Die juristische Presseschau vom 12. Juli 2023: BVerfG zu Cannabis / Besch­leu­nigt gegen Kli­mak­leber? / EGMR zu Caster Semenya

12.07.2023

Das BVerfG lehnte Richtervorlagen ab, die auf die Legalisierung von Cannabis abzielten. Ein Versuch, Berliner Klimaproteste im beschleunigten Verfahren abzuurteilen, scheiterte. Die Läuferin Caster Semenya siegte am EGMR in Straßburg.

Thema des Tages

BVerfG zu Cannabis: Das Bundesverfassungsgericht hat 13 Richtervorlagen der Amtsgerichte Bernau, Pasewalk und Münster zur Strafbarkeit von Cannabis als unzulässig verworfen. Die Vorlagen hätten keine neue Sach- oder Rechtslage aufgezeigt, die nach der Cannabis-Entscheidung des BVerfG von 1994 eine erneute Befassung des Gerichts erforderlich macht. "Liberalisierungstendenzen in anderen Staaten" seien nicht ausreichend. Das BVerfG betonte, dass es Aufgabe des Gesetzgebers sei, "Strafnormen gesellschaftlichen Entwicklungen anzupassen". Ein "Recht auf Rausch" aus Art. 2 Abs. 1 GG gehöre jedenfalls nicht zum abwägungsfesten "Kernbereich privater Lebensgestaltung". Über die nun veröffentlichten Beschlüsse von Mitte Juni schreiben taz (Christian Rath), LTO (Hasso Suliak) und tagesschau.de (Gigi Deppe).

Nach Meinung von Hasso Suliak (LTO) werden die Beschlüsse "von einer bemerkenswert tiefen Ablehnung der Kammer gegenüber einer liberalen Cannabispolitik getragen." Zweifel am Sinn der geltenden Prohibitionspolitik seien nicht erkennbar. Dies wirke über die konkreten Fälle hinaus "vielleicht auch unbeabsichtigt" als "unmissverständliches politisches Signal" an die aktuellen Legalisierungsversuche. So bleibe das Gericht in den 1990er-Jahren hängen.

Cannabis: Frederik Schindler (welt.de) kritisiert den jüngst von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) vorgelegten Referentenentwurf für ein Cannabisgesetz als unambitioniert und zu restrikitiv. Die offensichtlich beliebig gezogene Grenze des legalen Besitzes von maximal 25 Gramm Cannabis erweitere lediglich die schon jetzt der Strafverfolgung entzogene "geringe Menge." Daneben ließen die extrem kleinteiligen Regelungen zu Abstandsgrenzen oder Sicherheitsvorkehrungen bezüglich des eigenen Anbaus erwarten, dass sich der erhoffte Entlastungseffekt für die Strafjustiz nicht einstelle.

Rechtspolitik

Datenschutz/Datentransfers: Nun berichtet auch LTO über den Angemessenheitsbeschluss der EU-Kommission zum neuen Datenschutzrahmen der USA (Data Protection Framework) für den Umgang mit Daten von EU-Bürger:innen sowie die vom Aktivisten Max Schrems bereits angekündigte Klage hiergegen.

Alexander Fanta (netzpolitik.org) beklagt, dass EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den USA erneut einen "Blankoscheck" ausgestellt hat. Dass sie kein grundsätzliches Verbot der US-Massenüberwachung durchsetzte, dürfte angesichts der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs zu den Vorgänger-Arrangements Safe Harbor und Privacy Shield erneut zu einem Scheitern führen.

Politikerhaftung: Aus Anlass der Diskussion über eine Haftung des früheren Bundesverkehrsministers Andreas Scheuer (CSU) für die finanziellen Folgen der gescheiteren PKW-Maut-Einführung untersucht Rechtsprofessor Jörg Philipp Terhechte im FAZ-Einspruch mögliche Modelle. Der aktuelle Fall zeige die Notwendigkeit, eine "rechtsstaatlich angemessene Weiterentwicklung des verkrusteten deutschen Staatshaftungsrechts" voranzutreiben.

Justizsenatorin Badenberg: In einem Interview mit der FAZ (Markus Wehner) spricht die Berliner Justizsenatorin Felor Badenberg (parteilos) über ihren beruflichen und persönlichen Werdegang, ihre Meinung zur "Letzten Generation" und Ansatzpunkte für den Kampf gegen die sogenannte Clankriminalität. Durch verbesserte personelle Ausstattung sollen Staatsanwaltschaften in der Hauptstadt die Möglichkeit bekommen, Vermögenswerte von Beschuldigten einzufrieren und nach gerichtlicher Bestätigung auch einzuziehen.

