Wie kann ein gutes Epidemiegesetz aussehen?: Wenn die nächste Pan­demie kommt

Gastbeitrag von Johannes Gallon und Dr. Anna-Lena Hollo und Prof. Dr. Andrea Kießling

23.03.2023

 

Demnächst fallen alle Rechtsgrundlagen für Corona-Maßnahmen weg. Sollte es wieder zu einer Pandemie kommen, müssten neue her – besser wäre es, jetzt grundsätzliche Reformen anzugehen, so ein Vorschlag aus der Rechtswissenschaft.

Mit Ablauf des 7. Aprils wird das Infektionsschutzgesetz (IfSG) keine besonderen Rechtsgrundlagen zur Ergreifung von Schutzmaßnahmen mehr enthalten, die auf die Corona-Epidemie bezogen sind. Dem Gesetz fehlen dann insgesamt Regelungen, die bei der nächsten Epidemie notwendig werden könnten; die Rechtslage wird weitestgehend derjenigen vor März 2020 entsprechen, die Epidemien völlig unvorbereitet gegenüberstand.  

Zu Beginn ihrer Amtszeit hatten SPD, FDP und Grüne eine grundlegende Reform angekündigt, auf die man bislang allerdings vergebens wartet und von der mittlerweile keine Rede mehr ist. Dabei wäre es sinnvoll, jetzt schon zu überlegen, welche rechtlichen Regelungen notwendig sind, um Epidemien zu bekämpfen und zugleich die Grundrechte nicht über Gebühr einzuschränken. Wie könnte eine Reform aussehen?  

Denkbar sind zwei verschiedene Varianten: Der Gesetzgeber könnte das gesamte Infektionsschutzrecht einer Überprüfung unterziehen mit dem Ansinnen, z.B. auch Zuständigkeiten neu zu regeln und nicht allein auf Epidemien bezogene Abschnitte zu überarbeiten. Er könnte es alternativ auch grundsätzlich beim geltenden Recht belassen, dabei aber punktuell von SARS-CoV-2 abstrahierende Regelungen für flächendeckende Maßnahmen bei Epidemien einführen. Zu denken ist dabei an Maßnahmen, die in unterschiedlichen Lebensbereichen eingesetzt werden können, um die Ausbreitung eines Krankheitserregers einzudämmen, also beispielsweise die Pflicht zum Tragen bestimmter Schutzkleidung (wie Masken), Beschränkungen von Veranstaltungen, Vorgaben für den Einzelhandel, für Schulen, Kitas und Pflegeheime und Beschränkungen des Reise- und des Warenverkehrs.

Unter dem Eindruck der Corona-Pandemie haben wir einen Vorschlag für die zweite mögliche Variante ausgearbeitet. Bei der Konzeption des Entwurfs haben wir die Kritik aus der Rechtswissenschaft aufgegriffen, die in den letzten drei Jahren an den bestehenden Rechtsgrundlagen im IfSG geäußert wurde. Der Übersichtlichkeit wegen haben wir die Vorschriften in einem neuen Gesetz – dem Epidemiegesetz – aufgeführt; möglich wäre es auch, sie in das IfSG zu integrieren.  

Hohe Hürden für umstrittene Maßnahmen

Der Entwurf schlägt Rechtsgrundlagen für die oben genannten Schutzmaßnahmen zur Epidemiebekämpfung vor, die wir teils allgemein, teils bezogen auf bestimmte Lebensbereiche im Gesetz näher ausbuchstabieren. Nicht enthalten sind hingegen zum einen Befugnisnormen für besonders eingriffsintensive Maßnahmen bzw. Maßnahmen, über die unserer Meinung nach nur in einer konkreten Epidemie unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände entschieden werden kann. Das sind insbesondere Ausgangsbeschränkungen und Impfpflichten. Zum anderen gibt es einige Regelungsbereiche, die zwar ebenfalls neu aufgestellt werden sollten, aber in unserem Entwurf unberücksichtigt geblieben sind, weil es dabei nicht um Schutzmaßnahmen geht, z.B. Entschädigungsregelungen, Bußgeldvorschriften sowie Kontroll- und Vollzugsvorschriften.  

Einzelne Maßnahmen, die in der Corona-Pandemie ergriffen wurden – wie etwa Schulschließungen –, sind heute aufgrund des Verhältnisses von epidemiologischer Wirksamkeit und Nebenfolgen umstritten. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass sie in einer Epidemie eines anderen Erregers zum Einsatz kommen müssten, so dass wir sie in unseren Entwurf aufgenommen haben. Damit sie nicht vorschnell, sondern nur im Notfall ergriffen werden, haben wir uns entschieden, hohe Hürden für diese Maßnahmen vorzuschlagen, die so auch Niederschlag in den von uns formulierten Ermächtigungsgrundlagen gefunden haben.

