"Viele Juristen zweifeln oder haben Zukunftsängste"
LTO: Frau Boetzkes, viele Juristen sind klassische Einzelkämpfer. Das fällt schon früh im Studium auf, wenn manche Studierende während der Hausarbeitszeit Kommentare in der Bibliothek verstecken. Woran kann das liegen?
Dr. Marie-Theres Boetzkes: Darf ich vielleicht direkt eine Gegenfrage stellen?
Natürlich.
Können wir uns duzen? Ich sieze fast niemanden.
Gerne. Also, wieso sind viele Juristen aus Deiner Sicht solche Einzelkämpfer?
Das Studium trägt auf jeden Fall seinen Teil dazu bei. Es gibt keinen gruppenbasierten Unterricht. Auch der wahnsinnige Leistungsdruck ist entscheidend. Es geht nicht darum, im Team eine Lösung zu erarbeiten, sondern allein besser zu sein als Mitstudierende. Dadurch wird Abneigung gegenüber Gruppenarbeit gefördert und ein Austausch mit anderen ab dem ersten Semester im Keim erstickt.
Juristen müssen außerdem jahrelang umfassend juristische Feinheiten erlernen. Das führt dazu, dass man kaum die Chance hat, herauszufinden, was einem eigentlich liegt und seine Fähigkeiten darin zu vertiefen. Man ist von der Masse an Stoff so überfordert, dass das Erlernen von Soft Skills wie Teamfähigkeit gar keinen Platz hat.
Im Berufsleben sieht es oft nicht anders aus. Es gibt viele juristische Berufe, wie das Richteramt oder die selbstständige Tätigkeit als Anwalt oder Anwältin, die darauf ausgelegt sind, allein zu arbeiten.
Was muss sich aus Deiner Sicht an der juristischen Ausbildung ändern, damit mehr Teamfähigkeit etabliert wird?
Ich würde mir wünschen, dass mehr Leistungen im Team erbracht werden müssen. Es gibt zwar mit Moot Courts oder Model United Nations (eine internationale Simulation von UN-Verhandlungen) Projekte, durch die man lernt, juristische Fragen im Team zu bewältigen und sich in eine Gruppe einzugliedern. Das sind aber Zusatzangebote, die vor allem diejenigen wahrnehmen, die der Teamarbeit gegenüber nicht abgeneigt sind. Aber es sollte mehr verpflichtende Kurse geben.
"Schwarmwissen der Gemeinschaft eröffnet Möglichkeiten"
Du sagst, wir brauchen mehr juristische "Communities". Was versprichst Du Dir davon?
In meiner Arbeit mit Gruppen aus Jurist:innen beobachte ich vor allem drei Aspekte:
Erstens eröffnet das Schwarmwissen der Gemeinschaft ganz andere Möglichkeiten. Wenn sich jemand beruflich in eine bestimmte Richtung entwickeln will, aber nicht weiß, wo er anfangen kann, hilft es, mit anderen Menschen zu sprechen, die den gleichen Weg gehen wollen oder schon gegangen sind.
Das spart – zweitens – auch Lebenszeit, in der man ansonsten allein online recherchiert hätte. Und bei einer Solo-Recherche wird man sich nie so viel Wissen aneignen können, wie beim Austausch mit anderen.
Der dritte Punkt ist der Herdengedanke. Wer sich mit Menschen umgibt, die das gleiche Ziel verfolgen und sich gegenseitig Mut zusprechen, dem fällt es leichter, auch sein eigenes Ziel umzusetzen. Eine Gemeinschaft verleiht einfach mehr Durchhaltevermögen und Kraft.
"Eine Community ist fokussierter und nischiger als ein Netzwerk"
Was verstehst Du unter einer juristischen Community? Wie unterscheidet sie sich von einem beruflichen Netzwerk?
Beim Netzwerken verbinden sich Menschen mit ähnlichen Interessen, die in einem beruflichen Kontext voneinander profitieren.
Eine Community geht über ein Netzwerk hinaus. Sie ist verbundener und will sich gegenseitig unterstützen. Außerdem gibt es konkretere Aufhänger, zum Beispiel Fragen nach Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder dem Aufbau der eigenen Kanzlei. Die Community ist fokussierter, spezieller und nischiger als das Netzwerk. Die Mitglieder einer Community treffen sich regelmäßig und bieten einen Raum, in dem man Herausforderungen teilen und Lösungen finden kann.
Wie findet man solche Communities?
Das kommt auf das Thema an. Im Berufsleben gibt es Plattformen und Netzwerke in verschiedenen Bereichen. Einige Netzwerke wenden sich etwa an Frauen in der Rechtsbranche, vermitteln Mentorinnen und organisieren Stammtische. Gerade die führen zu einer über das Netzwerk hinausgehenden Community. Ich bin zum Beispiel großer Fan von "Legally Female". Man kann aber auch selbst aktiv werden und auf der Arbeit oder bei LinkedIn suchen oder selbst gründen.