Justiz

AG Berlin-Tiergarten zu Klimaprotest: Am Berliner Amtsgericht Tiergarten ist ein Strafverfahren gegen ein Mitglied der "Letzten Generation" aus dem beschleunigten Verfahren in das reguläre Hauptverfahren überführt worden. Bereits die Vernehmung eines Polizeizeugen hat ergeben, dass die nach § 417 Strafprozessordnung erforderliche "klare Beweislage" nicht bestehe. spiegel.de (Wiebke Ramm) und LTO berichten.

Strafverteidiger Stefan König unternimmt im Verfassungsblog eine Grundsatzkritik des Instruments des beschleunigten Verfahrens. Die mit seiner Einführung verbundene Hoffnung auf eine Entlastung der Strafjustiz habe sich nicht erfüllt. Dies dürfte auch daran liegen, dass Staatsanwaltschaften und Gerichte noch immer die Überzeugung hätten, "dass ein Strafverfahren keine Schießbudenveranstaltung werden darf". Gänzlich ungeeignet seien beschleunigte Verfahren jedenfalls für die rechtlich umstrittenen Bewertungen der Aktionen etwa der "Letzten Generation". Die in Berlin geschaffene Sonderzuständigkeit neuer Abteilungen sei im Hinblick auf den Anspruch auf den gesetzlichen Richter problematisch.

BGH zu Cum-Ex/Warburg/Deutsche Bank: Der Bundesgerichtshof hat bereits in der vergangenen Woche eine Beschwerde der Warburg-Bank gegen die Nichtzulassung einer Revision gegen eine Entscheidung des Landgerichts Frankfurt/M. abgewiesen. Dort hatte die Privatbank erfolglos versucht, die Deutsche Bank zumindest teilweise wegen Cum-Ex-bedingter Steuerschulden in Regress zu nehmen. Dies berichtet Bloomberg (Karin Matussek) (in englischer Sprache).

BAG zu Leiharbeit: Rechtsanwalt Alexander von Saenger stellt im Recht und Steuern-Teil der FAZ die Ende Mai verkündete Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vor, nach der Leiharbeitsverhältnisse geringer entlohnt werden dürfen als Arbeitsverhältnisse der Stammbelegschaft. Das Urteil schaffe "Rechtssicherheit". Dies sei umso erfreulicher, als "Leiharbeit aufgrund des Fachkräftemangels weiter an Bedeutung gewinnen" werde.

OLG München zu Ex-Wirecard-Chef Braun: Die SZ (Klaus Ott/Stephan Radomsky) berichtet über eine "bisher öffentlich kaum bekannte" Entscheidung des Oberlandesgerichts München, das im Januar einen sogenannten Vermögensarrest in Höhe von 35 Millionen Euro zuungunsten des früheren Wirecard-Chefs Markus Braun als rechtmäßig erkannte. In dieser Höhe hatte Braun seinem ehemaligen Mitstreiter Jan Marsalek ein Privatdarlehen gewährt. Michael Jaffe, der Insolvenzverwalter von Wirecard, geht davon aus, dass die Summe aus dem Unternehmen stammt. In eidesstattlichen Versicherungen hatte Braun behauptet, von möglichen Verquickungen keine Ahnung gehabt zu haben. Diese Argumentation sei vom OLG nun aber als "schlicht lebensfremd und damit unglaubwürdig" verworfen worden. Gegen die OLG-Entscheidung hat Braun nun auch Verfassungsbeschwerde erhoben.

OLG Frankfurt/M. – rechtsextreme Polizistenchatgruppe: Nach Beschwerde der Generalstaatsanwaltschaft prüft das Oberlandesgericht Frankfurt/M., ob sich aus den rechtsextremen Inhalten einer Chatgruppe Frankfurter Polizisten ein für eine Anklage ausreichender hinreichender Tatverdacht ergibt. Das Landgericht hatte dies mit der Begründung verneint, dass es sich um eine geschlossen Chatgruppe handelte und daher keine "Verbreitung" von rechtsextremen Inhalten vorliegen könne. LTO berichtet.