Dadurch haben die formulierten Verordnungsermächtigungen eine Doppelfunktion: Einerseits haben sie einen ermöglichenden Charakter, da sie die Grundlage für das Ergreifen von Schutzmaßnahmen und damit für Grundrechtseingriffe darstellen. Andererseits haben sie aufgrund der dezidierten Tatbestandsvorgaben, die die Nutzung der Ermächtigungen mitunter an (sehr) strenge Voraussetzungen knüpfen und teilweise bestimmte Maßnahmen auch ausschließen (vollständig oder für bestimmte Bereiche oder bestimmte Phasen einer Epidemie), zugleich eine begrenzende Funktion und geben klare "Leitplanken" für die Epidemiebekämpfung vor.  

Für die Rechtsfolgenseite werden zudem in eigenen Normen klarstellend die rechtsstaatlichen Grenzen ausdrücklich festgeschrieben und damit stets in Erinnerung gerufen, insbesondere die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Die verordnungsgebenden Organe werden außerdem zur Abstimmung der verschiedenen Schutzmaßnahmen in einem Konzept und zur ausführlichen Begründung ihrer Entscheidungen verpflichtet.

Was ist das Ziel der Schutzmaßnahmen?

Der Entwurf verzichtet zunächst auf das Erfordernis der Feststellung der "epidemischen Lage von nationaler Tragweite" durch einen Bundestagsbeschluss. Denn ein solcher "aktivierender" Beschluss ist weder nötig noch üblich. Wie im sonstigen Verwaltungsrecht auch dürfen Behörden nur auf der Grundlage von Rechtsnormen, die bestimmte Voraussetzungen für ein Tätigkeitwerden vorgeben müssen, Maßnahmen ergreifen. Ob die entsprechenden Voraussetzungen tatsächlich vorliegen, entscheiden die Behörden im Wege der Subsumtion aber stets selbst. Eine Überprüfung dieser behördlichen Entscheidungen und der ergriffenen Maßnahmen erfolgt durch die Verwaltungsgerichte.

Während der Corona-Pandemie wurde häufig beklagt, dass das Ziel der Schutzmaßnahmen nicht klar genug kommuniziert wurde. Auch das IfSG selbst blieb hierbei etwas vage; zuletzt stand die Verhinderung der Überlastung der Krankenhauskapazitäten im Vordergrund. Unser Entwurf regelt nun den Zweck ausdrücklich, lässt dem Staat dabei aber genügend Spielraum, um auf die Besonderheiten der jeweiligen Epidemie einzugehen: Alle Maßnahmen müssen darauf ausgerichtet sein, kurz-, mittel- oder langfristig die Verhütung und Bekämpfung der Krankheit allein durch Maßnahmen nach dem IfSG zu ermöglichen (z.B. durch Isolations- und Quarantäneanordnungen im Einzelfall).  

Soweit dieser Zweck nur mittel- oder langfristig erreicht werden kann, sind die Maßnahmen in ihrer Gesamtheit daran auszurichten, die Krankheitslast innerhalb der Bevölkerung zu reduzieren, einer Überlastung der medizinischen Versorgung einschließlich der ambulanten Versorgung entgegenzuwirken sowie die Funktionsfähigkeit kritischer Infrastrukturen sicherzustellen.  

Unterscheidung zwischen "Epidemie", "schwerer Epidemie" und "drohender Epidemie"

Auf Tatbestandsseite regelt unser Entwurf drei unterschiedliche Stufen, die zu unterschiedlich einschneidenden Maßnahmen berechtigen: Wenn eine Epidemie vorliegt, können moderate Maßnahmen ergriffen werden (etwa die Beschränkung der Anzahl an Personen, die sich in Geschäften aufhalten dürfen, oder die Pflicht zur Erfassung der Kontaktdaten von Personen); eingriffsintensivere Maßnahmen wie die Schließung von Betrieben dürfen erst bei einer schweren Epidemie ergriffen werden. Damit aber auch verhindert werden kann, dass eine Epidemie überhaupt entsteht, können wenig eingriffsintensive Maßnahmen, wie z.B. die Einhaltung eines Mindestabstands zu haushaltsfremden Personen, schon vor der Entwicklung eines Infektionsgeschehens zu einer Epidemie eingesetzt werden (Stadium der "drohenden Epidemie").  

