Bundesrepublik gewinnt vor dem Kammergericht: Julian Rei­chelt muss Taliban-Tweet löschen

von Dr. Max Kolter

15.11.2023

Deutschland zahle 370 Millionen Entwicklungshilfe an die Taliban, tweetete Julian Reichelt. Das BMZ wollte ihm das verbieten lassen – und hat damit nun Erfolg. Sein Tweet gefährde das Vertrauen in die Regierung, so das Kammergericht.

Ex-Bild-Chefredakteur Julian Reichelt erlitt am Mittwoch in Berlin eine gerichtliche Niederlage gegen die Bundesrepublik Deutschland, hier vertreten durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Das Kammergericht (KG) untersagte Reichelt im Eilverfahren einen Tweet vom 25. August, in dem dieser der Bundesregierung vorwarf, den Taliban in den letzten zwei Jahren 370 Millionen Euro Entwicklungshilfe gezahlt zu haben (Beschl. v. 15.11.2023, Az. 10 W 184/23).

Damit gab das KG einer sofortigen Beschwerde des BMZ gegen einen Eilbeschluss des Landgerichts (LG) Berlin (v. 04.10.2023, Az. 27 O 410/23) statt, das noch zugunsten von Reichelt entschieden und den regierungskritischen Post als zulässige Meinungsäußerung eingestuft hatte. Reichelts Post sei eine zulässige und für den Leser als solche erkennbare Überspitzung, hatte das LG argumentiert. Das KG beurteilte das nun anders: Reichelts Aussage sei eine unwahre Tatsachenbehauptung, die geeignet sei, "das Vertrauen der Bevölkerung in die Tätigkeit" der Bundesrepublik "zu gefährden".

Meinungsäußerung oder Tatsachenbehauptung?

Eine der beiden juristischen Weichenstellungen ist die Frage, ob in der Aussage Reichelt, die Regierung überweise den Taliban Geld, eine Meinungsäußerung oder eine Tatsachenbehauptung liegt. Wertet man Reichelts Tweet als Tatsachenbehauptung, ist sie unwahr – die Bundesregierung überweist nicht den Taliban Geld, sondern den in Afghanistan tätigen NGOs.Unwahre Tatsachenbehauptungen unterfallen nicht oder nur eingeschränkt dem Schutz der Meinungsfreiheit. Personen, über die Unwahres behauptet wird, können regelmäßig einen Unterlassungsanspruch geltend machen und die Aussage verbieten lassen.

Stuft man die Äußerung dagegen wie das LG als Meinungsäußerung ein, hat in der Regel die freie Rede Vorrang. Eine von mehreren Ausnahmen ist für den Fall anerkannt, dass überhaupt keine Anknüpfungstatsachen für die Meinungsäußerung vorliegen. Beispiel wäre die Kritik an einer Rede, die gar nicht stattgefunden hat. Das LG bejahte aber Anküpfungstatsachen für die Aussage der Geldzahlung an die Taliban. Es sah diese in dem unstreitigen Umstand, dass das BMZ die Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan tatsächlich in den letzten zwei Jahren mit 371 Millionen gefördert hat. Es beurteilte den Post als zulässige überspitzte Regierungskritik. Wie kam es nun zu der unterschiedlichen Auslegung zwischen LG und KG?

Die Gerichte gewichten die Begleitumstände unterschiedlich: Während das LG den Wortlaut des Tweets in seiner Entscheidung nicht einmal vollständig zitierte, hielt es den von Reichelt in seinem Tweet verlinkten Artikel der Plattform NiUS für bedeutsam. Dieser trägt die zutreffende Überschrift: "Deutschland zahlt wieder Entwicklungshilfe für Afghanistan." Aus diesem Kontext schloss das LG, dass der Durchschnittsleser nicht davon ausgehe, Reichelt wolle mit seinem Tweet inhaltlich von dem NiUS-Artikel Abweichendes behaupten, sondern hierauf polemisch Bezug nehmen.

KG: Durchschnittleser hält humanitäre Hilfe nicht für "geisteskrankes Verhalten"

Das KG hingegen stellte dagegen – wie die Anwälte des BMZ (Schertz Bergmann Rechtsanwälte) – entscheidend auf die angegriffene Äußerung und des Rest des von Reichelt verfassten Tweets ab. Die angegriffene Passage lautet wörtlich: "Deutschland zahlte in den letzten zwei Jahren 370 MILLIONEN EURO (!!!) Entwicklungshilfe an die TALIBAN (!!!!!!)." Dem fügte Reichelt hinzu: "Wir leben im Irrenhaus, in einem absoluten, kompletten, totalen, historisch einzigartigen Irrenhaus. Was ist das nur für eine Regierung?!"

Die in dem zweiten Teil zum Ausdruck kommende Entrüstung ist nach Auffassung des KG so stark, dass der für die Auslegung juristisch maßgebliche Durchschnittsleser den ersten, angegriffenen Teil nur so verstehen könne, als ginge Reichelt davon aus, die Regierung würde das Geld direkt der Terrororganisation zur Verfügung stellen. Die Zahlung von Hilfsgeldern an Organisationen wie die Weltbank, UNICEF und NGOs zur Unterstützung der Zivilbevölkerung in Afghanistan "lässt den Schluss auf ein schlechthin unverständliches, geisteskrankes Verhalten der Regierung gerade nicht zu", so das Gericht. Dass die Bundesrepublik humanitäre Hilfe leiste, "wird vom Durchschnittsleser nicht als sinngemäß komplett irres Vorgehen angesehen".

