Russland-Ukraine-Konflikt: "Die Ukraine hatte nie eine stän­dige Tra­di­tion eigener Staat­lich­keit"

Gastbeitrag von Simon Gauseweg

23.02.2022

Wladimir Putins Rede zur Unabhängigkeit von Donezk und Luhansk war historisch. Denn seine Aussagen betreffen nicht nur die Ukraine. Der russische Präsident rüttelt an den Grundfesten des Völkerrechts, sagt Simon Gauseweg.

Russland verletzt Völkerrecht – kaum ein Vorwurf fällt dieser Tage leichter als dieser. Insbesondere, da er zutrifft. Denn die am Montag medienwirksam ausgesprochene Anerkennung der separatistischen Volksrepubliken in Donezk und Luhansk verletzt die territoriale Integrität und die Souveränität der Ukraine. Bereits die Gegenwart russischer Truppen auf ukrainischem Boden ist eine völkerrechtliche Aggression. In jedem Falle wirkt der (an sich schon heftige) Vorwurf der Einmischung in innere Angelegenheiten wie eine lächerliche Untertreibung.

Eingeläutet wurde die jüngste Stufe der Eskalation des seit Jahren schwelenden Konflikts zwischen den beiden größten europäischen Staaten durch eine Fernsehansprache des russischen Präsidenten. Und die hatte es in sich. Denn der russische Präsident rüttelt an den Grundfesten des Völkerrechts selbst.

Absage an das Völkerrecht

Wladimir Putin belässt es nicht dabei, ein Sezessionsrecht der Bevölkerung von Donezk und Luhansk zu behaupten. Stattdessen bestreitet er die Eigenständigkeit des Gesamtgebildes Ukraine, wenn er behauptet, sie habe nie eine ständige Tradition eigener Staatlichkeit gehabt.

Darauf kommt es aber im Völkerrecht nicht an. Die Staaten sind gleich an Souveränität, unabhängig davon, wie lange sie existieren und welchem historischen Umstand sie ihre Existenz verdanken. Selbst eine Formulierung wie "solange ein Staat Staatlichkeit besitzt" ist problematisch. Denn selbst bei völligem Zusammenbruch der inneren Ordnung eines Staates wird dessen Fortexistenz erst einmal (und lange) vermutet. Hat ein Gebilde einmal Staatlichkeit erlangt, ist es nach geltendem Völkerrecht sehr schwer, sie ihm abzusprechen. An der Eigenstaatlichkeit der Ukraine kann man nach geltendem Völkerrecht nicht zweifeln.

Dies wischt Putin jedoch beiseite, wenn er, zusammengefasst, argumentiert, Russland habe unter der Regierung Lenins die heutige Ukraine geschaffen, sie unter Stalin reorganisiert und beherrscht, unter Chruschtschow (mit der Krim) beschenkt und schließlich unter Gorbatschow und Jelzin notgedrungen in Unabhängigkeit entlassen. Wenn nach seiner Darstellung die Ukraine nur von Russlands Gnaden existiert, mag es in der Binnenlogik dieser Argumentation nur folgerichtig sein, dass Russland nun auch über die Sezession einzelner Teile bestimmen darf. Mit dem Prinzip der souveränen Gleichheit aller Staaten ist das aber nicht vereinbar.

Russland – eine Großmacht im Großraum?

Nicht nur deutsche Völkerrechtler können sich durch Putins Gedankengänge an die Großraumtheorie von Carl Schmitt erinnert fühlen. Der sogenannte "Kronjurist des dritten Reiches" hatte ab 1936 vertreten, nicht Staaten seien die Träger der völkerrechtlichen Souveränität, sondern die von ihnen quasi losgelösten Völker. Deren Herrschaftsanspruch sah Schmitt an einen Raum gebunden, in den andere Mächte anderer Großräume nicht intervenieren dürften. Schmitt forderte damit, dass die damaligen Großmächte sich nicht in die aggressive Expansionspolitik des Dritten Reiches einmischten, damit die "politische Idee" des nationalsozialistischen Deutschlands ungehindert in den von diesem beanspruchten Großraum "ausstrahlen" konnte.

Nicht unähnlich zu Schmitt könnte man Putin so verstehen, dass er einen historischen Führungsanspruch des russischen Volkes über dessen "verwandte" Völker in seinem "Interessengebiet" behauptet. Der zwischenstaatliche Charakter der Vorgänge träte dann zurück. Im Vordergrund stünde eine Auseinandersetzung zwischen zwei im Grunde russischen Völkern; eine vermeintlich innere Angelegenheit innerhalb des geschützten "Großraumes".

