Die juristische Presseschau vom 29. September 2020: Weniger Zivil­ver­fahren / Klage gegen Luft­hansa / Auf­schub für TikTok

29.09.2020

Eine Studie des BMJV soll den Rückgang der Zivilverfahren erklären. Die Verbraucherzentrale Baden-Württemberg verklagt Lufthansa wegen schleppender Erstattung von Flugtickets. TikTok darf in den USA zunächst weiter heruntergeladen werden.

Thema des Tages

Weniger Zivilverfahren: Die Anzahl der erstinstanzlichen Zivilverfahren in Deutschland sinkt kontinuierlich – von 1997 bis 2017 um 44,4 Prozent bei den Amtsgerichten und um 27,2 Prozent bei den Landgerichten. Das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz hat nach Meldung von LTO nun eine Untersuchung in Auftrag gegeben, die die Ursachen dieser Entwicklung erforschen soll. Beauftragt wurde das Beratungsunternehmen Interval GmbH, das die Untersuchung zusammen mit den Rechtsprofessoren Caroline Meller-Hannich und Armin Höland sowie der früheren Präsidentin des Kammergerichts, Monika Nöhre, durchführen wird. 

Rechtspolitik

Justiz und Weisungsrecht: Der Deutsche Richterbund fordert nach Meldung von LTO die Abschaffung des Weisungsrechts von Landesjustizministern gegenüber Staatsanwälten. Allein der böse Anschein, dass die Minister Ermittlungen in die eine oder andere Richtung lenken könnten, beschädige das Vertrauen in die Unabhängigkeit der Strafjustiz. Hintergrund ist die Kritik der Europäischen Kommission an der deutschen Rechtslage. 

Baugebot: Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) hat in einem Brief an Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) eine Novelle des Baugesetzbuches als unzureichend kritisiert, derzufolge Grundstückeigentümer in Gebieten mit angespanntem Wohnungsmarkt zur Bebauung verpflichtet werden können. Palmer moniert laut Welt (Michael Fabricius) eine Ausnahmeregelung für Familien, nach der Eigentümer ein leeres Grundstück so lange unbebaut lassen dürfen, bis ihre Kinder alt genug sind, es selbst zu bebauen. Ein solches "Familienprivileg" sei zu weitreichend und werde dem akuten Wohnungsmangel in Tübingen nicht gerecht.

Suizidhilfe: Über die geplante Änderung der Musterberufsordnung für Ärzte in Reaktion auf die Aufhebung des § 217 Strafgesetzbuch (Verbot der geschäftsmäßigen Förderung von Suizidhilfe) durch das Bundesverfassungsgericht berichtet nun auch LTO. Denkbar sei es, dass der Satz "Ärzte dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten“ beim nächsten Ärztetag im Mai ersatzlos gestrichen werde. 

Fleischindustrie und Werkverträge: deutschlandfunk.de (Manfred Götzke/Peggy Fiebig) beschäftigt sich mit dem Gesetzentwurf zum Verbot von Werkverträgen und Leiharbeit in der Fleischindustrie, welches ab kommendem Jahr greifen soll. Problematisch sei etwa die Ausnahmeregelung für Schlachtbetriebe mit weniger als 50 Beschäftigten. Durch Neugründungen von Tochterunternehmen könnte so das drohende Werkvertragsverbot umgangen werden. 

Justiz

LG Köln – Lufthansa: Die Verbraucherzentrale Baden-Württemberg hat angekündigt, die Fluggesellschaft Lufthansa vor dem Landgericht Köln wegen nicht zurückerstatteter Flugtickets zu verklagen. Dies berichten u.a. FAZ (Tim Kotowski), Hbl (Dietmar Neuerer) und spiegel.de. Lufthansa habe die gesetzlichen Informationspflichten für Verbraucher verletzt und Rückzahlungen "verschleppt." Hintergrund sind eine Vielzahl von Stornierungen wegen der Corona-Pandemie.

BGH zu LKW-Kartell: Das letzte Woche ergangene Urteil des Bundesgerichtshofes zum LKW-Kartell erläutert Rechtsanwalt Lars Maritzen auf LTO. Es ging um die Fahrzeugbauer MAN, Daimler, Volvo/Renault, DAF und Iveco/Fiat, denen kartellrechtswidrige Abstimmungen vorgeworfen wurden. Die Kläger, die zwischen 1997 und 2011 LKW der betreffenden Unternehmen erworben bzw. geleast hatten, verlangten das überhöhte Entgelt im Wege des Schadensersatzes zurück. Der BGH gab der Revision der beklagten Fahrzeugbauer statt, hob das Urteil der Vorinstanz (Oberlandesgericht Stuttgart) auf und verwies zur erneuten Entscheidung zurück. Dennoch gebe die Entscheidung den Geschädigten "Rückenwind", weil der BGH wohl den Erfahrungssatz bestätige, dass ein Kartell zu überhöhten Preisen führt. 