"Mit Fremden über berufliche Herausforderungen sprechen, kann leichter sein"
Aber ist es nicht unangenehm, Fremden gegenüber von beruflichen Herausforderungen zu berichten und sich verletzlich zu zeigen?
Nein, gar nicht. Oft reicht schon der nonverbale Aspekt, dass alle wissen, dass sie im selben Boot sitzen und nicht allein sind. Teil einer Gruppe zu sein, holt raus aus der Vereinzelung.
Auch fällt es manchmal leichter, mit vorerst Fremden seine beruflichen Herausforderungen zu teilen. Man ist dabei ein unbeschriebenes Blatt und niemand hat eine Erwartungshaltung – auch man selbst nicht.
Was können Menschen tun, die Teil einer juristischen Community sein wollen, sich aber nicht trauen, etwas von sich preiszugeben?
Da fehlt es oft am Mut. Wahrscheinlich, weil diese Menschen in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht haben, wenn sie etwas über sich preisgegeben haben. Sie wurden nicht ernst genommen.
Mein Tipp ist, immer nach geschützten Räumen zu suchen. Man muss mit Menschen sprechen, die zugewandt sind und sich in ähnlichen Situationen befinden.
Dann sollte man es erstmal langsam angehen, man muss nicht über alles sprechen, was einen bewegt. Wenn man dann eine erste positive Erfahrung macht, gleicht das die frühere negative aus. Man muss nichts überstürzen und darf geduldig mit sich sein.
"Viele Juristen zweifeln oder haben Zukunftsängste"
Manchmal weiß man nicht, dass andere Juristen und Juristinnen ähnliche Fragen oder Ängste haben. Was sind populäre Themen?
Ich stoße in der juristischen Arbeitswelt immer wieder auf zwei Themen.
Einerseits gibt es eine große berufliche Unsicherheit. Das kenne ich auch von mir selbst. Viele Juristen zweifeln, ob der gewählte Beruf der richtige ist. Sie haben auch Fragen zum Umgang mit Leistungsdruck und Perfektionismus in der Branche oder finden die juristischen Inhalte nicht spannend genug. Das schafft Unzufriedenheit. Manche streben auch nach mehr Sinnhaftigkeit.
Auf der anderen Seite gibt es viele Zukunftsängste, denn auch die juristische Branche verändert sich – Stichwort Legal Tech. Viele fragen sich, wie zukunftsträchtig ihr Beruf ist und wann die KI übernimmt.
Und wie hilft eine juristische Community bei diesen Ängsten?
Solche Themen sind oft mit Scham belegt. Schließlich hat man den Beruf selbst gewählt. Gleichgesinnte zu finden, hilft dabei, die eigenen Ängste zu akzeptieren und die Perspektive zu wechseln. Wenn "Angst" davor, montags wieder im Büro aufzukreuzen als negativ aufgefasst wurde, setzt der Austausch mit anderen den richtigen Impuls, sich neu zu orientieren, sodass aus der "Angst" etwas Positives erwächst.
Ganz wichtig ist dafür, dass die Community einen geschützten Raum bietet. Nur bei einer guten Vertrauensbasis kann man sich öffnen. Auch in Lerngruppen im Studium traut man sich eher, die Fragen zu stellen, die einem im Repetitorium peinlich sind.
Weg von Perfektionismus, hin zu gelebter Fehlerkultur
Welche Rolle spielt eine gute Fehlerkultur?
Wer Fehler zugibt, macht sich angreifbar. Aber nur das führt dazu, dass Fehler ausgemerzt werden und die Person wachsen kann. Wer Fehler zugibt, wird auch nahbar und authentisch.
In letzter Zeit ist immer mehr zu beobachten, dass auf professionellen Plattformen nicht nur Erfolge, sondern auch Misserfolge geteilt werden. Und zwar mit positiver Resonanz. Davon können alle lernen, anstatt sich schlecht zu fühlen, weil sie selbst das Bild des vermeintlich fehlerlosen, erfolgreichen Juristen nicht erfüllen.
Wer kleiner anfangen möchte, kann einen Fehler erstmal in seiner Community teilen und mit Sicherheit ist anderen schon Ähnliches passiert. Das führt dann wieder dazu, dass man sich mit seinem Fehler nicht allein fühlt und aufhört, sich zu schämen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Dr. Marie-Theres ("Maresi") Boetzkes war Anwältin in verschiedenen Kanzleien. Jetzt arbeitet sie als Coach für Juristinnen und Juristen. Mit ihrem Gruppenkurs "Mit Jura kannst Du alles machen", der wieder am 25. April 2025 startet, unterstützt sie bei beruflichen Veränderungen.
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2025 M03 6
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