"Mit Menschen arbeiten, die die gleichen Ziele haben"
LTO: Um den Nachwuchs für sich zu gewinnen, setzen viele Kanzleien immer noch auf Gehaltserhöhungen. Was hältst Du von dieser Strategie?
Marc Ohrendorf: Natürlich ist das Gehalt ein Faktor, anhand dessen sich die Kanzleien vergleichen. Es ist Menschen auch nicht unwichtig, wie viel sie verdienen. Ich sehe aber eher große Unterschiede zwischen Justiz und der Verwaltung auf der einen Seite und der Kanzleiwelt auf der anderen Seite als innerhalb der Kanzleiwelt. Es gibt Menschen, für die das Einstiegsgehalt das entscheidende Kriterium ist. Die ganz überwiegende Mehrzahl der Berufsträger, mit denen ich spreche, legt aber mehr Wert auf andere Faktoren.
Welche Faktoren sind entscheidender als Geld?
Die Menschen wollen das Gefühl haben, am richtigen Ort und mit den passenden Kollegen zu arbeiten. Man verbringt mehr Zeit bei der Arbeit als zuhause, da will man sich wohlfühlen. Dazu gehören aber mehr als die klassischen Benefits. Der berühmte Obstkorb motiviert bestimmt niemanden mehr zu einer Bewerbung. Gleichzeitig habe ich erst kürzlich noch ein Unternehmen erlebt, bei dem die Mitarbeitenden für Kaffee zahlen mussten. Das ist nicht mehr zeitgemäß.
Was die Menschen aber wirklich motiviert, ist es, mit anderen Menschen zu arbeiten, die ähnliche Ziele haben. Das Persönliche muss passen. Als ich vor acht Jahren mit dem Podcast angefangen habe, dachte ich, dass es ungefähr 30 bis 50 Berufe gibt, die man mit Jura machen kann: vom klassischen Anwalt über Mitarbeit in Unternehmen und die Justiz in verschiedenen Rollen bis hin zum Auswärtigen Amt. Später habe ich dann gemerkt, wie unterschiedlich man diese Berufe ausfüllen kann. Über "die" M&A-Anwälte würde man sagen, die ticken alle gleich, arbeiten viel und machen Due Diligence bis tief in die Nacht. Aber in der Praxis ist es viel diverser, als man denkt.
"Du kannst mit 2.000 Stunden M&A machen, aber auch mit 1.500"
Woran machst Du das konkret fest?
Es gibt in jedem Rechtsgebiet dutzende Möglichkeiten, die juristischen Aufgaben und die damit verbundenen Managementherausforderungen zu interpretieren. Vieles hängt von der individuellen Persönlichkeit, den Vorlieben, Hobbies, der familiären Prägung sowie dem sozialen Umfeld der Berufsträger ab. Anwälte sind bunter als viele denken – und der juristische Nachwuchs natürlich auch.
Aber zurück zum M&A-Beispiel: Eine messbare Metrik sind die Billable-Hour-Vorgaben der Kanzleien. Du kannst mit 2.000 abrechenbaren Stunden im Jahr M&A machen, aber auch mit 1.500. Die Folgefrage ist aber: Was passiert, wenn man das einmal nicht schafft? Es gibt sicher noch Einheiten, die das sehr streng sehen. Andere wiederum finden das in Ordnung, solange man als Team insgesamt funktioniert. Auch das ist sehr individuell.
Wie finde ich heraus, ob eine Kanzlei menschlich zu mir passt?
So richtig merkt man das natürlich erst im Job. Aber schon vor dem Bewerbungsgespräch würde ich versuchen, möglichst viel im Internet herauszufinden. Dort findet man vieles über die Kanzlei, aber wichtiger sind die Informationen über die Menschen und die Teams. Ansonsten würde ich empfehlen, Karriere-Events zu besuchen und mit den Mitarbeitenden und Anwälten der Kanzlei zu sprechen.