BGH zu Bild-Berichterstattung: Die Bild-Zeitung durfte über das Scheidungsverfahren der Comedian Anke Engelke berichten – die Veröffentlichung von Fotos jedoch, die sie auf dem Weg zum Amtsgericht zeigten, war unzulässig. Rechtsanwalt Martin W. Huff erklärt auf LTO, dass der Bundesgerichtshof mit dieser Entscheidung erstmals eine sehr umfangreiche Prüfung des Begriffes der "Zeitgeschichte" angestellt habe. Bei den Bildern handele es sich nicht um Fotos aus dem Bereich der Zeitgeschichte, da sie der Privatsphäre zuzuordnen seien und ihre Aussagekraft relativ gering sei.

BVerwG zu Streckenradar: Das Bundesverwaltungsgericht hat den bundesweit ersten Streckenradar gebilligt, welcher per Kennzeichenerfassung eine Geschwindigkeitskontrolle über zwei Kilometer ermöglicht, meldet LTO. Damit hielt es die Entscheidung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht aufrecht, indem es den Antrag auf Zulassung zur Revision abwies. Der klagende Anwalt hatte datenschutzrechtliche Bedenken vorgebracht, da die Kennzeichenerfassung in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung eingreife.

EuGH – Runfunkbeitrag und Barzahlung: Die Frage, ob der Rundfunkbeitrag auch in bar gezahlt werden kann, beschäftigt den Europäischen Gerichtshof auf Vorlage des Bundesverwaltungsgerichts. Die SZ (Wolfgang Janisch) erklärt, dass nach deutschem Recht unzweifelhaft in bar gezahlt werden dürfe, wohingegen das europäische Recht nicht eindeutig sei. Der Generalanwalt legt sein Gutachten an diesem Dienstag vor, ein Urteil des EuGH sei in einigen Monaten zu erwarten. 

EuGH – Links: Auf dem Verfassungsblog bespricht Julia Reda ein anstehendes Urteil des Europäischen Gerichtshof auf ein Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshofes zu verschiedenen Verlinkungstechniken und ihrer urheberrechtlichen Zulässigkeit. Es gehe um die Frage, ob das Framing von Werken, die unter Zustimmung der Rechteinhaber veröffentlicht wurden, dann eine öffentliche Wiedergabe darstellt, wenn die Rechteinhaber technische Schutzmaßnahmen gegen Framing einsetzen.

OLG Frankfurt/M. – Mord an Walter Lübcke: Der Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags zum Fall Lübcke wird die Prozessakten der Verhandlung vor dem Oberlandesgericht Frankfurt/M. erst nach dessen Ende erhalten. Das Gericht begründete diese Entscheidung damit, dass die Wahrheitsermittlung durch das Gericht gefährdet werden könne, wenn der Untersuchungsausschuss die Akten schon während der laufenden Beweisaufnahme erhalte. Es berichtet LTO

LG München II – Ex-Audi-Chef Stadler: Vor dem Beginn des Strafprozesses gegen den Ex-Vorstandschef von Audi, Rupert Stadler, bemängelt Volker Votsmeier im Hbl die mangelhafte Ausstattung der Justiz. Trotzdem ließen sich viele Ermittler in ihrer Arbeit nicht bremsen, auch wenn die Aufarbeitung wie im Fall des Dieselbetrugs äußerst mühselig und langwierig sei.

LG Wiesbaden – Cum-Ex/Hanno Berger: Das Hbl (René Bender/Volker Votsmeier) gibt einen Ausblick auf den Prozess vor dem Landgericht Wiesbaden gegen sechs Beschuldigte wegen des Cum-Ex-Skandals. Der Hauptangeklagte Hanno Berger befinde sich in der Schweiz und mache eine Verhandlungsunfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen geltend, weshalb das Gericht eine Untersuchung durch einen deutschen Arzt gefordert habe. 

VG Potsdam – Hohenzollern: Der Bundestagsabgeordnete Erhard Grundl (Grüne) äußert in der FAZ die Überzeugung, die Ersatzforderungen der Familie Hohenzollern für Enteignungen unter sowjetischer Besatzung zwischen den Jahren 1945 und 1949 seien unbegründet. Grund hierfür sei die sogenannte "Unwürdigkeitsklausel" im Ausgleichsleistungsgesetz von 1994, wonach solche Personen von Zahlungen ausgeschlossen sind, die dem nationalsozialistischen oder dem kommunistischen System Vorschub geleistet hatten. Der damalige Kronprinz Wilhelm von Preußen habe dies unzweifelhaft getan. 

