Achtsamkeit für Anwälte

In der Stille liegt der Erfolg

Interview von Désirée BalthasarLesedauer: 6 Minuten
Ob im Unternehmen oder in Kanzleien – Führungskräfte stehen unter enormem Druck. Verwaltungsrechtler Nikolaus Birkl arbeitet neben seiner Anwaltstätigkeit auch als systemischer Coach und führt seine Kollegen auf den Pfad der Muße.

LTO: Warum definieren Anwälte sich hauptsächlich über ihren geschäftlichen Erfolg? Dr. Nikolaus Birkl: Das machen nicht nur Anwälte. Auch Ärzte oder Architekten sind typische Berufsgruppen, in denen ein großer Wettbewerbsdruck herrscht und der berufliche Erfolg über allem zu stehen scheint. Das Ego dieser Menschen wächst, wenn sie erfolgreich sind. Das Problem dabei ist, dass Erfolg etwas ist, das im 'Außen' geschieht. Das bedeutet, dass ich mich auf Dauer von der Anerkennung anderer abhängig mache, und den Erfolg brauche. Das gilt übrigens nicht nur für den Beruf, sondern kann auch auf Freizeitbeschäftigungen wie Golfen oder Segeln übertragen werden. Sich davon zu lösen, mit sich selbst angebunden zu sein, das ist der Weg ins Glück. LTO: Was bedeutet das: 'mit sich selbst angebunden' sein? Birkl: Das bedeutet, mit sich selbst in Kontakt zu kommen, also achtsam zu sein. Ich spreche nicht von der Achtsamkeit, wie sie in esoterischen Kreisen propagiert wird, sondern von einer ganz bestimmten Art, präsent zu sein. Es ist kein Zustand, in dem man ununterbrochen leben kann. Oft sind es nur wenige Momente, in denen man deutlich und klar alle seine Sinne öffnet. Diese Achtsamkeit schaltet unseren Autopiloten aus.

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Das Ruder in die Hand nehmen

LTO: Wie fühlt es sich an, wenn Sie Ihren Autopiloten ausschalten?

Birkl: Nehmen wir eine klassische Stresssituation: Auf meinem Schreibtisch liegen fünf Akten mit nahen Fristen, ich sollte eigentlich schon drei Mandanten zurückgerufen haben, meine Sekretärin tritt ins Büro und fragt mich nach meinen Hotelpräferenzen für die nächste Reise - und ich habe das Gefühl, es geht gar nichts mehr. In so einem Moment bitte ich meine Sekretärin, später wiederzukommen; ich schalte meine Telefone aus, setze mich ruhig und ganz aufrecht auf meinen Stuhl und lasse für etwa zwei Minuten die Augen halb geöffnet - während ich einfach nur still bin. Danach bin ich zumeist frisch und ausgeruht, alles wirkt wie geordnet. LTO: Also eine Art Mini-Meditation? Birkl: So könnte man es nennen. Natürlich dauert es bei manchen länger, bei einigen kürzer. Und ich kann auch nicht begründen, warum es funktioniert. Aber das tut es: Der Stress ist wie weggeblasen. Es ist für mich eine gute Methode, nicht vom äußeren Druck überrollt zu werden und das Ruder wieder selbst in die Hand zu nehmen. In meinen Seminaren gibt es immer Zeiten der Stille. Für diejenigen, die das nicht gewohnt sind, ist das anfangs sehr schwierig. Doch hinterher sagen sie, wie befreiend die Stille für sie war. Denn man darf nicht nur nichts sagen, sondern man muss es auch nicht tun.

Es gibt keine "richtigen" und "falschen" Entscheidungen

LTO: Warum benötigen ausgerechnet Führungskräfte mehr Muße? Birkl: In Unternehmen sind sie diejenigen, die mit Entscheidungen beauftragt werden. Um im alltäglichen Berufsstress noch klar denken zu können, sind Zeiten der Achtsamkeit durchaus von Vorteil. Was ich als systemischer Coach aber auch sehe, ist eine ungünstige Fehlerkultur, die in vielen Unternehmen ausgeprägt ist. Sie hindert Führungskräfte besonders daran, mit gutem Gefühl eine Entscheidung zu fällen. Denn üblicherweise geschieht das in einem Umfeld, in dem es nur 'richtig' oder 'falsch' gibt und in dem Schuldzuweisungen ausgesprochen werden. Eine Entscheidung beschreibt immer Entwicklungen in der Zukunft - doch weiß niemand, was geschehen wird. Und wenn es anders kommt, nutzt es nichts, Schuld zuzuweisen. Eher sollte man über die Geschehnisse reflektieren und neu entscheiden. Hierbei hilft auch wieder die achtsame Muße, denn sie befreit mich vom äußeren Druck. LTO: Aber zu sagen, etwas sei 'richtig' oder 'falsch' ist doch bei Juristen sehr beliebt! Birkl: Das stimmt, die juristische ist eine dualistische Wissenschaft. Es gibt wahr und falsch, gut und böse. Wenn etwas nicht richtig ist, ist es eben falsch. Es macht natürlich auch manche Dinge einfacher, denn Komplexität wird damit erheblich reduziert. Und in einem Rechtsstaat gibt es nun mal Regeln für alle, die jeweils möglichst gleiche Folgen haben sollen. Also ist diese Sichtweise an sich nicht falsch, aber – bezogen auf das Leben – zeigt sie nur die halbe Wahrheit. Denn ein Partner in einer Kanzlei ist nicht nur Jurist, sondern auch eine Persönlichkeit mit sozialen Beziehungen und Bedürfnissen im Kanzleigefüge. Anwälte sollten nicht nur nach dem Partnerschaftsvertrag agieren, sondern überlegen, was sie wirklich wollen.

