EuGH-Urteil "Schrems v Facebook": Keine Sam­mel­klage durch die Hin­tertür

von Tobias Lutzi

05.02.2018

Max Schrems darf nicht stellvertretend für andere Facebook-Nutzer in Wien klagen. Dieses EuGH-Urteil wurde stark kritisiert. Dabei verbietet es Sammelklagen keineswegs. Es hat bloß ihre Einführung durch die Hintertür verhindert, meint Tobias Lutzi.

Ende Januar versagte der Europäische Gerichtshof (EuGH) dem österreichischen Datenschutzaktivisten Max Schrems die Möglichkeit, ihm abgetretene Ansprüche von 25.000 Facebook-Nutzern wegen möglicher Verletzungen des Datenschutzrechts an seinem Wohnsitz in Wien gerichtlich durchzusetzen (Urt. v. 25.01.2018, Az. C-498/16).

Schrems hatte sich die Ansprüche von 25.000 Facebook-Nutzern aus aller Welt abtreten lassen, um diese neben seinen eigenen vor einem österreichischen Gericht geltend zu machen. Im Verfahren vor dem EuGH ging es dabei zunächst um die Ansprüche von Schrems und sieben anderen Nutzern.

Der EuGH gestattete Schrems aber lediglich die Geltendmachung seiner eigenen Ansprüche. Für die Ansprüche anderer Nutzer seien die Gerichte in Wien nicht zuständig. Die EG-Verordnung Nr. 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ("Brüssel I") erlaube Verbrauchern zwar die Geltendmachung von eigenen Ansprüchen gegen einen ausländischen Konzern an ihrem Wohnsitz, stehe allerdings nicht für eine Sammelklage aus abgetretenen Ansprüchen zur Verfügung.

Die Entscheidung wurde in den Medien teilweise als Verbot einer Sammelklage missverstanden. Auch Schrems erklärte in einer unmittelbar nach der Urteilsverkündung veröffentlichten Stellungnahme: "Leider  hat  der  EuGH  [...] den Verbraucherbegriff massiv eingeschränkt. Das wird Verbraucher in vielen Fällen hart treffen und künftige Sammelklagen unmöglich machen." Tatsächlich ist die Reichweite des Urteils jedoch viel geringer.

Gerichtshof schreibt seine Rechtsprechung fort

Gegenstand der Vorlage des österreichischen Obersten Gerichtshofs zum EuGH war allein die Frage der internationalen Zuständigkeit. Diese richtet sich nach der Brüssel-I-Verordnung (Nr. 44/2001, inzwischen (insoweit inhaltsgleich) neu gefasst als Verordnung Nr. 1215/2012)). Danach kann eine zivilrechtliche Klage gegen einen Beklagten mit (Wohn-)Sitz in einem Mitgliedstaat der EU stets in diesem Mitgliedstaat erhoben werden. Verbrauchern steht für Klagen aus Verbraucherverträgen zudem ein Gerichtsstand an ihrem Wohnsitz zur Verfügung.

Auf europäischer Ebene fehlt bisher ein der amerikanischen Class Action vergleichbarer Mechanismus, mit dem die Ansprüche einer ganzen Gruppe  von Betroffenen in einem Verfahren durchgesetzt werden können. Deshalb hatte sich Schrems die Ansprüche von anderen Facebook-Nutzern abtreten lassen, um diese über den Vebrauchergerichtsstand an seinem Wohnsitz in Wien geltend zu machen. Dies hätte eine "Sammelklage österreichischer Prägung" ermöglicht, bei der alle Betroffenen ihre Ansprüche an einen Kläger abtreten, der diese gemeinsam durchsetzt und einen etwaigen Schadensersatz anschließend unter den Betroffenen aufteilt.

Dass dieser Versuch vor dem EuGH wenig Chancen haben würde, war abzusehen. Einerseits hat der Gerichtshof stets betont, dass die besonderen Gerichtsstände der Brüssel-I-Verordnung eng auszulegen sind und etwa der in Art. 16 Abs. 1 der Verordnung vorgesehene Verbrauchergerichtsstand allein dem klagenden Verbraucher selbst offen steht. Weder ein gewerblich handelnder Zessionar (Urteil v. 19.01.1993, Az. C-89/91 – Shearson Lehmann Hutton) noch ein Verbraucherverband (Urteil v. 01.10.2002, Az. C-167/00 – Henkel) können sich auf ihn berufen. Erst jüngst haben die Richter in Luxemburg zudem entschieden, dass die Abtretung eines Anspruchs an der internationalen Zuständigkeit für diesen nichts ändert (Urteil v. 21.05.2015, Az. C-352/13 – CDC).

Verbrauchersammelklagen würden Forum Shopping forcieren

Andererseits hätte die von Schrems angestrebte Einführung eines einheitlichen Gerichtsstands für Verbrauchersammelklagen durch die Hintertür weitreichende Konsequenzen: Verbraucher könnten ihre Ansprüche stets an andere Verbraucher in prozessual besonders opportunen Mitgliedsstaaten abtreten.