Wie weit reichen Russlands Sicherheitsinteressen?

Das ist äußerst beunruhigend, da ein solcher Anspruch Russlands nicht an den Grenzen der separatistischen Regionen Donezk und Luhansk, ja nicht einmal an den Grenzen der Ukraine, Halt machte. Namentlich benennt Putin die Staaten Polen, Rumänien, Ungarn und auch Deutschland, deren Gebiete von Stalin neu zugeschnitten worden seien. Wie weit reichen dann die Sicherheitsinteressen Russlands, die Putin schützen will? Zu Oder und Neiße? Zum Rhein? Gar zum Atlantik?

Auch in den baltischen Staaten dürfte man eine solche historische und auf ein historisches Russland bezogene Auffassung mit Sorge betrachten. Estland, Lettland und Litauen wurden erst nach dem ersten Weltkrieg für kurze Zeit vom damaligen Russischen Kaiserreich unabhängig, bevor sie 1940 von der Sowjetunion annektiert und bis 1991 als Sozialistische Sowjetrepubliken in der Union gehalten wurden. Zwar ist die Geschichte Russlands mit dem Baltikum nicht ganz so eng verknüpft wie mit Kiew und der Krim. Doch das "Argument" der historischen Herrschaft klingt mindestens übertragbar. Mit der Folge, dass sich letztlich alle ehemaligen Unionsrepubliken (erneut) fragen müssen, wie Russland es mit ihrer Souveränität hält.

Auch China argumentiert historisch

Der historisch begründete Herrschaftsanspruch Russlands über die Ukraine weckt eine zweite Assoziation. Denn ähnlich argumentiert China zum südchinesischen Meer. China macht hier Ansprüche geltend, die nach geltendem Seevölkerrecht exzessiv sind. Als Begründung dienen historische Seekarten und damit verbundene Erzählungen früherer Herrschaft.

Noch deutlicher wird die Parallele, betrachtet man das Verhältnis der Volksrepublik China zu Taiwan. Einen Einmarsch der Volksbefreiungsarmee in Taiwan würde Peking wohl als innere Angelegenheit betrachten, aus der andere Staaten sich herauszuhalten hätten. Für das chinesische Festland ist die Insel ideologisch prägend. Und die Bevölkerungen sind durch die gemeinsame Geschichte eng verbunden.

Mehr als nur Zwischentöne

Die Rede des russischen Präsidenten enthält also im wahrsten Sinne des Wortes völkerrechtlichen Sprengstoff. Zwar bediente Wladimir Putin auch eine ganze Reihe westlicher Argumentationsmuster zur Rechtfertigung von Interventionen. Anspielungen auf humanitäre Interventionen, Sezessionsrecht wegen Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker, Anerkennung und Intervention auf Einladung oder der Umgang mit sog. failed states lassen sich finden. Hier muss sich die Machtpolitik des Westens durchaus vorwerfen lassen, äußerst gefährliche Präzedenzfälle geschaffen zu haben, auf die Putin sich argumentativ beziehen kann, zum Beispiel in Afghanistan, im Kosovo, in Libyen oder in Somalia.

Mehr als nur Zwischentöne sind aber die Absagen Putins an die Souveränität der Ukraine und letztlich aller ehemaliger Unionsrepubliken.  

Eine Völkerrechtsordnung, die auf der souveränen Gleichheit der Staaten gründet, respektiert aber nicht nur die Sicherheitsinteressen eines Staates, sondern auch die seiner Nachbarn. Das gilt gerade dann, wenn man sich dem Nachbarland familiär verbunden fühlt, etwa aufgrund geteilter Geschichte.

Man mag verstehen, dass es Russland tief besorgt, wenn ehemalige Verbündete aus Zeiten von Sowjetunion und Warschauer Pakt nun unter der Flagge des Gegners im Kalten Krieg eine neue Heimat suchen. Man mag auch verstehen, dass dies als Ausverkauf, ja "Raub Russlands" (Putin) empfunden wird. Eine militärische Übernahme dieser "Interessensgebiete" rechtfertigt das jedoch nicht.

Der Autor Simon Gauseweg ist akademischer Mitarbeiter an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) am Lehrstuhl für Öffentliches Recht insbesondere Völkerrecht, Europarecht und ausländisches Verfassungsrecht.

 

Zitiervorschlag

Russland-Ukraine-Konflikt: "Die Ukraine hatte nie eine ständige Tradition eigener Staatlichkeit" . In: Legal Tribune Online, 23.02.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47622/ (abgerufen am: 29.03.2024 )

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