Dass Reichelt den NiUS-Artikel, der die Umstände zutreffend wiedergibt, verlinkt hatte, spielt laut KG nicht die entscheidende Rolle. Denn Reichelt habe dem Leser in dem Tweet bereits scheinbar alle relevanten Infos zur Verfügung gestellt. Den Inhalt des Artikels würden nur Leser mit weitergehendem Interesse zur Kenntnis nehmen.

Zugleich verwarf das KG die Deutungsmöglichkeit, Julian Reichelt habe gemeint, das unmittelbar an NGOs gezahlte Geld komme mittelbar den Taliban zugute. Diese Interpretation hatte das LG noch ausdrücklich für möglich gehalten.

Tweet gefährdet das Vertrauen in die Bundesregierung

Da das KG nun eine unwahre Tatsachenbehauptung angenommen hatte, musste es im Gegensatz zum LG weiterprüfen, ob die Bundesrepublik Deutschland sich gegen die Behauptung überhaupt wehren kann. Anders als Privatpersonen oder Unternehmen hat der Staat nur dann einen Unterlassungsanspruch, wenn er durch die Äußerung schwerwiegend in seiner Funktionsausübung beeinträchtigt ist. Dieses Erfordernis trägt dem Umstand Rechnung, dass der Antragsteller hier eine staatliche Institution ist, die im Gegensatz zu Menschen nicht in ihrer persönlichen Ehre gekränkt sein kann noch. Doch umfasst der zivilrechtliche Persönlichkeitsschutz auch juristische Personen – nur muss er dort eben modifiziert werden: Nicht die Ehre wird geschützt, sondern Reputation im Falle von Unternehmen und Funktionsausübung im Falle des Staates.

Dabei muss nicht glaubhaft gemacht werden, dass die staatliche Institution – hier also das BMZ – seine Aufgaben tatsächlich nicht mehr (wie gewohnt) wahrnehmen kann. Vielmehr genügt eine abstrakte Gefahr – also die Eignung der Äußerung, "das Vertrauen der Bevölkerung und die Arbeit der betroffenen Behörde und deren Funktionsfähigkeit zu gefährden".

Das bejahte das KG vorliegend und schloss sich dabei der Argumentation des BMZ an. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Entwicklungsarbeit der Regierung werde beeinträchtigt, wenn der Eindruck entsteht, es würden Hilfsgelder an ein "Terrorregime" gezahlt, "das die Rechte der Bevölkerung mit Füßen tritt", so das KG. Der Unterlassungsanspruch ergibt sich dann aus §§ 1004 Abs. 1 S. 2 analog und 823 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) i.V.m. den §§ 185 ff., 194 Strafgesetzbuch.

Reichelt muss den Tweet löschen

Entsprechend zufrieden zeigt sich BMZ-Anwalt Prof. Dr. Christian Schertz gegenüber LTO: "Ich bin sehr zufrieden, dass das Kammergericht unserer Rechtsauffassung vollumfänglich gefolgt ist und die Aussage von Julian Reichelt als unwahre Tatsachenbehauptung untersagt hat."

Auch Reichelts Anwalt Joachim Steinhöfel kann der juristischen Niederlage immerhin etwas abgewinnen und richtet den Blick nach vorn. "Wenn die Bundesregierung und mit ihr das Berufungsgericht die Auffassung vertreten, dass ein Tweet von Herrn Reichelt geeignet sei, 'das Vertrauen der Bevölkerung in die Arbeit der BRD und deren Funktionsfähigkeit zu beeinträchtigen', stellt das eine besondere Wertschätzung für die journalistische Arbeit von Herrn Reichelt dar und eine besondere Respektsbekundung der Regierung selbst. Die Ausführungen des Kammergerichts halten wir für nicht überzeugend, Rechtsmittel unsererseits werden daher erwogen," so Steinhöfel gegenüber LTO.

Möglich wäre ein Widerspruch. Dann würde der Streit mit erwartbarem Ausgang erneut beim KG landen. Soll der Bundesgerichtshof entscheiden, müsste Reichelt das BMZ zu einem Hauptsacheverfahren auffordern. Das würde allerdings Jahre dauern. Den bei Veröffentlichung dieses Artikels noch abrufbaren Tweet muss Reichelt nun so oder so löschen.*

Auch abseits der Taliban-Aussage sollte er sein Tweet-Verhalten angesichts der Entscheidung des KG überdenken. Auch im Fall der Hilfsgelder für den Gazastreifen setzte der ehemalige Bild-Chefredakteur humanitäre Hilfe und Terrorfinanzierung gleich: "Deutschland überweist den Schlächtern weiter Millionen", tweetete er Anfang Oktober. Ob die KG-Entscheidung Reichelts Drang zu polemischer Kritik an der humanitären Hilfs- und Entwicklungspolitik der Bundesregierung bremst, ist allerdings fraglich.

* Hinweis der Red.: Der Tweet wurde inzwischen gelöscht (16.11.2023, 13:50 Uhr).

Zitiervorschlag

Bundesrepublik gewinnt vor dem Kammergericht: Julian Reichelt muss Taliban-Tweet löschen . In: Legal Tribune Online, 15.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53180/ (abgerufen am: 27.04.2024 )

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