Ein derartiges Forum Shopping liefe dem mit der Brüssel-I-Verordnung angestrebten Ziel, Gerichtsstände vorhersehbar zu machen, diametral entgegen. Etwaigen Beklagten muss es möglich sein, vorherzusehen, von wem sie wo verklagt werden können: Schließt ein Unternehmer etwa gezielt Verträge mit Verbrauchern in einem bestimmten Mitgliedstaat ab, nimmt er nach der Brüssel-I-Verordnung in Kauf, in diesem Mitgliedstaat von den dort (bei Klageerhebung) lebenden Verbrauchern verklagt zu werden – nicht jedoch von allen anderen Verbrauchern, mit denen er ebenfalls kontrahiert hat.

Die Kritik, dass damit "viele Verbraucher ihre Rechte" verlören und Unternehmen "nach dem Motto 'teile und herrsche' Verbrauchersammelklagen blockieren" könnten, greift vor diesem Hintergrund zu kurz. Zum einen gewährt die Verordnung Verbrauchern allein das Recht, an ihrem eigenen Wohnsitz zu klagen, das auch nach der Entscheidung fortbesteht. Zum anderen bleibt es den betroffenen Verbrauchern unbenommen, gemeinsam am Sitz der Beklagten zu klagen – wenn auch zum Preis eines gegebenfalls unvorteilhaften Prozessrechts und deutlich höherer Verfahrenskosten.

Europäischer Gesetzgeber muss Grundlage für Sammelklage schaffen

Für das Institut der Sammelklage gibt es viele gute Argumente. Es verschafft Konsumenten einen oft effektiven Weg, Ansprüche, die auf dem gleichen Lebenssachverhalt (etwa einem defekten Produkt) beruhen, gemeinsam durchzusetzen. Das ist besonders dann attraktiv, wenn der wirtschaftliche Wert der einzelnen Ansprüche gering, ihre Anzahl aber erheblich ist.

Zugleich kann eine Sammelklage Gerichte entlasten, indem sie etwa die Konzentration aufwendiger Beweisaufnahmen in einem einzigen Verfahren ermöglicht. Die Einführung eines entsprechenden Instruments auf Europäischer Ebene würde daher sowohl der Schaffung eines Raums "der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" (Art. 67 Abs. 1 AEUV) als auch der "Gewährleistung eines hohen Verbraucherschutzniveaus" (Art. 169 Abs. 1 AEUV) dienen.

Tatsächlich hat die Kommission mehrere Anläufe gestartet, ein solches Instrument auf den Weg zu bringen. Der Erfolg dieser Versuche darf als begrenzt bezeichnet werden. 2013 hatte die EU-Kommission den Mitgliedstaaten empfohlen, auf nationaler Ebene Möglichkeiten kollektiven Rechtsschutzes zu schaffen, die ausdrücklich auch bei grenzüberschreitenden Fällen zur Verfügung stehen sollten.

Erst kürzlich musste die Kommission zum Stand der Dinge jedoch nüchtern feststellen, "dass der Empfehlung bislang in eher geringem Umfang Folge geleistet worden ist." In Deutschland etwa steht kollektiver Rechtsschutz im Wesentlichen nur im Kapitalanlagerecht und über die Klagemöglichkeiten der Verbraucherverbände zur Verfügung; auf die Einführung einer Musterfeststellungsklage konnte sich die Große Koalition in der vergangenen Legislaturperiode nicht einigen. Zwar ist wohl bereits in diesem Jahr mit einem neuen Anlauf zu rechnen – doch wegen der bloßen Feststellungswirkung eines Musterurteils sprechen Verbraucherschützer schon jetzt von einem "stumpfen Schwert".

Nicht die Aufgabe des Gerichtshofs

Die Einführung der Möglichkeit einer (Verbraucher-)Sammelklage durch die Hintertür der Brüssel-I-Verordnung wäre gleichwohl kontraproduktiv. Sie würde zwar einen einheitlichen internationalen Gerichtsstand für derartige Klagen eröffnen, alle weiteren Verfahrensfragen jedoch ungeregelt und damit dem nationalen Prozessrecht überlassen.

Offen bliebe etwa, in welchen Fällen eine derartige Abtretung von Ansprüchen zur Geltendmachung an einem fremden Verbrauchergerichtsstand zulässig ist, welche Rechte den Zedenten zustehen und wie der Gefahr eines übermäßigen Vergleichsdrucks auf den Beklagten begegnet werden kann.

Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass der Europäische Gerichtshof die rechtspolitische Entscheidung des Europäischen Gesetzgebers nicht vorweggenommen hat. Zu Recht ist der Gerichtshof insoweit dem Generalanwalt gefolgt, der in seinen Schlussanträgen argumentiert hatte: "Ich denke nicht, dass es die Aufgabe der Gerichte, einschließlich des Gerichtshofs, ist, in einem solchen Kontext zu versuchen, mit einem Federstrich eine Sammelklage für Verbraucherangelegenheiten zu schaffen."

Der Autor Tobias Lutzi, LL.M., M.Jur., ist Doktorand und Stipendiary Lecturer am Somerville College, University of Oxford.

Zitiervorschlag

Tobias Lutzi, EuGH-Urteil "Schrems v Facebook": Keine Sammelklage durch die Hintertür . In: Legal Tribune Online, 05.02.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/26879/ (abgerufen am: 29.03.2024 )

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