Das Referendariat, eine wissenschaftliche Mitarbeit oder ein Praktikum sind sicher die besten Möglichkeiten. Auch die Kanzleien stellen am liebsten Menschen ein, die sie schon kennen. Viele verbringen die Anwalts- und die Wahlstation bei der gleichen Kanzlei. Teilweise legt jedoch sogar die Führungskraft Wert darauf, dass sich der Nachwuchs vielseitig orientiert: Mir hat einmal eine Anwältin erzählt, dass sie ihre Anwaltsstation in einer kleinen Kanzlei gemacht hat, der Chef aber unbedingt wollte, dass sie sich in der Wahlstation eine Großkanzlei anschaut. Das hat sie gemacht – und kam dann zum Berufseinstieg zur kleinen Kanzlei zurück, weil sie die berechtigte Hoffnung hatte, auch in Zukunft derart gefördert zu werden.
"Das Drumherum wird einfacher, je größer die Kanzlei ist"
Innerhalb der Kanzleiwelt gibt es große Unterschiede: Boutique, Großkanzlei, Einzelkämpfer – was passt zu mir?
In großen Kanzleien arbeitet man nicht mit 150 Leuten zusammen, sondern in Teams von üblicherweise bis zu acht Leuten, davon einem oder zwei Partnern. Insoweit unterscheidet sich das nicht so sehr von einer Boutique oder mittelgroßen Kanzlei mit 20 Berufsträgern, die in ein bis drei Teams unterteilt sind.
Aber das Drumherum wird einfacher, je größer die Kanzlei ist. Wenn zum Beispiel ein Laptop kaputtgeht, geht man in einer großen Kanzlei zur IT und hat innerhalb von 20 Minuten einen neuen. In kleineren Kanzleien dauert das länger. Insofern muss man sich die Frage stellen, was man möchte.
Wenn man mit dem Gedanken spielt, sich einmal als Anwalt selbstständig zu machen, ist es wichtig, eine Unternehmerpersönlichkeit zu entwickeln. Dazu gehören dann auch Business-Themen. Ich muss wissen, woher das Geschäft kommen soll, wie man mit externen Dienstleistern zusammenarbeitet, wie Recruiting funktioniert und wie KI die Kanzleistrategie beeinflusst. Für diese Themen sollte man jedoch auch in den großen Kanzleien neben der klassischen Anwaltstätigkeit Interesse entwickeln, wenn man weit kommen möchte.
"Nicht von großen Namen der Mandanten blenden lassen"
Nicht wenige Bewerber möchten an spannenden Mandaten mitarbeiten. Oft sind die Kanzleien aber sehr verschwiegen, was ihre Mandanten angeht. Wie komme ich trotzdem an Informationen?
Ich finde schon, dass die Kanzleien sich mehr öffnen, es gibt zum Beispiel mehr Pressemitteilungen über die großen Deals. Durch Googeln kann man viel rausfinden. Es hilft auch, sich Interviews durchzulesen oder anzuhören und zwischen den Zeilen zu horchen, was die Kanzleien erzählen. Man darf sich aber nicht so sehr von großen Namen der Mandanten blenden lassen. Nur weil man zum Beispiel eine "coole Marke" wie Apple berät, heißt das nicht automatisch, dass die rechtliche Arbeit spannender ist, als wenn die Mandantin ein mittelständisches deutsches Unternehmen ist.
Als Bewerber würde ich mich mehr auf die Rechtsgebiete fokussieren. Wenn ich mich zum Beispiel für M&A und Gesellschaftsrecht interessiere und Aktiengesellschaften zu Themen rund um die Hauptversammlung beraten möchte, hilft ein Blick in den Dax oder MDax, um einen Überblick über potenzielle Mandanten zu haben. Das Geschäft ist ein jährlich Wiederkehrendes, und im Jahr 2024 stellen sich nicht plötzlich andere Rechtsfragen als im Jahr 2023. Anders ist das zum Beispiel, wenn ich mich für Themen rund um Künstliche Intelligenz interessiere. Diese Rechtsgebiete sind sehr dynamisch – unabhängig davon, ob die Mandantin groß oder klein ist. Hier würde ich dann nach den Köpfen suchen, die diese Themen prägen und mir einen möglichst persönlichen Eindruck verschaffen.
