: Wenn Prüfungen das juristische Arbeiten abbilden sollen, müssen sie modular, tool-offen und methodenbewusst werden – sonst prüfen sie eine historische Kulturtechnik. (Genau genommen hat ChatGPT mir diese These souffliert. Die Ursprungsversion des Texts mäanderte an dieser Stelle etwas konfus dahin, worauf mich meine unermüdliche Erstleserin in gewohnt konstruktiver Weise aufmerksam machte.)

Prüfungsformate sollten fairerweise auf dem in der Lehre vermittelten Wissen aufbauen. Die präzise und produktive Integration moderner Arbeitswerkzeuge, von denen Künstliche Intelligenz nur ein Beispiel ist, setzt entsprechende Anpassungen der Curricula voraus. Erforderlich ist der Erwerb interdisziplinärer Fach- und Methodenkenntnisse sowie ein reflektierter Umgang mit selbigen. Um dies auch nur oberflächlich in ein Jurastudium mit seinen traditionell ganz anderen Schwerpunkten zu integrieren, müssten die entsprechenden Ausbildungsvorgaben radikal neukonzipiert werden. Schon im nächsten Jahrhundert wäre mit ersten Umsetzungsschritten zu rechnen. 

"Thematisch Offenes Projekt"

Ein womöglich bis 2030 umsetzbarer Kompromiss könnte darin bestehen, gewisse Bestandteile des aktuellen Pflichtstoffes in fakultative Module umzuwidmen und daneben neue Module einzuführen, die den Umgang mit Technologien und Tools (Plural!) behandeln. Die konkrete Ausgestaltung kann verschieden aussehen, aber zumindest die Bezeichnung als "Schlüsselqualifikation" drängt sich hier geradezu auf. In diese Module ließen sich verschiedenste Themen des juristischen Arbeitens im 21. Jahrhundert integrieren. Ohne starre Vorgaben, sondern maximal flexibel, weshalb ich die Bezeichnung "Thematisch Offenes Projekt" (TOP) vorschlage. 

Mögliche Ansätze für die Schwerpunktsetzungen dieser TOP-Module: Welche Werkzeuge nutzen Jurist:innen für welche Aufgaben; welche Arbeitsschritte werden wie aufgesetzt? Welche juristischen Inhalte werden mit welchen technischen Funktionen verknüpft? Welche Herangehensweisen gewährleisten effizientes und effektives Arbeiten? Welche Faktoren beeinflussen das Arbeitsergebnis? Welche Formen kann das Arbeitsergebnis annehmen? Wessen Bedürfnisse werden damit erfüllt und wie sehen deren Erwartungen aus? 

Im Rahmen solcher Module ließe sich all dies analysieren, kategorisieren, hinterfragen, weiterdenken. Aufgrund ihrer offenen Gestaltung bieten sie der juristischen Ausbildung eine Chance, kontinuierliche Weiterentwicklungen zu integrieren.

Auf dieser Grundlage lassen sich auch neue Prüfungsformate entwickeln. Es wäre hinderlich, diesbezüglich in den überkommenen Strukturen klassischer Klausuren und Hausarbeiten zu denken. Vielmehr sollte in jedem Semester neu überlegt werden, wie die konkret behandelten Inhalte in eine eigenständige Leistung der Studierenden münden können. Diese Modulabschlussleistung wäre dann die TOP-Prüfung. Um ein Beispiel für dieses Prüfungsformat zu liefern, hier ein TOP-Konzept mit einem Schwerpunkt auf dem Arbeiten mit Künstlicher Intelligenz:

Das hier skizzierte TOP-Konzept ist qualitativ und quantitativ sehr anspruchsvoll und insbesondere die Projektarbeit unter normalen Umständen nicht in (technischer und juristischer) Perfektion zu schaffen. Zwar ist das Attribut "nicht schaffbar" traditionell eine besondere Auszeichnung für juristische Prüfungen, dennoch plädiere ich dafür, im Rahmen der TOP-Prüfungsleistung größeren Wert auf Methodik und Reflektion zu legen. Und überhaupt muss dieses Konzept nicht zwingend 1:1 umgesetzt, sondern darf eher als Inspirationssteinbruch verstanden werden, aus dem einzelne Teile herausgebrochen und ggf. für eigene Zwecke angepasst werden können. 