Die unterschiedlichen Voraussetzungen dieser drei Stufen definiert der Entwurf bei den Begriffsbestimmungen. Eine Epidemie ist demnach die dynamische Ausbreitung einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit im Gebiet des Bundes oder eines Landes, die nicht allein durch Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 IfSG eingedämmt werden kann. Durch die Begrenzung auf bedrohliche übertragbare Krankheiten im Sinne des § 3 Nr. 3a IfSG wird von vornherein verhindert, dass die Vorschriften auf harmlose Schnupfenerreger angewendet werden können.  

Eine schwere Epidemie haben wir definiert als eine Epidemie, in der die medizinische Versorgung überlastet ist, eine ähnlich gelagerte Notsituation, wie der Ausfall kritischer Infrastrukturen, überregional droht oder regional stattfindet oder in der die bedrohliche übertragbare Krankheit zum Tod oder zu längerfristigen oder irreparablen erheblichen Schäden der Gesundheit für eine Bevölkerungsgruppe oder für eine nicht unwesentliche Anzahl an Personen führen kann. Auch hierdurch wird sichergestellt, dass nicht allein die Krankenhauskapazitäten das Vorgehen des Staates steuern, sondern auch die Kapazitäten der niedergelassenen Ärzt:innen sowie etwaige Langzeitschäden (wie z.B. Long Covid).

Unterschiedliche Regelungen für verschiedene Lebensbereiche

Wichtiges Merkmal des Entwurfs ist außerdem, dass die Voraussetzungen für viele unterschiedliche Lebensbereiche detailliert ausbuchstabiert werden: Zwar mögen manche Maßnahmen bei manchen Erregern in nahezu allen Lebensbereichen sinnvoll sein (wie etwa eine Maskenpflicht bei einem Atemwegserreger), etwaige Ausnahmen regelt unser Entwurf aber ausdrücklich. Für andere Maßnahmen ist eine solche Allgemeingültigkeit von vornherein nicht gegeben.

Auch die unterschiedliche Belastung verschiedener Personengruppen muss sich in unterschiedlichen Regelungen ausdrücken. Deswegen haben wir jeweils eigene Vorschriften etwa für Versammlungen, Krankenhäuser, Pflegeheime, Schulen, Kitas und den Einzelhandel entworfen. So kommt z.B. Distanzunterricht in Schulen in einer Epidemie nur in Betracht, soweit dies zum Schutz von Leben und Gesundheit der Kinder oder des Personals zwingend erforderlich ist. Erst in einer schweren Epidemie reicht der Schutz der restlichen Bevölkerung als Ziel aus – und dann muss die Maßnahme zur Eindämmung der Epidemie zwingend erforderlich sein. In Einrichtungen wie Pflegeheimen, Flüchtlingsunterkünften oder Gefängnissen wiederum dürfen Maßnahmen gegenüber den Bewohner:innen nicht in deren privaten Räumen vorgeschrieben werden. Für den Reise- und Warenverkehr haben wir bei bundeslandübergreifendem Bezug eine Verordnungsermächtigung für den Bund vorgesehen.

Ob unser Entwurf nun als Grundlage für eine nachhaltige Reform dienen wird oder nicht – eines ist jedenfalls klar: Die Generalklausel des § 28 Abs. 1 IfSG kann in Zukunft nicht mehr für flächendeckende Epidemiebekämpfungsmaßnahmen herangezogen werden, da sich der Staat nicht mehr darauf berufen kann, dass diese Maßnahmen unvorhersehbar waren. Das Infektionsschutzrecht braucht also dringend einen Neustart – und das vor der nächsten Epidemie. Unser Entwurf mag als Anstoß für eine neue Diskussion in Politik und Rechtswissenschaft dienen. 

Johannes Gallon ist Doktorand und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Europarecht der Europa-Universität Flensburg (Prof. Dr. Anna Katharina Mangold, LL.M. (Cambridge)), Dr. Ana-Lena Hollo ist Akademische Rätin auf Zeit und Habilitandin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Sozialrecht (Prof. Dr. Hermann Butzer) an der Leibniz Universität Hannover und Prof. Dr. Andrea Kießling ist Professorin für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht und Migrationsrecht sowie Geschäftsführende Direktorin des Instituts für Europäische Gesundheitspolitik und Sozialrecht (ineges) an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Gallon/Hollo/Kießling, Epidemiegesetz. Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung der Rechtsgrundlagen der Epidemiebekämpfung, erschienen 2023 im Nomos-Verlag (Open Access)

Zitiervorschlag

Wie kann ein gutes Epidemiegesetz aussehen?: Wenn die nächste Pandemie kommt . In: Legal Tribune Online, 23.03.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51386/ (abgerufen am: 29.03.2024 )

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