These: Das Thema KI wird in Zukunft eine große Rolle bei der Frage spielen, für welche Kanzlei sich Bewerber entscheiden. Was meinst Du dazu?
Absolut. Die Jobumgebungen, in denen gearbeitet wird, verändern sich derzeit unterschiedlich schnell. Es gibt Kanzleien, bei denen ein KI-Tool zunehmend bestimmte Standardaufgaben übernimmt und die Anwälte nur noch die wirklich herausfordernden Aufgaben machen. Und es gibt andere Einheiten – auch außerhalb der Kanzleiwelt – die beim Thema Technologie hervorheben, dass man an zwei verschiedenen Bildschirmen arbeiten kann.
Daher wird der Tech-Stack des Arbeitgebers zunehmend ein Entscheidungskriterium bei der Jobwahl. Für Arbeitnehmer ist es wichtig, in welcher digitalen Umgebung sie arbeiten. KI ist eine Herausforderung, aber auch eine Chance. Wer gerne an den modernen Themen mitarbeiten und herausfinden will, wie Rechtsdienstleistung anders erbracht werden kann, kann sich momentan gut positionieren. Das ist auch eine interessante Möglichkeit für diejenigen, die mit dem ersten Examen bei Kanzleien einsteigen möchten.
"Es geht um Topf und Deckel"
Neben KI ist vielen Berufseinsteigern aber auch die Work-Life-Balance sehr wichtig.
Das stimmt. Gerade die Vier-Tage-Woche wird sehr nachgefragt – und viele Arbeitgeber reagieren hervorragend hierauf. Noch wichtiger, als das in Zahlen zu messen, sind aber Verlässlichkeit und Transparenz. Ich nehme mal ein extremes Beispiel: Eine Kanzlei sagt öffentlich, dass es toll ist, dass man dort bis zwei Uhr nachts arbeitet. Die Kanzlei hat sich damit im Markt so positioniert, dass sie genau die Leute anspricht, die wirklich bis nachts an Deals arbeiten möchten, denn die gibt es auch.
Was oft fehlschlägt, ist, wenn nicht transparent über die Work-Life-Balance gesprochen wird, die Vorstellungen auseinanderklaffen oder Versprechungen enttäuscht werden. Es geht also um Topf und Deckel. Es gibt Leute, die wollen sehr viel arbeiten und solche, die geregelte Arbeitszeiten bevorzugen. Es gibt aber nur ganz wenige Nachwuchsjuristen, denen es egal ist, wenn sie sich mit bestimmten Erwartungen auf etwas einlassen, dann aber konstant mehr gefordert wird, als abgemacht war. Authentizität ist auch sehr wichtig in der internen und externen Kommunikation. Denn wenn das nicht so ist, finden alle Beteiligten das früher oder später heraus.
Hast Du noch abschließende Tipps für die Berufswahl?
Ich finde es wichtig, dass der Job, für den man sich entscheidet, auch für die weiteren Menschen im Leben passt, sonst geht entweder das eine oder das andere langfristig nicht gut. Und: Man sollte keinen Job annehmen, nur weil man ihn angeboten bekommen hat, sondern nur, weil man den Job wirklich will. Ich würde mir immer mehrere Arbeitgeber anschauen, denn oft fallen erst dann die Unterschiede auf. Mit der Entscheidung sollte man sich auch möglichst langfristig wohlfühlen.
Marc Ohrendorf ist Rechtsanwalt und Direktor des Bucerius Center on the Legal Profession an der Bucerius Law School. Außerdem ist er Host des Jura-Karriere-Podcasts "Irgendwas mit Recht". Bis Dezember 2023 war er als Teamleiter Produktmanagement der LTO tätig.
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