Justiz und Pressearbeit: Im Interview mit beck-aktuell spricht Rechtsanwalt Till Dunckel über die rechtlichen Grenzen der Pressearbeit der Staatsanwaltschaften. Es fehlten klare gesetzliche Leitplanken und häufig auch die notwendige Distanz der Pressesprecher gegenüber den Journalisten, mit denen sie teilweise täglich kommunizierten. Die Pressearbeit lasse oft die gebotene Sensibilität vermissen. Sie könne für die Beschuldigten selbst dann lebenslange Konsequenzen haben, wenn der anfängliche Verdacht während des weiteren Verfahrens ausgeräumt werde.

Recht in der Welt

USA – TikTok: Ein US-Bundesrichter in Washington hat mit einer einstweiligen Verfügung das Verbot des Herunterladens der App TikTok vorläufig außer Kraft gesetzt. Dies melden u.a. FAZ (Roland Lindner), Hbl (Alexander Demling) und spiegel.de. US-Präsident Trump hatte das geplante Verbot der Plattform damit begründet, dass Nutzerdaten von US-Amerikanern über das chinesische Unternehmen in die Hände der Kommunistischen Partei der Volksrepublik gelangen könnten.

USA – Bader Ginsburg-Nachfolge: Amy Coney Barrett, die nominierte Kandidatin für die Nachfolge der verstorbenen Ruth Bader Ginsburg am US-Supreme-Court, wird von Rechtsreferendar Orhan Bayrak im FAZ-Einspruch portraitiert. Dabei erinnert er auch daran, dass Präsident Trump bereits 200 Bundesrichter ernannt hat, davon 50 an Berufungsgerichten. Da nur eine geringe Anzahl an Fällen überhaupt an den Supreme Court gelangten, würden diese Berufungsgerichte in der weit überwiegenden Zahl der Fälle das letzte Wort sprechen.

Mit einer möglichen Begrenzung der Amtszeit für Richter des US-Supreme-Courts befasst sich der emeritierte amerikanische Rechtsprofessor Mark Tushnet auf dem Verfassungsblog (in englischer Sprache). Sie sei zwar verfassungsrechtlich zulässig, jedoch in politischer Hinsicht unwahrscheinlich: Denn aus der Einführung begrenzter Amtszeiten ergebe sich kein unmittelbarer politischer Vorteil für die politischen Entscheidungsträger. 

Spanien – Katalanischer Regierungschef: Der Oberste Gerichtshof in Spanien hat den katalanischen Regierungschef, Quim Torra, des Amtes enthoben. Hintergrund war seine Weigerung, im Vorfeld der Parlamentswahlen im April 2019 die gelben Schleifen, das Symbol der katalanischen Separatisten, von öffentlichen Gebäuden abzunehmen. Die spanische Wahlkommission hatte dadurch die Neutralität der Wahl beeinträchtigt gesehen, berichten SZ (Karin Janker), FAZ (Hans-Christian Rössler) und taz (Rainer Wandler)

Frankreich – Demonstrationen und Presse: Die FAZ (Jürg Altwegg) berichtet über ein Reglement des französischen Innenministers, das die Berichterstattung von Journalisten über Demonstrationen erschweren werde. So solle als Journalist nur gelten, wer einen Presseausweis habe, überdies müssten sich bei der Auflösung einer "Zusammenrottung" auch die Journalisten einer entsprechenden Aufforderung fügen. Journalistenverbände kritisierten die Regelung. 

Türkei – Khashoggi-Prozess: Knapp zwei Jahre nach dem Mord an dem saudi-arabischen Journalisten Jamal Khashoggi hat die türkische Staatsanwaltschaft eine zweite Anklageschrift vorgelegt, meldet LTO. Darin werde lebenslange Haft für zwei von insgesamt sechs angeklagten saudischen Staatsbürgern gefordert. Auch in Saudi-Arabien war es zu einem Prozess wegen der Tötung von Khashoggi gekommen. 

Sonstiges

Meinungsfreiheit und Twitter: Im Tsp warnt Jost Müller-Neuhof vor den scharfen Reaktionen, mit denen die Netzgemeinde auf kontroverse Äußerungen von Politikern und anderen Prominenten reagiere. Auch wenn diese manchmal kritikwürdig seien, so werde im Netz doch in undifferenzierter Weise "regelmäßig die Höchststrafe verhängt: Ausschluss und Isolation."

 

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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/mps

(Hinweis für Journalisten)   

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 29. September 2020: Weniger Zivilverfahren / Klage gegen Lufthansa / Aufschub für TikTok . In: Legal Tribune Online, 29.09.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42941/ (abgerufen am: 10.05.2024 )

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