LG Berlin/LG Hamburg zu Julian Reichelt: In ihrem Medien-Teil schreibt die FAZ (Michael Hanfeld) über zwei gerichtliche Niederlagen des früheren Bild-Chefs Julian Reichelt in dessen Auseinandersetzungen mit dem Verleger der Berliner Zeitung, Holger Friedrich. Das Landgericht Berlin habe Anfang Juni einen Unterlassungsantrag Reichelts zurückgewiesen und hierbei festgestellt, dass er sich nicht auf einen presserechtlichen Informanentschutz berufen könne. In Ermangelung einer vertraglichen Vereinbarung sei Friedrich nicht zu Quellenschutz und Geheimhaltung verpflichtet gewesen, so das LG Berlin. Das Landgericht Hamburg habe derweil Reichelts Antrag auf eine einstweilige Verfügung zurückgewiesen. Mit dieser sollte dem Verleger die Behauptung untersagt werden, bei den von Reichelt zur Verfügung gestellten Chatverläufen habe es sich um "Vorstandskommunikation" gehandelt.

LG Köln zu Missbrauch durch Priester: zeit.de (Georg Löwisch) interviewt Rechtsanwalt Eberhard Luetjohann. Der 85-Jährige hatte das vor einem Monat verkündete Urteil des Landgerichts Köln erstritten, in dem das Erzbistum Köln zur Zahlung von 300.000 Euro Schadensersatz an ein Missbrauchsopfer verurteilt wurde. Luetjohann werde nun laufend von weiteren Betroffenen kontaktiert und wolle noch in dieser Woche die Forderung einer 56-jährigen Frau anhängig machen.

LG München I – Herkunft von Bier: Nach einem Bericht der FAZ (Tillmann Neuscheler) wird das Landgericht München I im Streit über die Herkunft des Benediktiner-Bieres nun zunächst ein Sachverständigengutachten einholen. Die klagende Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs stoße sich an der Gestaltung der "Benediktiner-Bier"-Flasche, auf der ein bayerisches Kloster abgebildet ist. Tatsächlich werde das Bier aber in Hessen gebraut.

LG Berlin – Bushido/Abou-Chaker: Aus Anlass des 100. Verhandlungstages gegen Arafat Abou-Chaker und dessen Brüder zählt bild.de (Matthias Becker u.a.) einige Kosten des vorläufig bis in den November terminierten Verfahrens auf. So koste allein der Personenschutz für den Rapper und Belastungszeugen Bushido 600.000 Euro/Jahr. Die Kosten für "drei Richter, zwei Schöffen, ein bis zwei Staatsanwälte und die Protokollführerin" beliefen sich bislang auf rund 250.000 Euro.

AG München zu Klimaprotest: Unter anderem wegen Gefährdung des Flugverkehrs hat das Amtsgericht München einen 40-Jährigen zu einer Geldstrafe in Höhe von 120 Tagessätzen verurteilt. Der Angeklagte hatte während eines Fußball-Länderspiels im Juni 2021 gegen die klimaschädliche Unternehmenspolitik des Sponsors VW protestieren wollen. Aufgrund eines technischen Problems seines Gleitschirms stürzte er jedoch praktisch auf das Spielfeld und verletzte hierbei auch Unbeteiligte. Dem Gericht stellte sich der Greenpeace-Aktivist als geläutert und einsichtig dar, so bild.de (Torsten Huber).

CDU-Parteigericht zu Hans-Georg Maaßen: Das gemeinsame Kreisparteigericht der CDU Thüringen hat den Antrag des CDU-Bundesverbands, den vormaligen CDU-Bundestagskandidaten und früheren Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen aus der Partei auszuschließen, abgewiesen. Maaßen sei nur ein Verweis erteilt worden wegen eines Gastbeitrages, in dem er einen "linken Flügel" der Partei der "Ideologie der sogenannten Anti-Deutschen" zugeordnet hatte. Bisher ist nur der Beschlusstenor der Entscheidung bekannt. Der Bundesverband kann sein Anliegen am Landesparteigericht weiter verfolgen. Es berichten beck-aktuell und LTO. 

Recht in der Welt

EGMR – Caster Semenya: Die südafrikanische Leichtathletin Caster Semenya wurde durch die Behandlung ihrer Beschwerden gegen Testosteronregeln des Leichtathletik-Weltverbandes seitens der Schweizer ordentlichen Gerichtbarkeit diskriminiert. Dies entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Die Abweisung ihrer Klage beim Schweizer Bundesgericht verstoße zudem gegen das Recht auf wirksame Beschwerde, weil die erforderliche "gründliche institutionelle und verfahrenstechnische Überprüfung" der Regeln zu den Hormonhaushalten von Athletinnen unterblieben sei. Ob diese Entscheidung Semenya ein Startrecht für die im nächsten Jahr stattfindende Sommerolympiade verschaffen wird, bleibt fraglich. Denn der Leichtathletikverband, der an seinen Bestimmungen festhalten will, versucht die Schweizer Regierung zu veranlassen, eine Berufungsentscheidung der Großen Kammer des EGMR zu beantragen. Es berichten tagesschau.de (Max Bauer) und LTO.