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2/2 Partner führen oft mit einer 'Ich kann das'-Mentalität

LTO: Was sind die Hauptthemen der Anwaltskollegen, die zu Ihnen ins Coaching kommen? Birkl: Es sind ähnliche, wie in Unternehmen: Führung allgemein und der Mitarbeiter, Entscheidungen, Fehlerkultur und Stress. Die Besonderheit einer Kanzlei ist die, dass die Partnerrunde meist nicht sehr homogen ist. Oft besteht sie aus Alphatieren, die nach außen allein agieren mit einer 'Ich kann das'-Mentalität. Um eine Kanzlei zu führen, dafür reicht das aber nicht. Denn nach innen braucht man Teamgeist, gegenseitiges Verständnis, man muss sich gut kennen und sich gewisser Zusammenhänge bewusst werden. Zum Beispiel würde man niemanden, der sich mit Kommunikation schwer tut, mit dem Marketing beauftragen. Oder es gibt diejenigen, die sich immer in den Vordergrund spielen. Auch das tut etwas mit den anderen Partnern, doch oft spricht niemand darüber. LTO: Ist Führung innerhalb einer Partnerschaft überhaupt möglich? Birkl: Im Idealfall führt sich ein Team selbst. Doch das bedingt, dass jeder achtsam und offen für die anderen ist. Oft funktioniert es sehr gut, vor allem wenn man sich gut kennt. Störungen entstehen dann, wenn die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit oder Individualismus und Zusammengehörigkeit nicht mehr gegeben ist. Doch anstatt das offen anzusprechen, fangen die meisten an, über Gewinnverteilungen zu streiten. Sie nehmen einfach das Geld als Platzhalter, ohne die eigentlichen Probleme anzugehen. Andere suchen sich einen Sündenbock.

Ein guter Anwalt hält Distanz zur Sichtweise des Mandanten

LTO: Wie achtsam sind Sie bei Ihren Mandanten? Birkl: Wie so oft ist auch hier ein kommunikativer Dialog hilfreich. Wenn der Mandant beispielsweise verärgert ist und sich auf 'Tatsachen' beruft, die 'nun mal so passiert sind', dann weise ich ihn darauf hin, dass es auch weitere Sichtweisen für dieses Ereignis gibt. Die Distanz zur Sichtweise der Mandanten macht einen guten Anwalt aus. LTO: Zurück zur Muße. Was halten Sie von der Work-Life-Balance? Birkl: Für mich zählt vor allem das Wort 'Balance'. Hier muss sich jeder wohl fühlen. Das heißt, dass einige mehr Gewicht in die Arbeit legen, bei anderen ist es die Freizeit. Was nicht gut sein kann, ist die Erwartungshaltung, dass Anwälte jeden Tag zehn Stunden und möglichst am Wochenende arbeiten sollen. Problematisch wird es, wenn diese Selbstausbeutung belohnt wird. Wenn etwa das berufliche Vorankommen oder der Gewinnanteil an die Zeit gekoppelt wird, die gearbeitet wird. Da entstehen dann die bekannten Tricks: Ein Sakko hängen und das Licht angeschaltet lassen, um den Eindruck von Präsenz zu vermitteln. LTO: Wie leicht fällt es Juristen, um die Hilfe eines Coachs zu bitten? Birkl: Das ist in der Tat sehr schwierig für die meisten, denn sie haben gelernt, dass sie 'alles können'. Immerhin bekommen sie mit dem Examen die Befähigung zum Richteramt - das ist ein großes Wort! Also müssen sie alles können, denken sie. Und dabei haben sie so gut wie nichts über Sozialkompetenz und die Gestaltung von Beziehungen gelernt. Beim Erstkontakt im Coaching blicke ich oft in ein skeptisches Gesicht. Doch das legt sich zum Glück meistens schnell. In Teamentwicklungen, z.B. Partnerteams, oder Führungsseminaren zeigt sich zumeist nach einer kurzen Hemmschwelle viel Akzeptanz. LTO: Gibt es also Hoffnung für die Muße? Birkl: Ich wünsche mir, dass der Muße wieder ein berechtigter und angemessener Stellenwert zugesprochen wird. Das gilt auch für die Freizeit. Denn auch dort packen sich die meisten so viele Termine hinein, dass es wieder in Stress ausartet. Die gute alte Langeweile fehlt mir, sie hat so einen schlechten Ruf. Wir sollten wieder lernen, sie als eine 'lange Weile' zu genießen. Dr. Nikolaus Birkl (63) ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Partner im Münchener Büro der Kanzlei Meidert & Kollegen. Seine Spezialgebiete sind das Städtebaurecht und die Projektentwicklung. Seit neun Jahren begleitet Birkl neben seinem Anwaltsjob Führungskräfte als systemischer Coach. 2013 gründete er mit dem ehemaligen Benediktinermönch Anselm Bilgri und dem Autor und früheren Franziskaner Georg Reider die ‘Akademie der Muße‘.

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