Chance für den Sprung in die Gegenwart

Ein denkbares Thema für ein erstes Pilotprojekt wäre: "Examensvorbereitung". Diese Vorgabe ist besonders geeignet, da sie thematisch viel Freiheit bietet, die Student:innen aber gleichzeitig auf ihnen bekanntem Terrain agieren lässt und einen unmittelbaren Nutzen für sie aufweist. Auf dieser Grundlage könnten im KI-Kontext beispielsweise folgende Ansätze interessant sein: 

  • Interaktiver Lernassistent: Ein Chatbot, der über die bloße Karteikarten-Abfrage hinaus auch als Lernpartner fungiert.

  • Prüfungssimulation: Wissensüberprüfung in dem Szenario einer mündlichen Prüfung, wobei ein Chatbot seine Rolle gegebenenfalls nach individuellen Vorgaben interpretieren kann.

  • Klausurentutor: Auswahl problemspezifischer Übungsklausuren anhand konkreter Wissenslücken der Nutzer:innen.

Bereits diese drei Basiskonzepte lassen vielfältige Anpassungen zu, die eine große Bandbreite denkbarer Umsetzungen ermöglichen. Klar ist aber auch, dass in jedem Fall eine starke Fokussierung erforderlich ist, um einen realistischen Scope zu definieren. Je nach konkreten Rahmenbedingungen, insbesondere den zur Verfügung stehenden Ressourcen, sind enge inhaltliche Grenzen oder ein angepasster Erwartungshorizont zu kommunizieren. 

In der Durchführung durch die Student:innen sind dann verschiedenste Fragen zu beantworten: Wie definieren wir als Team unser Projektziel; wie definieren wir es für die technische Umsetzung? Welches Material benötigen wir; welche Technologien/Tools nutzen wir? Wie bereitet man Material auf, um es für die Verarbeitung durch KI vorzubereiten? Was sind sinnvolle Kategorisierungen und Strukturen? Welche Arbeitsschritte sind wann und wie durchzuführen? Wie betreibt man Fehlersuche?

Zum TOP-Abschluss stellt jedes Team sein Projekt in einem frei wählbaren Format (Vortrag/Präsentation, Demo/Tutorial, Podcast, Film, …) vor. Optional kann der Lehrperson auch Material zur Verfügung gestellt werden (Code, Aufsatz/Dokumentation, …). In jedem Fall sollte deutlich werden, wie das Projekt bearbeitet und was dabei gelernt wurde, bspw.: Für welche Methoden und Werkzeuge haben wir uns warum entschieden; was waren ihre Stärken und Schwächen? Welche juristischen Fragestellungen haben wir beantwortet; welche technologischen Probleme haben wir gelöst? Welches Wissen und welche Fähigkeiten haben wir uns erarbeitet? Worin lagen Grenzen des Projekts; an welchen Stellen könnte man es weiterentwickeln?

Indem sich die Student:innen diese Erkenntnisse in der praktischen Umsetzung selbst erarbeiten, verschaffen sie sich den erwünschten Kompetenzgewinn. Schließt daran eine transparente Evaluation und Reflexion an, so entfaltet das TOP-Konzept sein volles Potenzial: Es schafft den erforderlichen (Spiel-)Raum, um Ambivalenzen zu vermitteln, Kontingenz darzustellen, Widersprüche aufzulösen, aktuelle Entwicklungen aufzunehmen – kurz: Realität abzubilden. Für die juristische Ausbildung liegt darin die Chance, den Sprung in die Gegenwart zu bewältigen. Endlich. 

Ole Neitzel ist Rechtsreferendar am Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgericht.

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