Christoph Becker (FAZ) erinnert im Sport-Teil daran, dass der Leichtathletikverband in einer Stellungnahme zu einer CAS-Entscheidung Menschenrechte als "Sammelbegriff" abgetan hatte. Die jetzige Entscheidung lege auch das Verbandsrechtskartell offen, das die Schweizer Justiz im Einklang mit den Schiedsgerichten der Verbände pflege.

Israel – Justizreform: Über den in erster Lesung von der israelischen Knesset unterstützten Teil der sogenannten Justizreform berichten nun auch LTO und FAZ (Christian Meier). Zahlreiche Protestveranstaltungen sprachen sich gegen die Neuerung aus, durch die dem Obersten Gericht die Möglichkeit genommen werden soll, Regierungsentscheidungen als "unangemessen" einzustufen.

Für Peter Münch (SZ) ist das zeitweilige Innehalten von Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu bei der Umsetzung der Reform taktischen Erwägungen geschuldet gewesen. Unbeirrt treibe die von ihm angeführte Regierung das Land "in Richtung Abgrund", es sei an der Zeit, dass die westlichen Partner des Landes "schnellstmöglich Grenzen aufzeigen."

Juristische Ausbildung

Moot Court: Am vergangenen Freitag siegte ein Hannoveraner Team gegen eine Kieler Auswahl bei dem von der Studierendenorganisation Elsa in Räumlichkeiten des Bundesgerichtshofs veranstalteten Bundesentscheid Moot Court. Über die knappe Entscheidung berichtet swr.de (Caroline Greb).

Sonstiges

Rammstein: Die vom Rammstein-Sänger Till Lindemann mandatierte Kanzlei Schertz Bergmann hat den Campact e.V. aufgefordert, in einer Online-Petition "unwahre und schwer ehrverletzende Tatsachenbehauptungen" zu unterlassen, so die FAZ (Sebastian Eder). Konkret geht es um die Aussage, Lindemann habe Frauen "sexuell missbraucht". In einer Antwort habe die anwaltliche Vertretung des Vereins dargelegt, mit den verwendeten Formulierungen eine wertende Zusammenfassung eines unstreitigen Sachverhalts vorgenommen zu haben. Die erbetene Unterlassungserklärung sei nicht unterschrieben worden.

Libra: Der FAZ (Jochen Zenthöfer) ist aufgefallen, dass die Juris GmbH in den vergangenen Wochen die Stelle einer "Redaktionsleitung (m/w/d)" ausgeschrieben hatte. Die nach Nachfrage der Zeitung gelöschte Stellenanzeige nähre den Verdacht, dass das mehrheitlich in Staatsbesitz befindliche Unternehmen "sein einstiges Prestigeobjekt", das inzwischen eingestellte Magazin "Libra", wiederbeleben könnte.

Klimaproteste in Stuttgart: Die Stadt Stuttgart hat in einer Allgemeinverfügung vom 7. Juli generell Straßenblockaden verboten, bei denen sich die Protestierenden auf die Straße kleben oder anderweitig mit der Straße oder anderen Personen verbinden. Dies wird von den wissenschaftlichen Mitarbeitern Andreas Gutmann und Tore Vetter auf dem Verfassungsblog kritisiert. Weder ließen sich illegale Straßenblockaden auf diese Weise schneller räumen noch werde dies dem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gerecht.

Deutsch-französische Justizfragen: Im Rahmen eines EU-Pilotprojekts ist im badischen Kehl eine Kontaktstelle für Justizfragen eingerichtet worden, die bei Rechtsproblemen mit grenzüberschreitenden Bezügen Hilfe leisten soll. Der SWR-RadioReportRecht (Caroline Greb) stellt Aufgabe und Arbeit der Kontaktstelle vor.

 

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LTO/mpi/chr

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 12. Juli 2023: BVerfG zu Cannabis / Beschleunigt gegen Klimakleber? / EGMR zu Caster Semenya . In: Legal Tribune Online, 12.07.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52219/ (abgerufen am: 14.05.2024 )

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